Читать книгу Die Rache des Faktotums - Maxi Hill - Страница 6
Der Mann für alle Fälle
ОглавлениеDer Moment kam eher als erwartet. Gerade hatte sie Kaffee angesetzt und sich eine Zigarette angezündet, als ein kurzer Ton sie erschreckte. Noch nie hatte einer an ihrer Tür geläutet und sie wusste nicht, ob es an der Haustür oder an der Wohnungstür gewesen war. Auf blanken Füßen schlich sie in den Flur und blinzelte durch den Spion. Ein kleiner Schreck fuhr durch ihre Glieder und sie fragte sich, was eigentlich mit ihr los war. Ihre Unsicherheit war wieder da, die weit über das Maß hinausging, das sie für den Augenblick als normal bezeichnen konnte. Hätte sie es nicht besser gewusst, dann hätte sie geschworen, diesen Kerl schickte der Himmel. Aber gerade der konnte es nicht sein. Nicht der Himmel und nicht für sie.
Die Tür bewegte sich lautlos und ließ nur einen Spalt breit ihren Blick auf den Mann zu. Eigentlich lag ihr daran, dass es in umgekehrter Richtung so war. Ein Schatten huschte über das fahle Gesicht, nur einen Augenaufschlag lang, aber doch lang genug, dass Lola es bemerkte. Der Mann fuhr mit seiner Hand durch das Haar, das streng aus dem Gesicht gestrichen dennoch in kleinen Wellen seinen schmalen Kopf umspielte und feucht und schwer in seinen Nacken fiel. Es glänzte, dabei war nicht auszumachen, ob es von Pomade glänzte oder noch feucht vom Waschen war. Die Spuren auf dem Hemd ließen den Schluss zu, es sei frisch gewaschen, und zumindest dieser Umstand rührte Lola in gewisser Weise. Nicht, dass es darauf ankam. Nicht, dass sie ihr Vorhaben, ihn nach der Adresse zu fragen, von seiner Erscheinung abhängig machen wollte. Sie hatte bisher noch keinen Gedanken daran verwendet, was genau sie ihm erzählen wollte und was nicht. Immerhin brauchte nicht jeder in der Nachbarschaft zu wissen, dass sie völlig fremd war in der Stadt. Andererseits verband sie einen neuen Gedanken mit der Anwesenheit dieses Mannes. Über ein »Wie und Warum« hatte sie nicht tiefer nachgedacht. Nur über ein »Dass«, und das musste fürs Erste genügen.
Sie starrte in sein unrasiertes Gesicht, und die rot unterlaufenen Augen erwiderten ihren Blick, der ebenso vorsichtig und nicht minder tastend ausfiel. Es schien ihr, als war dieses Gesicht ebenso überrascht, dass die Tür sich tatsächlich geöffnet hatte.
»Ich … Entschuldigung. Ich habe mich ausgesperrt. Ham ΄se vielleicht mal ΄ne Zange oder ΄n Schraubendreher?«
Seine Hände umschlossen sich gegenseitig so fest, dass die Knöchel die Haut darüber weiß färbten.
»Guten Tag«, sagte Lola und ahnte doch, dass dieser Gruß bei einem wie dem nicht ankommen würde. Wie ein Kind hob sie die Schultern zu einem Bedauern und war auch gleich dumm genug, dieses Bedauern zu äußern, anstatt ihn hereinzubitten und so zu tun, als suche sie nach geeignetem Werkzeug. Noch immer seine Hände ringend blieb der Mann wie angewurzelt auf dem Fußabtreter stehen, der noch vom Vormieter liegen geblieben war. Er ließ sich also nicht so mir nichts dir nichts abwimmeln. Seine Jeans waren abgewetzt und die Fingernägel mit Sicherheit nicht von den untauglichen Versuchen so schwarz geworden, die Tür zu öffnen. Aber er roch nicht so unangenehm wie am Vortag, und seine Augen gehorchten ihm jetzt besser. Er blickte heute dorthin, wohin er gerade blicken wollte.
»Haben Sie den Schlüssel drinnen liegen?«
»Ich denke.«
»Dann müsste es mit einer Chipkarte gehen.«
Das hatte sie von Paul gelernt, aber das war Jahre her. Ob es heute auch noch funktionierte, konnte sie nicht sagen. Das kurze Leuchten im Blick des Mannes verriet, dass es noch gehen musste, sie war sich nur nicht gewiss, warum er es noch nicht probiert hatte.
»Kommen Sie doch kurz herein. Es muss ja nicht jeder mithören. « Erst als sie die Tür von innen hinter dem Mann geschlossen hatte, beendete sie ihren Satz, der nichts als nur ehrlich gemeint war. »Man weiß nie … Es gibt zu viele Gauner auf dieser Welt.«
Der Mann quittierte ihre Sorge mit einem heftigen Zucken der Wange, wobei seine kleinen, aber wachen Augen blitzschnell den Flur nach etwas absuchten und ganz nebenbei auch durch die offene Küchentür spähten.
Das Glucksen im Kaffeeautomaten hatte aufgehört, aber die Wohnung roch verräterisch. Das schien dem Mann zu gefallen, und Lola gefiel, dass es ihm gefiel.
»Ich bin noch nicht vollständig«, sagte sie und wies mit der Hand geradeaus, wo es ins Wohnzimmer ging. Sie hatte kein einziges Möbelstück mitgenommen, das in irgendeiner Weise mit Paul in Berührung gekommen war. Aber die neuen Möbel waren primitiv, und einige sogar äußerst schwierig zu montieren. Der Mann interessierte sich sofort für den Stapel loser Bretter, die an der Wand standen und irgendeinmal zu einem Schrankteil werden sollten.
»Das Scheiß-Zeug kenne ich«, sagte er ganz ungeniert mit einem bösen Lächeln im Gesicht. Sowohl die Wortwahl als auch die Ungeniertheit gefielen Lola nicht. Anstelle einer scharfen Antwort kam aber nichts als weiches Selbstmitleid über ihre Lippen.
»Ich traue mich nicht ran. Bisher hatte ich immer jemanden, der mir das abgenommen hat.«
Ohne weitere Worte machte sie auf den Hacken kehrt und ging zur Küche, klapperte hörbar mit Geschirr herum, und bald erschien auf dem Tresen, den der Vormieter aus der normierten Durchreiche gezimmert hatte, ein kleines Tablett, auf dem zwei leere Tassen, ein Kännchen Milch und eine Zuckerdose standen und noch eine zweite Dose gefüllt mit Butterkeksen.
»Warum haben Sie das nicht gesagt?« Die Frage kam spät und sehr zögernd.
»Wann und wem? Ich weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen. Von den anderen Mietern habe ich noch kein Rockzipfelchen gesehen, geschweige denn …«
Es war keine Frage, dass der Kerl den Einlass als Einladung verstand. Jetzt aber stand er vor ihr wie ein Pennäler und seine linke Wange zuckte:
»Ich bin der Bodo. Bodo Fichtner.« Er streckte die Hand aus, zog sie aber sofort wieder zurück. Sie sah es wohl, blieb aber ungerührt.
»Lola. Lola Gardner.«
Weiterer Höflichkeiten bedurfte es nicht, aber vorsichtshalber holte Lola etwas später zwei kleine Gläser aus dem Küchenschrank und die passende Füllung dazu. In den folgende Stunden erfuhr sie mehr über das Leben des Bodo Fichtner, als sie je zu erfahren gewünscht hatte.
»Mein Vater war in der Kohle, Mutter konnte nicht arbeiten. Wir waren sieben Kinder. Ich war der letzte…«
Bodo griff ohne erkennbaren Grund in sein Gesicht. Die Wange zuckte und seine Lippen vibrierten mehr als bisher.
»Die Schule habe ich abgebrochen. Ich war faul, mir lag das nicht, lernen und so. Heute bereue ich das, aber ich bin auch wütend auf meine Eltern, dass sie uns in die Welt gesetzt haben. Mich«, schob er nach. »Meine Geschwister haben eine Lehre gemacht. Ich nicht. Ich habe hier und da ausgeholfen. Bei einem Tischler, beim Bauern in Sielow, ich durfte sogar beim Großhandel Gabelstapler fahren. Ich bin ja nicht dumm. Ich kann lesen und schreiben …«
»Wo hast du gelebt.«
»Hier und da, nichts Festes. Noch länger bei meinen Eltern … hatte ich keinen Bock. Ich habe zu viel Prügel bekommen, wusste manchmal gar nicht warum. Da bin ich lieber los.«
»Also zu Freunden?«
Bodo schwieg
»Hast du überhaupt welche?«
»Wie jetzt? Welche.«
»Hast du Freunde, denen du alles erzählen kannst?«
»Ich habe keinen und ich brauche auch keinen.«
»Wenn du das siebente Kind warst, hast du doch sicher einen unter den Geschwistern. «
»Geschwister sind keine Freunde. Irgendwie vielleicht, aber hier nicht«, er schlug mit der linken Hand auf die Brust und gleich danach an den Kopf, »und hier auch nicht.«
»Wovon hast du gelebt? «
»Was so abfiel. Manchmal habe ich mir was geklaut. Einmal ging `s schief. Da musste ich drei Monate in die Bautzener Straße. Danach hatte ich einen Sozialbetreuer, der mir die Wohnung verschafft hat.«
Er war sichtlich erleichtert, dass es jemanden gab, der sich für sein Leben interessierte. Allerdings bestand das auf Gegenseitigkeit. Es war nichts Außergewöhnliches, was sie ihm erzählte. Eigentlich waren es nur Pendants zu seinem Leben, ähnliche Episoden, die zufällig auch ihr Leben ausgemacht hatten, und das hatte sie für zwei Stunden zu Verbündeten gemacht. Sofern er nicht flunkerte, hatte er nicht vermutet, dass eine Frau wie sie aus so armen Verhältnissen kam, wie auch er.
Einerseits war es schmeichelhaft, andererseits fragte sie sich immer wieder, ob das der richtige Weg war. So viel Aufwand für eine kleine Auskunft? Andererseits war er heute weniger widerlich als beim ersten Mal. Bodo Fichtner bot sich ganz unkompliziert an, ihre Möbel zusammenzuschrauben und die Rollos zu montieren. Und wenn sie noch irgendeinen Wunsch habe, er stehe zu ihrer Verfügung.
Gleich am nächsten Tag sollte sie ihr Weg zur Seniorenresidenz »Am Sandberg« führen. Erst nachts, als ihr des Fusels wegen, den sie mit ihm getrunken hatte, kotzelend war und sie nicht schlafen konnte, holte sie vorsichtshalber noch einmal in ihr Gedächtnis zurück, was sie ihm erzählt hatte.
»Ein Engel war ich nie. Dafür hatte mein ärmliches Leben in einer kinderreichen Arbeiterfamilie gesorgt. Wenn wir Kinder etwas brauchten, schickte man mich – ich war das älteste der Mädchen - auf die Straße, um fremde Leute anzubetteln. Ich bettelte inbrünstig, denn ich hatte immer Sehnsucht nach den schönen Dingen des Lebens. Für mich sind leider nur Brosamen übrig geblieben, das ganze Leben lang. «
»Das kenne ich«, hatte Bodo erwidert. »Manchmal glaubt man, man müsste sich an so einem rächen, der reich ist.«
»Das Betteln hörte erst auf, als mein Vater seinen lange gehegten Entschluss umsetzte und jenseits der Grenze in das soziale Auffangnetz des anderen deutschen Staates wechselte.«
Sie hatte einen Teufel getan zu erwähnen, dass es auch diesseits der Grenze Armut gegeben hat und Unvernunft, die das letzte bisschen Geld versoff.
In der Dunkelheit der Nacht erinnerte Lola sich, wie die Feuchtigkeit in Bodos Augen gestiegen war und wie er immer öfter nach seinem Glas gegriffen und immer öfter nach Worten gesucht hatte, die ihr allerdings sehr gefallen hatten. Er hätte nie gedacht, dass es einer aus dem Westen auch so ergangen sei wie ihm. Zudem sähe sie aus wie eine von der Hautevolee, was aus seinem Munde wie heiße Wolle klang. Und sie sähe aus, als habe sie einen ganz besonderen Blick dafür, wo der Wohlstand stecke.
Vielleicht hatte er sich zuletzt nur ungeschickt ausgedrückt, vielleicht aber waren seine Blicke tatsächlich in der Lage, hinter die Fassade zu sehen. Auf alle Fälle war er voll reiner Bewunderung. Das sollte sie freuen. Aber der Kerl sollte nicht denken, sie sei eine von der Sorte, die nackten Trost suchte. Klar war sie in eine jüngere Haut geschlüpft. Klar war sie noch Frau genug, um mit einem Mann das Bett zu teilen. Aber nicht mit einem Hungerleider wie dem, auch wenn er so dumm nicht war, wie es zuerst den Anschein hatte. Nur das mit dem Wohlstand hatte sie ein wenig erschreckt. Wie kann einer, dessen Namen man nicht einmal kennt, in so kurzer Zeit etwas sehen, was man sich selbst nur widerwillig eingestand. Aber es war nicht falsch, was er sah. Ihr sehnsüchtiger Blick auf den Wohlstand hatte sie das Leben lang begleitet. Wie sonst hätte sie als Kind immer die richtigen Leute anbetteln können? Aber warum sollte eine von ganz unten ihren Neid auf die Menschen, die sinnlos dem Überfluss frönten, ihren Hass auf die Gesellschaft, die so gravierende Unterschiede zuließ, nicht tief in ihr Wesen graben dürfen. Und warum sollte sie nicht die Zeichen der Zeit nutzen, um etwas zurückzuholen, was ihr das Leben gestohlen hatte.
Daran musste sie erst dieser Kerl, dieser Bodo, erinnern.
Die ganze Zeit über, seit sie hier in der fremden Stadt war, hatte sich ihre feste Überzeugung ausgeprägt, niemandem etwas über sich selbst zu erzählen. Nichts war frustrierender, als eigene Pläne gescheitert zu sehen, auch wenn sie noch so bescheiden waren. Ihr neuer Plan war immerhin der erste in ihrem Leben, den sie ganz allein und vor allem zu ihrem eigenen Nutzen geschmiedet hatte. Es ging zwar um hopp oder topp, aber es ging nicht um Leben und Tod. Wenn niemand eine Forderung an sie hatte, konnte sie getrost davon ausgehen, dass ihr künftiger Verdienst sie ruhiger machen würde.
Wenn es einen gab, der sich etwas zu fordern traute, dann war es ihr ältester Sohn. Kay war nicht wie Axel. Kay war ein Hitzkopf wie sein Vater, der sein Leben nicht wirklich in den Griff bekam. Es war zu erwarten, dass er hier auftauchen würde, irgendwann. Die beiden Brüder waren zwar nicht wie Kain und Abel aus der Bibel. Axel war gutmütig und würde Kay nie im Regen stehen lassen. Sie hatte Axel einen Brief geschrieben, dass sie sich eine neue Existenz aufbauen werde, und wenn sie einigermaßen Fuß gefasst habe, werde sie sich melden. Soweit war es weiß Gott noch nicht. Sie konnte Axel nicht sagen, dass er bis dahin Stillschweigen wahren sollte, aber sie kannte ihre Söhne. Wenn es gegen die Eltern ging, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel, daran würde der Tod ihres Vaters nichts geändert haben.
Um Lolas Mund zog ein kleines Kräuseln, über ihre Haut ein unsichtbarer Schauer. Sie riss sich los vom letzten Bild des Mannes, oder von dem, was von dem Mann übrig war, der als Vater ihrer Söhne im Familienstammbuch stand.
Es war noch nicht viel Zeit vergangen, aber der Weg, den sie inzwischen zurückgelegt hatte, schien ein entscheidender, ein endlich zielführender Weg zu sein. Es war der Weg der getretenen Magd hin zur Freiheit. Ihr Leben lang hatte sie für ihren Mann und ihre Söhne da zu sein, ohne eigene Wünsche, ohne eigenes Geld und ohne das Recht, sich etwas davon einzuklagen. Jetzt konnte sie selbst bestimmen was sie tat, wohin sie ging, wem sie vertraute. Und es gab noch vieles, was sie noch gar nicht einschätzen konnte, vieles, worüber sie von jetzt an allein verfügen würde. Dieser Gedanke war zur Erotik ihres Lebens geworden und er war erregender, als alles zuvor in ihrem unerfüllten Leben.