Читать книгу Schattentochter - Maya Shepherd - Страница 10
Eliza
ОглавлениеDicke Schneeflocken fielen vom Himmel und legten sich wie Puderzucker auf die grenzenlose Landschaft. Es war ein für mich seltener Anblick. Zwar fiel in Wexford auch manchmal im Februar noch Schnee, aber es war meistens mehr ein Schneeregen, der eher einen grauen Matsch auf den Gehwegen hinterließ als liegen zu bleiben.
Fayes Absätze waren im Flur zu hören. Es war Mittagszeit. Der Schlüssel drehte sich im Schloss und sie öffnete die Tür, doch anstatt wie üblich einzutreten, blieb sie im Rahmen stehen. Mir fiel auf, dass sie kein Tablett mit Essen dabeihatte.
„Kommst du?“, fragte sie ohne große Erklärungen.
Überrascht hob ich die Augenbrauen. Auch wenn ich sie angefleht hatte für mich ein gutes Wort einzulegen, hatte ich nicht erwartet, dass sie es tatsächlich tun oder etwas damit erreichen würde. Ich war tatsächlich aufgeregt und fühlte mich beinahe wie ein Vogeljunges, das zum ersten Mal sein Nest verlassen durfte.
Auf Socken stolperte ich zur Tür, voller Angst, dass Faye es sich doch noch anders überlegen könnte. Sie rollte mit den Augen und rümpfte die Nase. „Zieh dir Schuhe an!“
Meine Augen weiteten sich. „Gehen wir etwa raus?“
Ihre Augen formten sich zu Schlitzen. „Nein, aber Charles legt Wert auf ein gepflegtes Äußeres.“ Sie ließ ihren Blick an mir hinabgleiten. Seitdem sie mich in diesem Zimmer eingesperrt hatten, schminkte ich mich nicht mehr und band meine Haare nur noch zu einem lockeren Pferdeschwanz. Von dem Stapel Kleidung, den mir Faye an meinem ersten Tag mitgebracht hatte, wählte ich immer nur eine schwarze Jeans und ein schwarzes Shirt. Schnell schlüpfte ich nun in ein Paar Stiefeletten.
„Will Charles mich sehen?“, fragte ich nervös und strich mir eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
Ein gehässiges Grinsen zog sich über ihre Lippen. „Er hat besseres zu tun.“
Es war ein unglaubliches Gefühl meine Füße tatsächlich über die Türschwelle zu setzen. Wenn es tatsächlich Charles‘ Plan gewesen war mich zu brechen, so hatte er zumindest ansatzweise funktioniert. Selbst Faye war ich dankbar, ohne die ich vermutlich noch weitere Tage in dem kargen Zimmer hätte verbringen müssen. Nicht, dass das Anwesen farbenfroher oder detailreicher eingerichtet gewesen wäre. Alles war klinisch weiß. Nur ein paar schwarze Möbel unterbrachen die Einheit. Farben fehlten hier völlig, abgesehen von Fayes dunkelroten Haaren und ihren geschminkten Lippen.
Sie führte mich an den anderen Zimmern vorbei zu der gewaltigen Treppe, die den kompletten Eingangsbereich beherrschte. „Wohnt hier niemand außer mir?“
„Wie kommst du darauf?“
„Ich höre nie jemanden außer dir.“
Sie lachte spöttisch auf. „Wir sind Schattenwandler.“
Als sie sah, dass ich sie immer noch nicht verstand, schüttelte sie herablassend den Kopf. „Du hast wirklich keine Ahnung, oder? Wir bewegen uns geräuschlos durch die Schatten.“
Ich sah mich in dem hellen Flur um. Es gab keine Schatten.
Faye rollte genervt mit den Augen. „Wir selbst sind die Schatten! Nur Anfänger und Versager sind auf tatsächliche Schatten angewiesen.“
Leute wie ich, dachte ich grimmig. Um mir zu beweisen, was sie meinte, stellte sie sich mitten in den Lichtstrahl eines Fensters und löste sich direkt vor meinen Augen in Luft auf. Nur am Boden war eine schwache dunkle Bewegung zu erkennen, bevor sie hinter mir wieder auftauchte. Ich erinnerte mich daran wie sie das an meinem ersten Tag bereits schon einmal getan hatte, als ich vermutet hatte, dass sie ein Dienstmädchen sei. Will hatte die Schatten ebenfalls auf diese Weise beherrscht, aber er war nicht mehr dazu gekommen es mir beizubringen.
Wir gingen über die Treppen hinab ins Erdgeschoss. Ein köstlicher Duft nach warmen Essen umspielte meine Nase und ließ meinen Magen knurren, obwohl das Frühstück noch nicht lange her war.
„Du musst die einzige gute Seele dieses Hauses kennenlernen“, sagte Faye und grinste dabei zur Abwechslung mal nicht boshaft, sondern tatsächlich freundlich. Sie ging voraus durch die große Eingangshalle und bog nach rechts in einen angrenzenden Raum ab, von dem der Geruch zu kommen schien. Wir fanden uns in einer Wohnküche wieder. Vor der Fensterwand, die einen auf die weiße Winterlandschaft blicken ließ, stand ein großer Tisch mit bestimmt fünfzehn Stühlen, was mir nur wieder bewies, dass sich in diesem Haus deutlich mehr Menschen als Faye und ich aufhalten mussten.
Einer von ihnen stand hinter dem dampfenden Gasherd und drehte sich neugierig zu uns herum. Es war eine hübsche Frau mit blonden Haaren, die sie in einem Dutt streng zurückgebunden hatte. Ihr Alter war nur schwer zu sagen, aber ich schätzte sie auf Anfang Dreißig. Sie trug über ihrer schwarzen Kleidung eine weiße Schürze und lächelte mich höflich an.
„Hallo, du musst dann wohl Eliza sein“, sagte sie und kam hinter dem Herd hervor. Sie putzte sich die Hände kurz an ihrer blütenweißen Schürze ab, bevor sie mir die Hand reichte. „Ich bin Emma. Es freut mich dich kennenzulernen.“
„Emma ist dafür verantwortlich, dass du deinen Kaffee jeden Morgen genauso bekommen hast wie du ihn am liebsten magst“, fügte Faye frech hinzu.
„Ich weiß nicht, was ihr alle mit schwarzem Kaffee habt“, erwiderte Emma verständnislos. „Mr. Crawford trinkt ihn auch schwarz. Ohne Milch und mindestens einen Würfel Zucker würde ich die Brühe gar nicht runterbekommen.“
Ich konnte mir ein verärgertes Funkeln in Fayes Richtung nicht verkneifen. Von wegen schwarz. Aber vielleicht konnte ich von nun an selbst in die Küche gehen und war nicht länger auf sie angewiesen. „Das Essen riecht köstlich!“, sagte ich stattdessen zu Emma, die bisher die netteste Person in dem ganzen Anwesen zu sein schien.
„Vielen Dank! Ich hoffe du magst Spaghetti Bolognese?“
„Ich liebe Spaghetti Bolognese!“, rief ich begeistert aus, doch Faye mischte sich erneut ein.
„Bist du nicht auch auf andere Weise hungrig?“
Sie brauchte mir nicht zu erklären, was sie damit meinte. Ich hatte seit Tagen, beinahe Wochen keine Gefühle mehr getrunken. Daher kam auch ein großer Teil meiner Unruhe und Gereiztheit. Es fiel mir schwer still zu sitzen, mich auf etwas zu konzentrieren oder nachts durchzuschlafen. Ich war jedoch nicht wild darauf gewesen von Faye zu trinken. Ihre Abneigung mir gegenüber war so deutlich spürbar, dass ich sie nicht auch noch schmecken wollte.
„Kann schon sein“, erwiderte ich ausweichend.
Faye nickte Emma zu, die bereitwillig näher auf mich zutrat und mir ihre Hände entgegenhielt. „Trink ruhig von mir!“
„Aber versuch bitte, sie dabei nicht umzubringen“, stichelte Faye. „Es wird nicht leicht werden eine so gute Köchin wie sie zu finden.“ Sie lächelte Emma liebevoll an, was zeigte, dass sie nur scherzte. „Außerdem würde sie mir fehlen.“
Im Gegensatz zu Faye schien Emma nicht im Geringsten an mir zu zweifeln, denn sie sah mich aufmunternd an und nahm meine Hände in ihre. Ich wünschte ich hätte so zuversichtlich wie sie sein können. Selbstbeherrschung war noch nie eine Stärke von mir gewesen. Vor meinem inneren Auge tauchten die leblosen Gesichter von Beth und Kevin auf, die mir zum Opfer gefallen waren. Wenn ich mich besser unter Kontrolle gehabt hätte, würden sie noch leben. Es war zu lange her, dass ich von einem Menschen getrunken hatte, vielleicht würde es mir nicht gelingen wieder aufzuhören.
Hilfesuchend blickte ich zu Faye. „Du passt auf, oder? Wenn du merkst, dass ich mich nicht bremsen kann, dann greifst du ein, oder?“
Das Boshafte wich aus ihren braunen Augen und sie nickte mir gewissenhaft zu. Sie war stärker als ich und im Notfall würde sie mich schon davon abhalten können, der Köchin jeden Lebens zu berauben.
Ich holte tief Luft und sah Emma in die Augen. Sofort flossen ihre Gefühle wie eine Flutwelle zu mir rüber. Sie hatte keine Angst vor mir. Es war nicht das erste Mal, dass jemand von ihr trank. Es fühlte sich eher so an, als passiere es regelmäßig. Anhand ihrer Emotionen erkannte ich auch, dass sie keine Schattenwandlerin war, wie ich automatisch angenommen hatte. Sie war ein gewöhnlicher Mensch. Ihre Gefühle waren rein, ohne jegliche Vorurteile, Abneigungen oder Vorwürfe. Sie waren für mich mindestens genauso köstlich wie ihr Essen gerochen hatte. Ich hatte noch nicht von vielen Menschen getrunken, aber die meisten waren nicht so schmackhaft gewesen, weil Angst ihre Stimmung beeinflusst hatte. Bei Lucas war immer seine unermessliche Liebe zu schmecken gewesen, aber auf ihr lag die Last von Schuldgefühlen und Vorwürfen. In Wills Gefühlen war der Wunsch nach mehr gelegen als ich bereit gewesen war ihm zu geben. Und Rhona hatte geradezu bitter geschmeckt. Bei ihr hatte ich deutlich gespürt, dass sie mich nur widerwillig von sich trinken ließ.
Aber Emma schmeckte wie eine warme, herzliche Umarmung. Hätten sich so auch meine Eltern angefühlt, wenn ich je gewagt hätte von ihnen zu trinken? Dachten sie wohl manchmal noch an mich? Vermissten sie mich genauso sehr wie ich sie?
Mit einem Ruck wurde ich von Emma weggerissen. Ich war völlig in meinen Gedanken versunken gewesen, sodass ich gar nicht gemerkt hatte, wie ich immer mehr von ihren Gefühlen in mir aufgezogen hatte. Sie machte nun einen etwas verwirrten und desorientierten Eindruck, während Faye mir vorwurfsvoll ansah. „Du musst wirklich noch viel lernen!“, schimpfte sie zornig. „Am besten machen wir direkt damit weiter, solange du noch gestärkt bist. Sorg dafür, dass Emma vergisst, was gerade passiert ist und weiterkocht, bevor ihr die Bolognese anbrennt.“
Ratlos sah ich sie an. „Ich weiß nicht wie das geht.“
„Kannst du eigentlich überhaupt irgendetwas?“
„Ich kann in den Schatten verschwinden und am selben Ort wieder auftauchen.“
„Wow, das ist ja unglaublich“, zog sie mich sarkastisch auf. „Schau Emma in die Augen als wolltest du von ihr trinken und sage ihr in Gedanken, was du von ihr möchtest.“
Zögerlich sah ich der hübschen Köchin ins Gesicht. Sie schien mit offenen Augen zu schlafen. Vergiss, was gerade passiert ist und koch deine Bolognese zu Ende.
Sie reagierte nicht auf mich, sondern blieb steif stehen. Also wiederholte ich die Worte noch einige Male bis sie sich schließlich wie ferngesteuert umdrehte und zurück an den Herd ging. Ich jubelte innerlich und sah stolz zu Faye, doch diese wirkte noch nicht überzeugt. Sie räusperte sich laut, sodass Emma sich fragend zu uns umdrehte. Als sie mich sah, breitete sich ein höfliches Lächeln auf ihren Lippen aus.
„Hallo, du musst dann wohl Eliza sein“, sagte sie und wischte sich wie zuvor ihre Hände an der Schürze ab, bevor sie auf mich zu trat.
Faye schüttelte tadelnd den Kopf. „War es deine Absicht, dass sie dich komplett vergisst?“
„Nein“, entgegnete ich enttäuscht. „Eigentlich sollte sie nur vergessen, dass ich von ihr getrunken habe.“
„Dann hast du dich nicht deutlich genug ausgedrückt! Es ist wirklich eine Schande wie wenig du weißt, obwohl du die Tochter des Oberhaupts bist. Im Gegensatz zu Will bist du eine einzige Enttäuschung! Kein Wunder, dass er dich vor den anderen versteckt!“
Ich hatte geglaubt, dass mir egal wäre, was Faye, Rhona oder Charles von mir dachten, doch ich spürte wie ihre Worte mir einen Stich ins Herz versetzten. Schämten meine leiblichen Eltern sich meinetwegen? War das der wahre Grund, warum sie mich wegschlossen?
Emma warf Faye einen bösen Blick zu. „Warum bist du so gemein zu ihr? Hat sie es nicht schon schwer genug?“
Faye verdrehte genervt die Augen. „Habe ich es nicht viel schwerer? Immerhin bin ich diejenige, die sich um sie kümmern soll.“
„Ich kenne dich so gar nicht!“, erwiderte die Köchin fassungslos und sah mich mitleidig an. „Lass dich nicht verunsichern! Mit ein bisschen Training bist du bald sicher genauso gut wie die anderen. Mr. Crawford ist ein viel beschäftigter Mann, das darfst du nicht persönlich nehmen.“
Es war lieb von ihr, dass sie mich aufzuheitern versuchte, aber das konnte meine Selbstzweifel auch nicht mehr vertreiben. Eigentlich kannte ich mich so gar nicht. Ich war immer selbstbewusst gewesen oder hatte zumindest so getan. Die Meinung von anderen war mir scheinbar egal und eigentlich sollte ich auch schon daran gewöhnt sein, dass ich auf ganzer Linie versagte. In der Schule war es schließlich auch nie anders gewesen. Aber ein Teil von mir hatte wohl gehofft, dass es bei den Fomori anders werden würde. Ich hatte mein altes Leben gegen meinen Willen aufgegeben und das Einzige, was mir Hoffnung gegeben hatte, war die Aussicht auf einen Neuanfang gewesen, in dem ich andere Menschen nicht immer wieder verletzte und enttäuschte.
Emma streichelte mir tröstend über den Arm. „Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du deiner Mutter sehr ähnlich siehst? Du hast dieselben strahlenden Augen, das volle Haar und die beneidenswerte Figur wie Miss Parker. Wenn sie nicht Anwältin geworden wäre, würde sie uns sicher von den Covern diverser Hochglanzmagazine entgegenblicken. Vielleicht wäre das ja etwas für dich?“
Sie schaffte es tatsächlich für einen kurzen Moment meine trüben Gedanken zu vertreiben und ich sah sie überrascht an: „Als Model?“
„Natürlich! Mr. Crawford hat viele Kontakte. Er könnte dir sicher dabei behilflich sein, wenn du das möchtest.“
Natürlich hatte ich wie die meisten Mädchen mir in meinen Tagträumen schon einmal vorgestellt wie es wäre als gefeiertes Model über die Laufstege der Welt zu schreiten, besonders wenn es in der Schule eine schlechte Note nach der anderen gehagelt hatte, aber ich hatte nie angenommen, dass es eines Tages wirklich möglich sein würde. Als Schattenwandlerin erst Recht nicht! Aber vielleicht täuschte ich mich und es war gerade als Schattenwandlerin überhaupt erst möglich. Emma wies mich auf ganz neue Zukunftsperspektiven hin.