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Die Vergangenheit - Lola
ОглавлениеZwölf Jahre zuvor. Sie schritt ihren neuen Weg ab, den sie jetzt für lange Zeit zu gehen hatte. Ihr Blick aus moosgrünen Augen streifte zu beiden Seiten die langen, lieblosen Wohntrakte, die ihr dennoch weniger muffig vorkamen, als ihr bisheriges Haus im Salzland, dreihundert Kilometer westlich von hier. Das schmale Backsteinhaus in ihrer Heimatstadt war um die Jahrhundertwende gebaut worden und es unterschied sich in nichts von den anderen Häusern in ihrer Straße, die man Moorstraße nannte. Ein Moor gab es nicht in der Nähe, aber irgendwie hatte die ganze Stadt auf sie gewirkt, als würde sie bald versinken. Das lag an den Schächten tief unter der Stadt, aus denen das Salz geholt worden war, einige Herrschafts-Epochen lang, bis sich die Erde mitsamt ihrer Last zu neigen begann. Das gefährliche Auf und Ab der Straßen und der schräge Kirchturm wurden kurzerhand zur Attraktion erklärt – Klein Pisa. An all das hatte man sich gewöhnt, sofern man nicht selbst hinter einer der rissigen Hauswände wohnte, die der Neigung des Erdreichs nicht standhalten konnten.
Lass uns hier weggehen, hatte sie zu Paul gesagt. Nicht nur einmal. Aber Paul hatte jedes Mal gemeint, er sei dort geboren und er werde sich auch dort begraben lassen. Dieses Ziel hatte er nun vorfristig erreicht, und es waren wahrlich nicht viele Ziele, die Paul Gardner in seinem Leben erreicht hatte.
Lola wusste natürlich, warum es Paul in dieser Öde gehalten hatte, wo die Bode braune Schaumkronen trug, wo die Luft nach Kali roch, und wo es kaum einen Baum in der Landschaft gab, aber endlos unüberschaubare Rübenfelder in der Börde das Gefühl von Eintönigkeit verstärkten. Für Paul war das Leben normal, solange er regelmäßig und kostenlos seinen »Kumpeltod« bekam, ein Gesöff, das einem die Kehle verätzte, das die Sinne trübte und das einem das Weiße im Augapfel gelb färbte. Sie hat das Zeug nie getrunken, aber irgendwie hatte Pauls Griff zur Flasche auch auf sie abgefärbt, und bisweilen, wenn das Leben unerträglich wurde - und das hatte zumeist an Paul gelegen - dann trank sie hastig einen kräftigen Schluck.
Dieses Leben mit Paul war nie nach ihrem Geschmack. Ihre Sehnsucht nach ein bisschen Besitz, nach Zufriedenheit, musste ihr schon in die Wiege gelegt worden sein, sofern sie je in einer Wiege gelegen hatte, was sie nicht wusste und was sie auch nicht für möglich hielt. Zufrieden war sie noch nie, und das war für Paul Grund genug, schnell mal seine Hand gegen sie oder einen der beiden Jungen zu erheben. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie längst getürmt, aber Paul verwaltete die Familienkasse und hielt sie kurz. Sie hatte sich in den ersten Ehejahren nicht dagegen gesträubt. Sie kannte es nicht besser. Bei ihren Eltern war es nicht anders – eigentlich noch schlimmer – was ihre Einsicht zu bleiben bewirkte.
Ihre Gedanken grenzten an Selbstkasteiung. Jetzt und hier musste sie nicht mehr daran denken. Jetzt und hier begann ihr neues Leben, und wenn sie etwas gelernt hatte in der letzten Zeit - was sie sogar Paul zu verdanken hatte - dann war es das: Sie beurteilte die Männer nur noch nach Maßstäben, die mit Männlichkeit nichts zu tun haben.
Die Einförmigkeit dieser fremden Gegend machte Lola traurig. Auch hier waren die Häuser kaum voneinander zu unterscheiden, und sogar Licht und Schatten gab es hier nur total. Es gab keinen Schatten neben dem Licht, weil die Häuserfronten keine Nischen besaßen, keine Erker oder Dauben. Nicht einmal die flachen Dächer waren zu sehen. Zur Sonnenseite hin gab es gleichförmige Balkone. Wenigstens hatten die Bauherren in den siebziger Jahren ein paar Kiefern des Wäldchens stehen lassen, das den sozialistischen Wohnbauten Platz machen musste. Ein Segen waren diese Bäume nicht, aber immer noch besser, als von den fremden Menschen gegenüber beobachtet zu werden, die sich Einheimische nannten, die sich aber untereinander auch nicht grüßten und auch nicht mochten. Kürzlich erst war sie hierher gezogen. Nicht gern, aber es gab im ganzen Stadtteil keine kleineren Wohnblöcke, und die Wohnungen in besserer Lage waren nicht erschwinglich.
Hier in der großen Stadt kannte sie keiner und sie kannte noch niemanden, aber hier war es endlich möglich, ihr Leben zu leben, wie sie es viel zu lange vermisst hatte, eigentlich ein Leben lang. Vielleicht würde es ihr hier schneller gelingen, die letzte Zeit und vor allem Pauls Sterben zu vergessen. Einige Wochen lang hatte sie Albträume gehabt. Noch immer trug sie das Bild des Schreckens in seinen Augen mit sich herum, das Bild des Hinscheidens mit Schaum vor den Lippen. Sie hatte es sich leichter vorgestellt, und sie ahnte, dass es keinen friedlichen Tod geben konnte. Der Tod war immer ein Kampf …
Nie wieder wollte sie einen Menschen sterben sehen. Sie hatte kaum noch Fragen an das Leben. Eines nur hätte sie zu gerne erfahren: Was hat Paul gedacht, als er merkte, dass er sterben musste?
Lola ging schneller. Der Korb mit allerlei Wäsche und Kleinkram zog an ihren Armen, die Brille rutschte über die verschwitzte Haut zur Nasenspitze hin, und sie war außerstande, eine Hand frei zu bekommen. Wieder einmal lag ihr Schlüssel ganz unten in der Tasche. Wenn sie jetzt ihre Brille zurückschieben wollte, müsste sie den Korb absetzte und dann würde sie ihn nur schwerlich wieder aufnehmen können. Aber den Schlüssel zu suchen kam sie nicht umhin.
Für einen Moment kroch ein fremder Geruch in ihre Nase. Irgendwie nach kaltem Rauch und Männerschweiß, irgendwie auch nach nasser, modernder Wäsche. Zuletzt hatte Paul so gerochen, und sie ärgerte sich über ihre verdammt schlechten Nerven, die nicht nur die Bilder sondern auch die alten Gerüche nicht zu verdrängen verstanden. Lola fuhr herum. Eine kalte Hand berührte ihren Oberarm. Sie gehörte zu diesem Mann, der den Mief verströmte.
»Sind Sie verrückt geworden? «, schrie sie ihn an. Das Gesicht des Mannes zuckte nervös und sofort tat es ihr leid, so laut geschrien zu haben. »Sie haben mich vielleicht erschreckt«, sagt sie einigermaßen ruhig.
»Ich hab ΄n Schlüssel«, lallte der Mann, und das erklärte, warum ihr nun auch noch dieser Fuselgestank in die Nase stieg. Sie ließ den Kerl gewähren, der sich an ihr vorbei zur Haustür schob und nun vergebens versuchte, seinen Schlüssel in das Schlüsselloch zu zirkeln.
»Sie sind die Neue? «
»Der Schein trügt. So neu bin ich gar nicht. «
Es war nicht zu erwarten, dass der Kerl in seinem Delirium verstand, worum es ihr ging. Vermutlich würde er es nicht einmal im nüchternen Zustand kapieren. Aber der Kerl verdrehte seinen Kopf und nicht minder die Augen, und er entblößte sein Gebiss. Das Gebiss war das Einzige an ihm, was man getrost als intakt beschreiben konnte.
Im Hausflur gleich neben den wenigen Stufen, die zu den untersten Wohnungen führten, stand wie üblich ein Kinderwagen. Mitsamt breitem Korb kam sie nicht unbeschadet daran vorbei, und überdies fürchtete sie, die erste Stufe zu verpassen und womöglich zu stürzen. Lola versuchte, den Korb längs zu drehen, doch da rutschte auch noch ihre Tasche von der Schulter und ihr blieb nichts, als einen kleinen Fluch über die Lippen zu lassen. So zugedröhnt schien der Mann nicht zu sein, dass er ihre Misere nicht erkannt hätte. Er nahm wortlos einen Griff des Korbes und Lola den anderen. Rasch saß auch ihre Brille wieder korrekt und ihr fiel ein, dass dieses Teil bald Geschichte sein wird. Eine moderne Brille war bereits in Anfertigung. Diese Ausgabe war dringend nötig.
In dem Moment stand ihr Aussehen gar nicht zur Debatte. Jetzt war ihre Befürchtung einfach größer, der Kerl könnte samt Korb über die Stufen stürzen.
Auch wenn der Mann nicht in ihr Bild von einem Mann passte, es war ein Moment der Freude in ihr, ahnte sie doch, dass er sich nur ihretwegen anstrengte, anstatt den schnellsten Weg in die rettende Horizontale zu suchen, wie Paul es vorgezogen hätte. Eine Freundlichkeit wollte dennoch nicht in ihr Gesicht kommen, glaubte sie doch nicht an die Uneigennützigkeit des Mannes. Wenn er in diesem Eingang wohnte - das sagte ihre feine Nase, die sie für diese Art Männer hatte - dann würde er über kurz oder lang vor ihrer Türe stehen und sie der guten Nachbarschaft wegen um Schnaps anbetteln. Soviel stand fest.
Solange sie die Stufen hinauf stapften, sah sie ihn genau an. Die nachlässige Kleidung war es nicht, die sie dauerte. Es war nicht erkennbar, ob in dem faltigen Hinterteil der Hose überhaupt noch ein wenig Fleisch zu finden war. Der Mann bestand nur aus Haut und Knochen, wie ihr Paul. Und einen wie Paul wollte sie zuallerletzt in ihrer Nähe wissen. Wäre es nicht der kurze Moment ihrer Hilflosigkeit gewesen, sie wäre bei ihrer eingeübten Kratzigkeit geblieben.
Ohne ein Wort von ihr abzuwarten, stoppte der Kerl trotz Trunkenheit vor der richtigen Tür. Sein unkontrolliertes Mienenspiel verwirrte Lola. Sie wollte ihn in kein weiteres Gespräch verwickeln, obwohl sie doch letztlich von seiner Hilfe überrascht war. Weil auch er gar nicht reden wollte, blieb nur der Dunst des Mannes zurück, der die Luft im Treppenhaus in muffiger Bewegung hielt.
Lola summte vor sich hin, während sie das Kaffeepulver in den Automaten löffelte. Sie war sehr zufrieden mit sich und der lockeren, schulterlangen Frisur, zu der auch die schmale Brille mit extra breiten Seitenbügeln vortrefflich passte, an denen winzige Strasssteinchen blitzten. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte sie sich sanft und weiblich und auch die jugendliche Mode stand ihr unerwartet gut. Seitdem sie hier war, hatte sie ihr Spiegelbild wohl an die hundert Mal betrachtet, mehr als in ihrem ganzen früheren Leben zusammen.
Die Morgennachrichten im regionalen Rundfunk liefen gerade, und sie hatte noch Mühe, die Informationen den richtigen Plätzen der Stadt, vor allem aber den Orten der Region zuzuordnen. Inzwischen wusste sie, dass sie im Süden der Stadt wohnte. Dass dieser Stadtteil Sachsendorf hieß – Sachsendorf im Land Brandenburg - das wusste sie, seit sie den Mietvertrag in den Händen gehalten hatte. Die Miete war erschwinglich, der Stadtteil lag weit vom Zentrum entfernt. Er war im Arbeiter- und Bauernstaat als große soziale Wohnstadt gepriesen worden und damals in der Tat begehrt. So hatte man ihr auf dem Einwohnermeldeamt erzählt. Inzwischen zogen mehr und mehr Menschen von hier weg. An Lebensqualität war nicht mehr viel zu erwarten. Hier wohnten offenbar nur noch Menschen wie sie, die mit ihrem Geld keine großen Sprünge machen konnten. Und es wohnten viele Ausländer hier. Und es wohnten Menschen wie dieser Kerl, der irgendwo in einer Bude über ihr vegetierte, der todsicher keine Arbeit hatte und der sich womöglich mehr auf dem Arbeitsamt und in gewissen Lokalitäten herumtrieb, als in seiner Wohnung.
Der Mann gefiel ihr nicht. Dennoch verwendete sie mehr Gedanken an ihn, als nötig. Nachts hatte sie sich eingeredet, sie habe ihn nur unter denkbar ungünstigen Umständen gewähren lassen, nichts weiter. Dann aber wusste sie, dass das nicht die Wahrheit war. Noch war sie nicht gewillt, ihren ungenauen Gedanken klare Strukturen zu geben. Vorerst versuchte sie, die Dinge auszuleuchten, die sie deutlich zu spüren begann. Sie hatte Menschenkenntnis, wusste, wozu jemand zu gebrauchen war und wozu nicht. Er hatte zugepackt, ohne Aufforderung und ohne zu zögern. Und er brauchte Anerkennung, das hatte sie in seinen Augen gesehen. Und noch etwas lag genau da drin: Hass auf irgendjemanden oder irgendetwas, dem sie sich sofort auf erschreckende Art verbunden fühlte.
Lola lächelte in sich hinein, schlürfte ihren Kaffee und begann eine Zeitung nach der anderen auf Stellenangebote abzusuchen. Sie hatte einen ganzen Stapel Tageszeitungen aufgetrieben und auch ein altes Branchenbuch, das sie zuerst durchsuchte. Obwohl sie die Entfernung zu den Orten, in denen Pflegeeinrichtungen existierten, nicht einschätzen konnte, malte sie akribisch ihre Kringel.
Um sie herum bestand nur Chaos. Die Schränke waren noch nicht eingeräumt, die Putzarbeiten noch nicht erledigt und der Hunger machte sich auch bemerkbar. Das aber war das kleinere Chaos. Das größere saß tiefer. Solange sie schon telefonierte, es wollte ihr keiner die Chance einer Vorstellung einräumen. Sie schalt sich ob ihrer Zögerlichkeit und hasste sich wegen der angeborenen Zurückhaltung. Sie sollte auftrumpfen, sich besser verkaufen. Das war die oberste Regel dieser Zeit, die sie noch immer nicht beherrschte.
Je weiter der Tag fortschritt, desto fahriger wurde sie, und die Zeit schien ihr genauso schnell davonzulaufen, wie das letzte Geld, das Paul noch nicht versoffen hatte. Erst am späten Nachmittag nahm sie einen Imbiss zu sich, den sie stehend in der Küche verschlang. Und dabei kam ihr die beste Idee, die sie je im Leben gehabt hatte.
Einen der Kringel hatte sie um die Anzeige einer Seniorenresidenz gemalt, die sich »Am Sandberg« nannte. Was immer das bedeuten sollte – hier gab es keine Berge. Die Gegend war flach wie eine Flunder. Da am Sandberg wollte sie ihre Idee anbringen, über die sie sich wunderte und über die sie sich zugleich beglückwünschte. Verkauf dich so gut es geht, Lola!
Die Nummer war lang, und das Freizeichen klang dumpf. Nach dem vierten Ton hörte sie die Stimme einer jungen Frau - hell und sehr freundlich: »Seniorenresidenz Am Sandberg, Anja Krüger, was kann ich für Sie tun? «
Lola musste sich nicht verstellen, sie war atemlos in diesem Moment, der kein normaler Moment ihres Lebens war, das schwor sie vor sich selbst.
»Guten Tag. Gertrud Willumeit ist mein Name. Ich rufe vom Pflegestift Sankt Johannes in Magdeburg an. Entschuldigen Sie die Störung. Ich brauche Ihre Hilfe. Bei Ihnen hat sich eine ehemalige Pflegerin unseres Stifts beworben, soviel ich weiß. Leider. Nun ja, ich will es kurz machen. Ich brauche unbedingt Kontakt zu ihr.«
Eine Sekunde Schweigen. Eine Sekunde, die den Herzschlag in die Unentschlossenheit trieb.
»Wenn es um Bewerbungen geht, kann ich Ihnen nicht helfen, aber ich verbinde Sie gerne weiter.«
Mehr als eine Minute drang blechern und aufdringlich die kleine Nachtmusik von Mozart an ihr Ohr. Dabei fragte sie sich immer wieder, was sie überhaupt tat. Im Zeitalter moderner Technik konnte man schließlich sehen, woher ein Anruf kam. Vorher wie nachher, falls ein Interesse bestand. Sie musste unbedingt daran denken, vom Betreiber schnellstens ihre Nummer verbergen zu lassen, unbedingt. Das hatte mehrere Vorteile, über die sie jetzt nicht weiter nachdenken wollte. Nur über eines dachte sie nach: Jetzt könnte sie noch auflegen.
»Um eine Bewerbung geht es?« Die neue Stimme klang gestresst und weniger fröhlich.
»Nicht direkt. Nicht ich will mich bewerben. Ich suche nach meiner bisher besten Pflegekraft Lola Gardner. Die hat sich bei Ihnen beworben und ich muss sie unbedingt sprechen. Sie bekommt noch einen Teil ihres letzten Monatslohnes von uns.«
»Tut mir leid. Da kann ich Ihnen nicht helfen. Eine solche Bewerbung hatten wir nicht.«
Lola gab Laute von sich, die hoffentlich verzweifelt klangen.
»Ach«, hörte sie vom anderen Ende. »Wenn es um Geld geht, dann meldet die sich schon bei Ihnen. «
»Sie kennen Lola nicht. Entschuldigung, Sie sind meine letzte Rettung. Wenn Lola bis jetzt noch nicht da war, dann kommt sie noch. Ganz bestimmt. Es sei denn, eine andere Einrichtung hat sie Ihnen schon weggeschnappt. Aber wenn sie kommt, könnten Sie ihr bitte etwas ausrichten … «
»Was soll das heißen – weggeschnappt?« Die Worte klangen jetzt freundlicher. Lola blieb einen Moment länger stumm, als sie es auszuhalten glaubte. Dann ließ sie heiße Luft gegen die Sprechmuschel strömen und gestand sehr brav:
»Ich rede gewöhnlich nicht über jemanden, der sich nicht rechtfertigen kann. Aber ich rede ja nicht schlecht. Wenn Lola Gardner nicht zu Ihnen kommt, kann ich Sie nur bedauern. Lola hat etwas, das schafft keine andere. Aber das finden Sie früh genug selbst heraus, sofern Sie das Glück haben ... «
»Heißt das, Sie bedauern den Weggang dieser …?«
»Lola Gardner? Sehr sogar. Und Lola bedauert ihn auch. Aber die Gesundheit und das Leben ihres Mannes gingen ihr vor. Das muss man akzeptieren. Sie war die Beste, die wir je in der Männerabteilung hatten. Das lag wohl auch daran, dass sie ganz persönliche Erfahrungen im Umgang mit ihrem hilflosen Mann gesammelt hatte. Das Leben ist hart. Wer weiß das besser als wir, nicht wahr?«
»In der Tat. Ich werde dieser Frau – wie hieß sie doch gleich?«
»Gardner heißt sie übrigens noch immer.«
»Natürlich. Dieser Frau Gardner richte ich es aus, wenn sie vorsprechen sollte.«
»Mit wem habe ich gesprochen?«
»Hegewald. Ich bin die Heimleiterin.«
»Herzlichen Dank, Frau Hegewald, und entschuldigen Sie meine Bitte.«
Lola ordnete das Chaos, das nun auch in ihrem Kopf herrschte, mit einem Lächeln. Manchmal sind solche Wege unumgänglich. Zu dumm, dass eine Anruferin aus Magdeburg nicht danach fragen konnte, wo genau die Adresse Sandberg zu finden war, aber dafür würde es irgendwo einen hilfsbereiten Menschen geben.
Im Augenblick war sie nichts als erleichtert. Wenn ihre Bewerbung jetzt nicht von Erfolg gekrönt sein würde, dann brauchte die Einrichtung wirklich keine Leute, was aber angesichts der miesen Bezahlung und angesichts der ständig anwachsenden Pflegebedürftigkeit generell kaum anzunehmen war.
Der peinliche Moment der Lüge war schnell vergessen, und in Lola meldete sich die Stimme der Vernunft. Sie war überzeugend gewesen, ohne Frage. Wenn sie aber ehrlich zu sich war, dann hatte sie in einem anderen entscheidenden Moment versagt. Wer nicht nett zu den Menschen ist, die gut zu einem sind, der muss später schwer zu Kreuze kriechen. Dieser Moment sagte ihr sehr deutlich, dass es spätestens jetzt an der Zeit war, zu diesem Suffi zu gehen und ihn zu fragen, wie man zur Adresse Am Sandberg kommt. Andere Nachbarn kannte sie nicht. Tatsächlich ging sie sofort zur Tür, doch da war noch ein Fehler, den sie begangen hatte. Sie hatte ihn nicht danach gefragt, wo er wohnte oder wie er hieß. Es war wieder diese verflixte Oberflächlichkeit, die sie in ihrer verkorksten Kinderstube in die Wiege gelegt bekommen hatte. Die Gründe spielen keine Rolle, wenn man versagt. Allein das Versagen ist entscheidend. Und darin musste Lola Gardner für ihr neues Leben noch höllisch viel lernen.