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Winter
ОглавлениеDie Dunkelheit lag über Slade’s Castle wie ein dunkler Vorhang, während die winterliche Kälte meine Wangen brennen ließ und in meiner Nase kitzelte. Nur am Horizont war bereits ein heller Lichtstreifen zu erkennen. Ich schloss meinen Mantel etwas fester um mich, als ich mich an die Bushaltestelle stellte und zitternd von einem Fuß auf den anderen trat.
Es war nun etwas mehr als eine Woche her, dass Eliza aus meinem Leben gerissen worden war. Der Arzt hatte mich krankgeschrieben, auch wenn er nicht wusste, was mir tatsächlich fehlte, sodass ich mich in meinem Bett hatte verkriechen können. Dairine hatte mich öfters angerufen und Lucas war sogar einmal vorbeigekommen, um nach mir zu sehen. Er hatte mir einen gelben Blumenstrauß mitgebracht, dabei müsste er doch eigentlich am besten wissen, dass ein paar Blumen mich nicht aufheitern würden. Ihn zu sehen hatte auf der einen Seite wehgetan, aber sich gleichzeitig auch tröstlich angefühlt. Auch wenn er nicht von Eliza sprach, stand in sein Gesicht geschrieben, wie sehr er sie ebenfalls vermisste. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet, was von zu wenig Schlaf zeugte. Dazu konnte er mich kaum ansehen. Er ließ seinen Blick überall durch das Zimmer wandern und schien sich unwohl zu fühlen. Alles in unserem Haus erinnerte ihn an sie, mich eingeschlossen.
Lucas und sein jüngerer Bruder Toby kamen erst angerannt, als der Schulbus bereits vor der Haltestelle hielt. Ich bat den Fahrer kurz zu warten und deutete auf die beiden rennenden Jungen. Während sich Toby schnell an mir vorbei drängte, um sich einen Platz in der letzten Reihe zu sichern, schenkte mir Lucas ein verlegenes Lächeln und nahm mit mir weiter vorne Platz.
Seitdem ich denken konnte, saßen wir im Bus nebeneinander. Selbst als Eliza noch dagewesen war, hatte sie oft keinen Wert darauf gelegt bei uns zu sitzen, sondern immer wieder ihren Platz gewechselt, wenn sie nicht gerade die Schule schwänzte.
Der Bus setzte sich in Bewegung und Lucas zog aus seiner Tasche ein Buch: Sicher durch die Abschlussprüfung. Ein kurzes Lächeln huschte über meine Mundwinkel. Ausgerechnet er, der alles mit links schaffen würde, schien jede Minute zu büffeln. Gleichzeitig drängte sich mir der Gedanke auf, dass er das Buch vielleicht nur als Vorwand benutzte, damit ich ihn nicht in ein Gespräch verwickelte. Vorsichtig musterte ich sein Gesicht. Die dunklen Ringe waren immer noch da und er machte generell einen unglücklichen Eindruck. Ihm fehlten der Glanz und die Zuversicht, die er sonst ausgestrahlt hatte. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst.
Ungeachtet des aufgeschlagenen Buches, stupste ich ihn leicht an. „Wie geht es dir?“, fragte ich vertraulich, als ich mich näher zu ihm beugte.
Er sah mich nur kurz an, bevor er seufzend antwortete: „Ich habe das ganze Wochenende mit Lernen verbracht.“
Ich war mir sicher, dass er wusste, dass ich das nicht gemeint hatte. „Warum machst du dir so einen Stress? Du bist Jahrgangsbester. Das wird ein Kinderspiel für dich!“
„Ich wünschte, ihr würdet mir das nicht alle immer wieder unter die Nase reiben und meinen, dass für mich alles leicht wäre. Ich muss genauso viel lernen wie jeder andere. Außerdem habe ich einiges aus dem letzten Jahr nachzuholen“, entgegnete er und klang dabei beleidigt. Etwa zur selben Zeit war vor einem Jahr Eliza schon einmal verschwunden. Damals hatten sowohl meine Eltern als auch Lucas kein anderes Gesprächsthema als sie gehabt. Sie waren alle krank vor Sorge gewesen, während ich die Einzige gewesen war, die überzeugt davon war, dass es Eliza bestens ging und sie nicht auch nur einen Gedanken an uns verschwendete. Ich hatte mir so oft gewünscht, dass mein Leben endlich aufhören würde sich nur um meine große Schwester zu drehen. Nun verachtete ich mich für meine Eifersucht und mein gedankenloses Verhalten. Eliza war im letzten Jahr durch die Hölle gegangen, während ich nur Angst gehabt hatte, dass sie mir Lucas wieder wegnahm, dessen Herz mir ohnehin nie gehört hatte. Gleichzeitig schien ich jetzt die einzige Person zu sein, die sie nicht einfach aufgab.
„Lass uns Freitagabend ins Kino gehen!“, schlug ich Lucas vor.
Er sah mich ungläubig an. „Winter, ich muss lernen!“
„Du brauchst auch mal etwas Ablenkung!“, beharrte ich und fügte leise hinzu: „Eliza würde auch nicht zulassen, dass du deine Zeit nur mit Lernen verschwendest.“
Sobald ihr Name fiel, wurden seine Augen glasig, er wendete den Blick ab und presste seine Lippen aufeinander. Unsicher knete er seine Hände. „Eliza möchte, dass ich das Beste aus meinem Leben mache. Sie weiß wie wichtig mir der Abschluss ist.“
„Das weiß ich auch und ich verstehe dich, aber nur weil du einmal ins Kino gehst, wirst du nicht direkt schlechter abschneiden. Manchmal sieht man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.“
Er konnte mich nicht mehr ansehen. Selbst das Atmen schien ihm schwer zu fallen. „Mir ist einfach nicht nach Kino.“
Wenigstens war er nun ehrlich und versuchte nicht die Abschlussprüfungen vorzuschieben. Ich schwieg einen Moment, bevor ich zugab: „Mir eigentlich auch nicht.“ Meine Hand legte sich wie automatisch auf seinen Arm. „Ich weiß einfach nicht, was wir machen können, um sie zu finden. Meinst du sie ist überhaupt noch in Irland?“
Lucas schob bestimmt meine Hand von sich. Als er mich ansah, verschleierten Tränen seinen Blick, während seine Stirn zornig in Falten gelegt war. „Hör auf damit!“, bat er mich.
„Womit?“
„Hör auf nach ihr suchen zu wollen! Sie wollte das nicht. Sie wollte, dass wir unser Leben fortsetzen. Sie wollte uns in Sicherheit wissen.“
Ich schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie soll ich mein Leben ohne sie fortsetzen? Sie ist meine Schwester!“
„Letztes Jahr war es genau das, was du dir gewünscht hast“, knurrte er, ohne über seine Worte nachzudenken. Als er merkte, was er gesagt hatte, wandte er erschrocken den Blick ab. „Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen!“
Es tat weh, auch wenn es die Wahrheit war. „Gerade deshalb habe ich wieder etwas gut zu machen. Eliza würde niemals aufhören nach mir zu suchen!“
Lucas schüttelte unnachgiebig den Kopf. Er beugte sich zu mir und raunte mir ins Ohr: „Selbst, wenn wir sie finden würden, was sollten wir tun? Sie ist umgeben von lauter Schattenwandlern. Wir hätten keine Chance!“
„Aber wir müssen es doch wenigstens versuchen!“
„Hast du etwa schon vergessen wie es das letzte Mal geendet hat, als wir es versucht haben? Über die Hälfte der Wexforder Polizeibeamten sind tot!“
Ich hatte den Anblick der vielen Leichen natürlich nicht vergessen. Nachts träumte ich von ihren leeren Augen und den bleichen Körpern aus denen jedes Leben gewichen war. Detektive Windows, die wie alle anderen Überlebenden ihre Erinnerung daran verloren hatte, würde nicht aufhören nachzuforschen. Es würde mich nicht wundern, wenn sie mich beschatten ließ.
„Wir dürfen dieses Mal eben niemand anderen mitreinziehen!“
„Es wird kein dieses Mal geben!“ Er sah mich traurig an. „Nicht für mich.“
„Aber wir können sie doch nicht im Stich lassen!“
„Bitte halt mich da raus! Du weißt wie viel sie mir bedeutet und genau deshalb kann ich diesen aussichtlosen Kampf nicht länger führen. Eliza wollte das nicht. Für uns beide nicht, aber ich kann dir nichts verbieten. Nur bitte hör auf mich in deine Pläne miteinzubeziehen und mich ständig daran zu erinnern, dass wir sie verloren haben. Ich muss mich jetzt aufs Lernen konzentrieren, so wie es Eliza gewollt hat.“
Wir hatten die Schule noch nicht ganz erreicht, trotzdem stand Lucas auf und tastete sich zum Ausgang vor. Er floh vor mir. Ich sah ihm verzweifelt nach. Von allen Menschen hätte ich erwartet, dass er mich am ehesten verstehen würde. Wir liebten Eliza beide, und ausgerechnet er wollte nun nicht einmal mehr über sie sprechen, geschweige denn nach ihr suchen. Wahrscheinlich hatte er sogar Recht und Eliza wollte nicht, dass wir uns in Gefahr begaben, aber das hatte sie auch nie davor zurückschrecken lassen, wenn es um mich ging. Sie hatte alles riskiert und dabei sogar ihren Freund und Halbbruder geopfert. Nur wegen Wills Tod waren die Fomori überhaupt in Wexford aufgetaucht und auf sie aufmerksam geworden. Ohne mich hätten sie nie von ihr erfahren und sie wäre noch hier. Ich war es ihr irgendwie sogar schuldig alles in meiner Macht stehende zu tun, um sie wiederzufinden.
Nach den ersten beiden Unterrichtsstunden schleppte Dairine mich mit den Worten „Ich brauche einen Kaffee!“ zur Cafeteria. Sie parkte mich an einem der freien Tische und drängelte sich geschickt an einer Horde Schüler vorbei zum Kaffeeautomaten. Man konnte ihr ansehen wie froh sie war, dass ich wieder in die Schule ging. Wir waren ein eingespieltes Team und wenn die eine fehlte, fühlte sich die andere verloren.
Ein leises Räuspern lenkte mich von Dairine ab und als ich aufsah, standen Mona und Aidan vor mir. „Ist hier noch frei?“, fragte Mona in ihrer üblichen schüchternen Art und deutete auf den freien Stuhl vor sich.
„Natürlich“, lächelte ich zurück. Früher hatte ich mich schon immer für zurückhaltend gehalten, aber gegen Mona war ich ein Wirbelwind.
Die Beiden rückten die Stühle zurück und ließen sich mir gegenüber nieder, als Dairine gerade mit den Kaffeebechern zurückkam. Sie reichte mir einen und raunte verschwörerisch: „Schwarz wie unsere Seelen.“ Den Spruch benutzte sie gerne und er brachte sie jedes Mal aufs Neue zum Schmunzeln. Wahrscheinlich war das überhaupt der einzige Grund, warum wir unseren Kaffee schwarz tranken.
Sie hob beim Anblick von Mona und Aidan die Augenbrauen. „Hätte ich gewusst, dass ihr auch kommt, hätte ich euch auch etwas mitgebracht.“
„Ist schon okay“, entgegneten beide automatisch wie aus einem Mund. Wenn ich Aidan mit Mona sah, konnte ich mir kaum noch vorstellen, dass ich je geglaubt hatte, dass aus uns mehr als Freunde werden könnte. Er und sie gehörten einfach zusammen. Es war fast, als hätte sie das Schicksal zusammengeführt, wenn es denn so etwas gab. Bei anderen Paaren konnte man nie sagen wie lange die Beziehung wohl halten würde, aber bei Aidan und Mona hatte ich keinen Zweifel daran, dass es für immer wäre. Ich beneidete sie etwas um diese Gewissheit und Stabilität in ihrem Leben, doch gleichzeitig gönnte ich es ihnen von Herzen. Denn wenn jemand etwas Glück in seinem Leben verdient hatte, dann die beiden.
„Heute Morgen bin ich wieder an der neuen Boutique vorbei gegangen, die in der Stadt eröffnet hat. Sie haben das Schaufenster umdekoriert und jetzt ist alles grün und glitzert“, erzählte Dairine ganz aufgeregt. Ich wusste im ersten Moment nicht wovon sie sprach. Sie schien mir meine Ratlosigkeit an den Augen abzulesen und rief laut aus, als wäre es selbstverständlich: „St. Patricks Day!“
„Das ist doch erst in einem Monat“, rutschte es Aidan heraus, worauf Dairine ihn entsetzt ansah.
„Genau, nur noch ein Monat! Wisst ihr etwa schon, was ihr anziehen werdet?“
„Etwas Grünes?“, kicherte Mona, worauf Dairine nur mit den Augen rollte. „Das ist doch auch euer erster gemeinsamer St. Patricks Day als Paar! Wollt ihre eure Outfits nicht aufeinander abstimmen? Evan würde sich großartig in so einem altmodischen Gehrock machen, oder wir gehen als Waldgeister!“
„Weiß Evan schon von seinem Glück?“, zog Aidan sie auf.
„Das ist ja gerade das Tollste an ihm! Er ist für jeden Spaß zu haben“, erwiderte Dairine mit stolzem Lächeln. Nachdem ich mich bisher aus der Unterhaltung rausgehalten hatte, stupste sie mich nun an. „Frag doch Liam, ob er mit dir hingeht.“
„Wohin?“ Ich musste gestehen, dass ich ihr kaum zugehört hatte. Mich beschäftigten andere Dinge zurzeit mehr als mein Outfit für ein Fest bei dem es ohnehin nur darum ging, wer als erstes betrunken war.
„Na zum Schulball!“, brüllte sie fassungslos. „Die Planungen laufen bereits. Hast du die Plakate nicht gesehen?“
Wenn man ihr so zuhörte, hätte man meinen können, dass sie an Oberflächlichkeit kaum zu überbieten sei, doch im Grunde war genau das Gegenteil der Fall. Diese Gespräche über Feste und Klamotten dienten bei Dairine nur dazu, von den eigentlich wichtigen Themen abzulenken.
„Hast du mich gerade ernsthaft gefragt, ob ich mit unserem Lehrer zum Schulball gehe?“, fragte ich sie ungläubig. Sie stöhnte genervt auf: „Winter, sieh das doch nicht so eng! Ihr müsst es ja nicht offiziell machen.“
„Dann können wir es auch ganz sein lassen“, konterte ich genervt von dem ewig gleichen Thema. „Ich habe keine Lust auf diese Versteckspielchen und Heimlichkeiten!“
„Ich fände das glaube ich ganz aufregend“, kicherte Dairine und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen.
„Dann fang du doch etwas mit ihm an“, fuhr ich sie schärfer als beabsichtigt an. Es tat mir sofort leid. Sie gab sich nur Mühe mich abzulenken, aber genau wie Lucas am Morgen im Schulbus fuhr ich aus meiner Haut und sagte Dinge, die ich eigentlich nicht so meinte. Ich blickte sie entschuldigend an. „Es tut mir leid, ich bin nur mit meinen Gedanken woanders.“
Sie nickte verständnisvoll. „Ich glaube das haben wir uns alle schon gedacht. Habt ihr noch etwas von Eliza gehört?“
„Nein“, presste ich hervor und spürte sofort wie mir Tränen in die Augen stiegen. „Nicht ein Wort. Wir wissen nicht einmal, ob sie überhaupt dort angekommen ist, wo Rhona sie hinschleppen wollte.“
„Sie hätte sich wenigstens kurz bei deiner Mutter melden können. Immerhin sind sie Schwestern“, meinte nun auch Mona.
„Schwestern, die jahrelang nicht miteinander sprechen“, widersprach ich ihr. „Ich möchte nicht, dass Eliza und ich genauso enden. Nachdem, was alles vorgefallen ist, ist es umso wichtiger, dass wir in Kontakt bleiben.“
„Aber wie willst du das machen, wenn du nicht einmal weißt wo sie ist?“, fragte Aidan.
„Genau darum geht es doch! Ich muss sie irgendwie finden.“
„Irland ist vielleicht kein großes Land, aber doch groß genug, um unterzutauchen“, gab Dairine zu bedenken. „Diese Fomori scheinen mir genau zu wissen, was sie tun. Wenn sie nicht gefunden werden wollen, haben wir keine Chance.“
„Ich kann sie aber nicht einfach aufgeben!“
Mona sah mich mitleidig an und streckte überraschend ihre Hand über den Tisch aus, sodass unsere Finger sich berührten. „Wenn ich könnte, würde ich dir wirklich helfen“, beteuerte sie und sprach damit an, dass sie keine Kontrolle mehr über ihre Magie hatte. Jeder weitere Versuch sie zu nutzen, konnte sie das Leben kosten.
„Ich denke du solltest Eliza versuchen zu vertrauen“, warf Dairine ein. „Sie ist die Cleverste von uns allen und lässt sich von niemandem auf der Nase herumtanzen. Gib ihr etwas Zeit und in ein paar Monaten steht sie wieder vor uns, als wäre nichts gewesen. Das war letztes Jahr doch auch so!“
Mona sah sie plötzlich finster an. „Letztes Jahr hat sie Beth umgebracht!“
Das Ende der Pause wurde durch das Klingeln der Schulglocke eingeläutet.
„Letztes Jahr befand sie sich auch nicht in der Gewalt eines ganzen Clans“, widersprach ich Dairine ebenfalls, die betreten dreischaute. Beschwichtigend hob sie die Hände: „Ich wollte doch nur damit sagen, dass Eliza stark ist.“
Ich wusste, dass nichts von dem, was sie gesagt hatte, in irgendeiner Form böse gemeint gewesen war, aber genauso wusste ich auch, dass sie mir nicht würde helfen können meinen Schwester zu finden. Doch ich kannte jemanden, der dazu vielleicht in der Lage wäre.
Wenn unser Musiklehrer die Noten für den Unterricht ehrlich verteilen würde, bekäme ich dieses Jahr die schlechteste in meiner gesamten Schullaufbahn, denn wie so oft hörte ich ihm nicht zu, sah stattdessen auf die Uhr und ärgerte mich darüber, dass der Zeiger nicht schneller über das Ziffernblatt wandern wollte oder blickte aus dem Fenster in den leeren Schulhof. Doch zumindest in diesem Punkt konnte ich von Glück reden, dass Liam mein Lehrer für Musik war. Ich bezweifelte, dass er sich Notizen über das Verhalten seiner Schüler machte. Wahrscheinlicher erschien es mir, dass er die Noten auswürfeln würde oder einfach jeden gut bewerten würde, um der beliebteste Lehrer der Schule zu bleiben. Nicht nur die Mädchen himmelten ihn an, auch die Jungen gaben sich auf den Schulfluren Handschläge mit ihm.
Als es endlich zum Unterrichtsschluss klingelte, bildete sich bereits eine kleine Gruppe vor dem Lehrerpult. Nie war Schule interessanter gewesen. Eigentlich hätte ich mich hinten anstellen müssen und warten sollen bis ich dran war. Bei jedem anderen Lehrer hätte ich das sicher auch getan, aber mich nervten die Mädchen mit ihren scheinheiligen Fragen und ihrem vorgetäuschten Interesse an der Musik. Ich hatte im Gegensatz zu ihnen wirklich Probleme und Liam war der Einzige, der mir vielleicht helfen konnte.
Ich sah ihn durchdringend an und hoffte, dass er die anderen wegschicken würde, doch er genoss die Aufmerksamkeit viel zu sehr und fühlte sich dabei mehr wie ein Rockstar als ein Lehrer. Gekonnt ignorierte er mein Starren, was mich meine Hände unwillkürlich zu Fäusten ballen ließ. Ich räusperte mich laut, wurde aber weiterhin übergangen als sei ich gar nicht da.
„Mr. Dearing“, rief ich laut, wobei meine Stimme bereits vor unterdrückter Wut bebte. Alle Köpfe fuhren zu mir herum. Wenn Blicke töten könnten, wäre ich sicher auf der Stelle tot umgefallen. Es war mir unangenehm nun vor allen sprechen zu müssen. „Ich brauche noch die Unterrichtsmaterialien von letzter Woche“, behauptete ich schwach.
Er hob argwöhnisch die Augenbrauen. Seit der ersten Unterrichtsstunde hatte er nicht einmal Arbeitsblätter an uns verteilt. „Hat dir deine Sitznachbarin nicht erzählt, was wir gemacht haben?“, fragte er aus purer Provokation. Er wusste genauso gut wie ich, dass mich der Unterricht nicht im Geringsten interessierte.
„Doch, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es richtig verstanden habe.“
Die anderen Mädchen stöhnten genervt auf. „Kannst du nicht jemand anderen fragen?“
Liam erhob sich von seinem Schreibtisch und machte eine einladende Geste in Richtung der Tür. „Meine Damen, ich freue mich über euer Interesse an der Rockmusik, aber wir wollen doch nicht, dass die gute Winter noch weiter im Unterrichtsstoff zurückfällt. Wir sehen uns morgen!“
Sie zogen enttäuschte Gesichter und funkelten mich wütend an, während sie den Raum verließen. Kaum, dass sie weg waren, schloss Liam die Tür und zwinkerte mir herausfordernd zu, als er auf mich zukam. Seine Hände legten sich auf meine Hüfte und er zog mich mit einem Ruck an sich. Sein Atem kitzelte meinen Hals, als er mir verführerisch ins Ohr wisperte: „Ich mag deine herrische Seite!“
Eine Gänsehaut breitete sich sofort über meinen gesamten Körper aus und ließ meine Kopfhaut kitzeln. Meine Beine wurden weich als ich seine Lippen an meinem Hals spürte. Ein Teil von mir wollte nichts lieber als in seinen Armen zu versinken und ihn leidenschaftlich zu küssen, ganz egal, dass wir uns in der Schule befanden, er mein Lehrer war und ich gerade noch wütend auf ihn gewesen war. Aber es hatte mir bisher nie viel Glück gebracht auf mein Herz zu hören und so schob ich ihn von mir, auch wenn ich dafür meine ganze Willenskraft aufbringen musste.
„Wir sind in der Schule!“, wies ich ihn zurecht, das war Erklärung genug.
Er gab ein genervtes Schnauben von sich, drehte sich um und fuhr sich durch das hellblonde Haar. „Was willst du dann?“
Es war nicht unbedingt hilfreich, wenn er sauer auf mich war und so trat ich versöhnlich hinter ihn und legte meine Hand auf seine nackte Schulter. Die Haut war warm und jagte mir erneut einen Schauer über den Körper. „Ich hoffe, dass du mir helfen kannst.“
Misstrauisch drehte er sich zu mir herum und schien bereits zu wissen, was als nächstes kommen würde. Seine Freude hielt sich in Grenzen. „Wobei?“
„Eliza ist seit über einer Woche verschwunden und niemand hat etwas von ihr gehört. Ich möchte sie suchen!“
Er entzog sich meiner Berührung und machte ein so desinteressiertes Gesicht, als würde ihn das alles gar nichts angehen. „Viel Glück!“ Schwungvoll zog er seine abgegriffene Lederjacke an. Eine Tasche für den Unterrichtsstoff besaß er nicht, was eigentlich schon alles über ihn in der Position als Lehrer aussagte. Plötzlich schien er es eilig zu haben.
Ich baute mich vor ihm auf. „Liam, bitte!“, flehte ich und sah zu ihm auf, in der Hoffnung, dass mein verzweifelter Blick seine Abwehr zum Schmelzen bringen würde. „Du bist meine einzige Hoffnung! Die Fomori könnten sich überall aufhalten. Vielleicht sind sie nicht einmal mehr in Irland. Ohne dich finde ich sie nie!“
„Vielleicht wäre das am besten“, entgegnete er unnachgiebig. „Eliza tut es sicher gut, etwas Zeit mit ihrer Mutter zu verbringen. Sie haben viel nachzuholen und sie kann ihr endlich beibringen ihre Kräfte zu kontrollieren.“
Seine Worte versetzten mir einen Stich ins Herz. Rhona war zwar Elizas biologische Mutter, aber sie würde ihr niemals unsere gemeinsame Mutter ersetzen können. Wir waren Schwestern und eine Familie. „Das könntest du auch!“, konterte ich. „Außerdem willst du selbst auch nichts mit den Fomori zu tun haben. Warum überlässt du ihnen dann Eliza?“
„Ganz genau, Winter, ich will nichts mit ihnen zu tun haben und deshalb werde ich mich da auch nicht einmischen.“ Er ging an mir vorbei. Für ihn war das Gespräch damit beendet, aber für mich noch lange nicht. Ich stellte mich ihm zornig erneut in den Weg. „Gib doch wenigstens zu, dass du mir nicht helfen willst sie zu finden!“
Er versuchte nicht einmal sich herauszureden. „Gut erkannt.“
„Aber sie ist meine Schwester! Ich erwarte nicht, dass du es ihretwegen tust, sondern mir zuliebe. Bitte!“ Ich hörte mich weinerlich und flehend an.
Er sah mich ernst an und ich erkannte in seinen Augen so etwas wie Bedauern. „Ich hatte gehofft, dass es jetzt wo sie weg ist, zwischen uns besser laufen würde.“
Verständnislos schüttelte ich den Kopf. „Warum sollte es das? Unsere Probleme hatten nie etwas mit ihr zu tun!“
„Hatten sie nicht?“, knurrte er wütend. „Glaubst du ich würde je vergessen, dass sie meine kleine Schwester auf dem Gewissen hat? Ich sage dir jetzt mal etwas - ich bin froh, dass Eliza weg ist und ich hoffe, dass ich sie sobald nicht wiedersehen werde.“
Fassungslos schnappte ich nach Luft, während Tränen in meine Augen schossen. Meine Gefühle fuhren Achterbahn. Auf der einen Seite verstand ich ihn und schämte mich sogar dafür, dass ich ausgerechnet ihn, dem Eliza das Schrecklichste überhaupt angetan hatte, um Hilfe bat. Aber auf der anderen Seite hatte ich gehofft und irgendwie sogar erwartet, dass er mir dennoch helfen würde. Irgendetwas war da zwischen uns und ich hatte mir gewünscht, dass es größer wäre als alles, was in der Vergangenheit passiert war. Mir fehlten die Worte. Man konnte niemanden um Verzeihung bitten und gleichzeitig vor Wut anschreien.
Als er meine Tränen sah, schien er zu bereuen, was er gesagt hatte und streckte seine Hand tröstend nach mir aus, aber ich schreckte vor ihm zurück. „Winter, ich werde mich nicht dafür entschuldigen, was ich empfinde.“ Er stieß verzweifelt Luft aus und sah an mir vorbei aus dem Fenster. „Ich habe gleich einen Besichtigungstermin für eine Wohnung. Mona und ich können ja nicht ewig in der Pension wohnen. Willst du vielleicht mitkommen?“
Er hatte es mit seinem Vorschlag geschafft, dass meine Wut auf ihn überwog. Gerade hatte er selbst noch zugegeben, dass Eliza immer zwischen uns stehen würde und nun tat er so, als könnten wir einfach wieder zur Tagesordnung übergehen. Ich stieß mit zittrigen Händen die Tür auf und stolperte in den Flur, als wäre die Luft in dem Kursraum zu knapp geworden. Das alles hatte doch keinen Sinn. Ohne ihm zu antworten oder mich auch nur umzusehen, lief ich davon. Er folgte mir nicht.
Den Schulbus hatte ich dank meines erfolglosen Gesprächs mit Liam vergessen, sodass ich erst eine Stunde später als normal nach Hause kam. Rauch stieg aus unserem Schornstein und die Fensterscheiben der Küche waren beschlagen, was mir verriet, dass meine Mutter wahrscheinlich etwas gekocht hatte. Seitdem Eliza weg war, hatte sie sich von der Arbeit auf unbestimmte Zeit frei genommen, obwohl sie ohnehin nur vormittags arbeitete. Ich wusste nicht, was sie sich davon erhoffte und es wäre mir in der letzten Woche lieber gewesen das Haus für mich alleine zu haben, sofern das überhaupt möglich war, wenn dreizehn Katzen ein- und ausgingen wie es ihnen beliebte. Auch heute wollte ich mich am liebsten nur noch auf der Couch zusammenrollen und mich von dem Fernseher beschallen lassen. Doch sobald ich mich länger im Wohnzimmer aufhielt, würde meine Mutter auftauchen und das Gespräch mit mir suchen.
Ich atmete tief durch, bevor ich die Haustür aufschloss. Sofort schlug mir der Geruch von frisch gebackenem Walnussbrot entgegen, was mich unwillkürlich an Eliza denken ließ. Wie oft hatten wir uns in der Vergangenheit um das knusprige Endstück des Brotes gestritten? Nun erschien es mir dumm, kleinlich und völlig überflüssig. Jetzt hätte ich es ihr freiwillig überlassen, wenn sie nur wieder bei uns wäre.
Mum steckte den Kopf aus der Küchentür. „Du bist spät. War noch irgendetwas in der Schule?“
Ihr Anblick ärgerte mich. Ich hatte meine Schwester und sie ihre Tochter verloren, wie konnte sie sich dann Gedanken darüber machen, warum ich eine Stunde später nach Hause kam? Und warum hatte sie ausgerechnet Walnussbrot backen müssen? sie, ich würde sonst vergessen, dass Eliza vielleicht nie wieder nach Hause kommen würde?
„Ich hab Hausaufgaben“, entgegnete ich ihr ausweichend, hing meinen Mantel über die Garderobe und schlüpfte aus meinen Schuhen, bevor ich in Richtung Treppe ging.
„Ich habe Brot gebacken. Willst du ein Stück mit Butter?“
Hättest du mich nicht darauf aufmerksam gemacht, wäre es mir gar nicht aufgefallen, dachte ich spöttisch und presste die Lippen aufeinander.
Meine Mutter kannte mich gut genug, um mir anzusehen, dass ich wegen irgendetwas verärgert war, auch ohne, dass ich es aussprach. „Habe ich irgendetwas falsch gemacht?“
Ich konnte nicht länger an mich halten. „Ob du etwas falsch gemacht hast?“, wiederholte ich höhnisch. „Lass mich mal überlegen, meine Schwester wurde von einer Horde Verrückter entführt und alles, was du und Dad tut, ist so zu tun, als hätte es sie nie gegeben!“ Mit jedem Wort wurde meine Stimme lauter, schriller und vorwurfsvoller.
„Das stimmt doch nicht“, entgegnete Mum betroffen. „Wir vermissen Eliza genauso sehr wie du…“
Ich fiel ihr ins Wort: „Und warum tut ihr dann nichts? Ihr seid ihre Eltern und wenn ihr sie bei der Polizei als vermisst melden würdet, müssten sie nach ihr suchen!“
„Eliza ist volljährig und sie ist freiwillig mit Rhona gegangen…“
„Freiwillig? Nennst du es etwa so, wenn jemand dir androht allen, die du liebst, etwas anzutun, wenn du nicht mitkommst? Eliza braucht uns und du und Dad lasst sie einfach im Stich!“
Sie trat aus der Küche und kam besänftigend auf mich zu. „Rhona ist bei ihr und sie wird sich um sie kümmern. Eliza ist ihre Tochter!“
„Hat sie nicht bereits bewiesen wieviel ihr an Eliza liegt, nachdem sie sich ihr ganzes Leben lang nicht gemeldet hat? Keine Geburtstagskarte, kein Weihnachtsgeschenk, nichts!“
„Das bedeutet nicht, dass sie nicht an sie gedacht hat. Sie glaubte es wäre das Beste so. Wir haben beide gebetet, dass bei Eliza nie das Schattenwandlergen ausbrechen würde.“
„Und was wäre dann gewesen? Hätte ihr sie immer weiter belogen und mich gleich mit? Ihr seid schuld daran, dass es mit Eliza bergab ging. Wärt ihr von Anfang an ehrlich zu ihr gewesen, dann wäre das alles niemals passiert!“ Ich zitterte am ganzen Körper vor Wut und hatte mich kaum noch unter Kontrolle. Tränen rannen über mein Gesicht und ich konnte mich nicht daran erinnern je meine Mutter mehr verachtet zu haben. Eliza war schon immer draufgängerisch, vorlaut und wild gewesen, aber sie hatte sich erst zum negativen entwickelt, als sie rausgefunden hatte, dass unsere Eltern sie adoptiert hatten. Sie musste sich in diesem Moment so schrecklich verraten gefühlt haben und hatte niemandem genug vertraut, um sich ihm anzuvertrauen. Weder mir noch Lucas.
Mum ließ sich von meiner Wut nicht abschrecken. Sie war mit einem Satz bei mir und drückte mich an sich, obwohl ich gegen sie ankämpfte und nach ihr schlug. Je mehr ich mich wehrte, umso fester hielt sie mich bis ich schließlich nachgab und mich weinend auf die Treppe sinken ließ. Sie setzte sich neben mich und hielt mich fest im Arm. „Dein Vater und ich lieben Eliza genauso sehr wie dich und daran wird sich niemals etwas ändern. Sie wird immer deine Schwester und unsere Tochter bleiben. Aber wir sind nicht mehr in der Lage uns um sie zu kümmern. Sie braucht Hilfe von jemandem, der weiß, was sie durchmacht. Ich weiß nicht viel von diesen Fomori, aber ich vertraue Rhona. Sie ist meine Schwester, genau wie Eliza deine. Wir haben uns oft gestritten und waren selten einer Meinung, aber ich weiß, dass sie nicht zulassen würde, dass Eliza etwas geschieht. Bitte vertrau mir!“
Ihre Stimme war so eindringlich und voller Überzeugung, dass ich ihr tatsächlich glaubte. Selbst wenn Eliza und ich uns nun Jahre lang nicht sehen würden, würde ich deshalb nicht aufhören ihr zu vertrauen, wenn es um wirklich wichtige Dinge ging. Was könnte es wichtigeres, als die eigene Tochter geben?
„Warum darf Eliza sich nicht wenigstens bei uns melden? Wenn ich wüsste, dass es ihr gut geht, dann würde ich mir nicht so viele Sorgen machen. Wir wissen ja nicht einmal, ob sie überhaupt angekommen sind, wo auch immer sie hinwollten.“
„Versuch es so zu sehen: Wenn etwas passiert wäre, hätte Rhona sich gemeldet. Solange wir nichts von ihr hören, ist alles in Ordnung.“
Ich runzelte die Stirn und sah sie skeptisch an. Was wenn Rhona sich gar nicht melden konnte, weil sie gar nicht mehr am Leben war?
Mum streichelte mir über den Arm. „Ich weiß es ist schwer, aber wir sollten versuchen unser Leben so normal wie möglich weiterzuführen. Wir sind keine Schattenwandler und werden auch nie welche sein. Gerade du musst an deine Zukunft denken. Das würde auch Eliza für dich wollen.“
Ihre Worte erinnerten mich an die Diskussion, die ich am Morgen mit Lucas geführt hatte. Auch wenn ich ihn und meine Mutter verstand, so konnte ich den Gedanken, dass normal weiterzumachen bedeutete Eliza aufzugeben, nicht abschütteln. Aber vielleicht würde ich es versuchen, zumindest so lange bis ich wusste wie ich meine Schwester finden konnte.