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1990 - Manuel

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Sein Autopilot musste eingeschaltet gewesen sein. Er hatte keine Ahnung, wie er nach Hause gekommen war, aber hier saß er nun in seinem Apartment in der 82. Straße der Upper East Side in Manhattan und wurde endgültig von seinen Gefühlen übermannt. Er heulte wie ein Schlosshund. Die ganze Welt hatte sich gegen ihn verschworen.

Sein Geld war fast aufgebraucht. Er hatte nur noch hundert Dollar in der Tasche. Es gab keine Aussicht darauf, neues zu verdienen und seine Schulden abzuzahlen. Nun hatte er auch noch zufällig seinen Partner Omar Händchen haltend mit einem jungen, asiatischen Schönling gesehen. Er konnte und wollte so nicht weiterleben.

In Gedanken spielte er die verschiedenen Möglichkeiten durch, wie er sich möglichst schnell und schmerzfrei aus dem Diesseits ins Jenseits befördern könnte. Vielleicht ein beherzter Sprung vor eine U-Bahn oder mit Anlauf von der Brooklyn Bridge. Auch eines der vielen Hochhäuser käme in Frage; die meisten waren öffentlich zugänglich. Er könnte auch versuchen, Omar noch mehr zu bestrafen, in dem er sich zuhause aufhängte oder die Pulsadern aufschnitt. So richtig viel Blut, das würde seinen untreuen Geliebten sicher bis ins Mark treffen, der schon beim Anblick eines kleinen Schnitts in den Finger fast ohnmächtig wurde.

Manuel dachte an seine Mutter Lita in Montevideo, die er schon seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen hatte und mit der er nur sehr sporadisch sprach. Telefonieren nach Uruguay war sündhaft teuer und seine Geldsorgen, die er mit seiner perfektionierten Kunst des Vorspielens falscher Tatsachen vor seiner gesamten Familie verheimlichte, ließen häufigere Gespräche nicht zu. Sie würde sicherlich eine Weile traurig sein, aber sie war seine Abwesenheit seit Jahren gewohnt und hatte ein so gutes soziales Umfeld, dass sie schon über seinen Tod hinwegkommen würde. Bei seinem Vater wusste er nicht einmal, welche Art von Gefühlen er für seinen schwulen Sohn hegte, so distanziert war er ihm zeitlebens begegnet. Von ihm erwartete er auf keinen Fall einen Zusammenbruch. All die Tanten und Onkel, die ihn so geliebt hatten, als er aufwuchs, waren in der Zwischenzeit verstorben.

Selbstmord oder Freitod waren keine Fremdworte in Manuels Familie, eher ein Konzept, mit dem man sich von Zeit zu Zeit gezwungenermaßen auseinandersetzen musste.

Seine Kindheit in den fünfziger Jahren im langsam verblühenden Uruguay war die eines verwöhnten Prinzen gewesen, dem kein Wunsch verwehrt blieb, solange er sich anständig benahm, gemessen an den vielfältigen Anforderungen seines elitären Standes in der stark hierarchischen Gesellschaft. Sein Vater Ernesto war ein reicher Rinderbaron, der 1906 in einen aus Galizien stammenden Clan hineingeboren worden war. Seine Vorväter gehörten zu den Gründungsmitgliedern des uruguayischen Staates und brachten über die Jahre verschiedene Senatoren und Staatsminister hervor.

Der Vater hatte nur einmal gegen die Erwartungen seiner starken Familie aufbegehrt; es war ihm nicht gut bekommen. Er verliebte sich in eine arme Friseurin und heiratete sie ohne Zustimmung der Eltern. Die junge Frau, die von Natur aus psychisch labil war, wurde von seiner Verwandtschaft beäugt und gemieden. Man gab ihr eindeutig zu verstehen, dass sie nicht dazugehörte.

Bereits als sie das erste Mal schwanger war, versuchte die angehende junge Mutter sich das Leben zu nehmen. Sie sprang aus dem Fenster des dritten Stocks ihrer Wohnung, landete aber auf einem Auto mit einem Stoffdach, das den Aufprall abfederte und sie mit leichten Blessuren davonkommen ließ. Auch ihr ungeborener Sohn Julio überstand den Unfall folgenlos.

Ein Jahr später, sie war erneut schwanger, war ihr Selbstmordversuch zielführend. Man fand sie leblos an einem Seil hängend auf dem Dachboden. Es folgte eine Morduntersuchung, in der sich der Vater nur widerstrebend und ohne sichtbare Gefühlsregung erklärte. Als Mann von Rang fand er die gesamte Situation absurd und gestand sich keinerlei emotionale Ausbrüche zu. Zu groß war die Angst, den Respekt der Anderen zu verlieren, vor allen Dingen den der Angestellten. Der Fall wurde recht bald als Suizid deklariert und auch in der Familie ad acta gelegt.

Vater und Sohn blieben fast zehn Jahre ohne Ehefrau und Mutter. Dann trat Lita in ihr Leben.

Lita stammte mütterlicherseits aus einer baskischen Familie, die nur zwei Generationen zuvor nach Uruguay gekommen war; feinsinnige, aber arme Immigranten, die sich in kürzester Zeit in die oberen Ränge hinaufgeheiratet hatten. Ihr Großvater Eusebio war ein sehr guter Schneider gewesen mit erlesenem Geschmack, den er gern mit den Damen der höheren Gesellschaft teilte. Sein gesamtes Geld investierte er darin, seine drei Töchter auf eine Privatschule zu schicken, wo sie in den besseren Kreisen verkehrten und allesamt Brüder ihrer Mitschülerinnen aus reichen Familien ehelichten.

Litas Vater war Arzt, der seine Frau Lucia, eine Freundin seiner jüngsten Schwester, während der gemeinsamen medizinischen Ausbildung am Hospital de Clinicas näher kennenlernte und sich unsterblich in sie verliebte. Wie damals üblich brach sie die Ausbildung ab, als sie heiratete und widmete sich fortan Haus und Kindern. Sie war jedoch eine moderne Frau, fuhr Auto und rauchte sogar in der Öffentlichkeit. Mit ihrem besonderen Stil, stets nach dem letzten französischen Trend gekleidet, erregte sie Aufsehen. Den Männern ihrer Zeit flößte sie Angst und Bewunderung zugleich ein.

Als Lucia in ihrer siebten Lebensdekade feststellte, dass ihr die Hände und Füße taub wurden und sie Koordinierungsprobleme in ihren Bewegungen bekam, diagnostizierte sie sich selbst mit einem Gehirntumor. Einem langsamen Verfall wollte sie sich nicht aussetzen und nahm sich eines Tages mit Schlaftabletten das Leben. Sie mixte die Pillen in ihre Thermoskanne mit Mate-Tee, setzte sich auf eine Parkbank mit Blick auf den Rio de la Plata und genoss ein letztes Mal den bitteren Trank, der über viele Jahre ihr Lebenselixier gewesen war. Dann schlummerte sie für ewig dahin.

Lita war zu jener Zeit bereits mit Ernesto verheiratet und hasste fortan die Aussicht auf den Fluss, der so breit war wie das Meer.

Die Tochter hatte die fortschrittliche Lebenssicht ihrer Mutter Lucia abgeschaut und auch ihren Sinn für Ästhetik geerbt. Lita war wunderschön und unterstrich ihre Attribute mit einer eleganten, modernen Kleidung. Die Männerherzen flogen ihr zu, aber einer hatte es ihr besonders angetan.

Sie hatte Ernesto, der bereits auf die Vierzig zuging, 1942 bei einem Pferderennen kennengelernt und mochte seine etwas altertümliche Art, mit der er sie umwarb. Er war zurückhaltend, galant, ganz ein Gentleman alter Schule und sandte ihr an jedem Wochenende Blumen. Er stellte sich ihren Eltern vor, präsentierte, was er zu bieten hatte, und bat schließlich um ihre Hand.

Lita war einundzwanzig, als sie ihren Ernesto heiratete mit seinem zwölfjährigen Sohn Julio, dessen Herz sie ebenfalls im Sturm eroberte. Ihre Ehe war nach allgemeinen Maßstäben eine gute. Ernesto war der unbestrittene Herr des Hauses. Wenn er zwei Tage in der Woche in der Stadt verbrachte, dann war sein Wort Gesetz. Lita jedoch war eine Meisterin der Manipulation. Sie steuerte mit sicherem Gespür alle Menschen in ihrem Umfeld unbemerkt in die gewünschte Richtung, ihren Ehegatten eingeschlossen; eine süße Verführerin. Die Familie ihres Mannes, noch immer von Schuldgefühlen geplagt nach dem Desaster mit der ersten Frau, nahm sie mit offenen Armen auf und unterstützte sie in jeder erdenklichen Weise. Onkel und Tanten gingen bei ihr ein und aus, jeder kümmerte sich um ihre Kinder Gabriela und Manuel, besonders um den Kleinen, der jahrelang sehr krank war.

Manuel war bei weitem das jüngste Kind des Clans; sämtliche Cousinen und Vetter waren schon Teenager oder älter, als er geboren wurde. Seine blonden Locken verzückten alle, bis auf seinen Vater, der sich eine männlichere Version eines Jungen gewünscht hätte. Eine Schar von Dienstmädchen und Gouvernanten kümmerten sich um den Kleinen, der stets niedlich herausgeputzt und nur in Begleitung Erwachsener zum Spielen vor die Tür gelassen wurde.

Manuel glaubte, dass es ein Leben lang so weitergehen würde. Jeder würde ihn lieben und sich um ihn kümmern. Solange er in seiner Familie lebte, hatte er nie Verantwortung für sich übernehmen müssen. Stets gab es jemanden, der ihm half, der seine Fehler oder Unbedachtheit ausbügelte, selbst als er sich in den Zeiten der Militärdiktatur in enorme Schwierigkeiten brachte.

Auf der Welle vieler linker Bewegungen in der gesamten Welt gründete Manuel 1970 als Zwanzigjähriger mit einigen Freunden eine Studentengruppe, die auf demokratischem Weg eine gesellschaftliche Veränderung herbeiführen wollte, weg von den oligarchischen Strukturen, hin zu mehr Selbstbestimmung und höheren Einkommen für die Arbeiterklasse. Mit ihrer friedlichen Ausrichtung unterschieden sie sich von den Tupamaros, die sich an den kommunistischen, kubanischen Ideologien von Fidel Castro und Che Guevara orientierten, und bald eine gewaltsame Auseinandersetzung mit dem Militär heraufbeschworen, die grausam für die Rebellen endete. Viele junge Radikale wurden gefangen genommen, gefoltert und getötet oder verschwanden auf Nimmerwiedersehen.

Auch Manuel geriet ins Fadenkreuz des Militärs, das in der Zwischenzeit nicht mehr zwischen den linken Gruppen unterschied und gnadenlos gegen alle vorging, die Veränderungen propagierten. Sein Name stand bald auf einer Liste politischer Feinde, die in den nächsten Tagen verhaftet werden sollten. Sein Onkel Edmund, ein dem Militär nahestehender Jurist, der seit einiger Zeit daran arbeitete, die rechtliche Grundlage für einen Coup d’Etat unter demokratischem Deckmantel zu schaffen, wurde von einem Oberst angerufen, der ihn hinter vorgehaltener Hand warnte, dass sein Neffe demnächst von Zuhause abgeholt werden würde. Er gab ihm zwei Stunden Vorsprung.

Edmund rief Lita an, die ihren Sohn ohne weitere Fragen mit ein paar wertvollen Schmuckstücken und allem Bargeld ausstatte, das sie in der Kürze der Zeit auftreiben konnte. Sie schickte ihn mit dem Familienauto, dessen langjähriger Chauffeur unbedingt vertrauenswürdig war, in Richtung Rinderfarm, zweihundert Kilometer von Montevideo entfernt. Sie kamen mitten in der Nacht an und schlichen sich ins Herrschaftshaus, wo sich Manuel in einem geheimen, dunklen Keller versteckte. Das Militär rückte mit großem Aufgebot drei Tage später an, fand ihn jedoch nicht.

Seine Tante Patricia, eine Schwägerin seines Vaters, beschloss schließlich, dass das Leben im dunklen Keller für ihren Neffen unerträglich sei und sie nun endlich eingreifen müsse. Sie war seit vielen Jahren die Angebetete des obersten Generals, der aus einer befreundeten Familie stammte und sogar der Patenonkel ihres Sohnes war. Sie besuchte den Mann im Krankenhaus, wo er sich von einer leichten Lungenentzündung erholte. Sie sprachen für eine ganze Weile unter vier Augen. Keiner wusste später, was der General als Gegenleistung gefordert hatte, aber er erklärte sich bereit, Manuel davonkommen zu lassen, wenn er sich künftig an die Regeln hielte.

Der rebellische Student wagte es nicht ein zweites Mal, seinen Kopf aus dem Fenster zu strecken. Zu viele seiner Freunde waren im Gefängnis, tot oder im Exil. Auch die Familie machte ihm klar, dass er von nun an seine Rolle würde spielen müssen, um Gefahr von sich und anderen fernzuhalten. Er trat die ihm zugeordnete als Lehrer an, unterrichtete fünfzehn Jahre lang politische Wissenschaften, wobei ihm genau vorgeschrieben wurde, wie dieses Wissen auszusehen hatte.

Seine Homosexualität war eigentlich nie ein wirkliches Problem gewesen. Sie blieb lange von der Familie unbemerkt und wurde auch später nie diskutiert. Es konnte nicht sein, was nicht ausgesprochen wurde. Lita würgte ihn jedes Mal ab, wenn er Ansätze machte, mit ihr über das Thema zu reden. Sie wollte keine Fakten hören, so konnte sie mit gutem Gewissen jegliche Spekulationen unterbinden. Das war ihr erprobter Modus Operandi. Wann immer ihr schlüpfrige Details über Familienmitglieder zugetragen wurden, inklusive möglicher Affären ihres Ehemanns, stoppte sie einfach den Überbringer der Nachrichten, noch bevor er Einzelheiten preisgeben konnte. Je weniger sie wusste, umso besser. Denn wie hieß es doch so treffend: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

Manuel hatte viele Freundinnen aus seiner Zeit an der französischen Schule und anfangs, in den Sechziger Jahren, war es ihm egal, mit wem er ins Bett ging. Es war die Zeit der sexuellen Befreiung, alles war aufregend, alles war erlaubt. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass er Männer bevorzugte. Irgendwie lag mehr Spannung in der Luft, wenn sie sich annäherten. Das Flirten hatte neben der körperlichen Attraktion zusätzlich den Reiz des Verbotenen. Er fand seine Liebhaber überall und in allen Altersklassen, unter seinen Freunden, Kollegen, Geschäftsbeziehungen seines Vaters, Ledige und Verheiratete. Er war sehr diskret und nie hatte es Schwierigkeiten gegeben.

Das erste Mal, dass sich Manuel mit Haut und Haaren verliebte, war seine Begegnung mit Omar. Er hatte ihn in einer Schlange an der Kinokasse kennengelernt und sich erst einmal fernhalten wollen, denn der schöne Knabe war offensichtlich wesentlich jünger als er. Manuel hatte soeben die Dreißig überschritten und Omar zählte gerade mal achtzehn Jahre. Aber er war unerbittlich in seinen Annäherungsversuchen und ließ sich nicht abschütteln. Er hatte das Selbstbewusstsein eines weltgewandten Teenagers, konnte stundenlang interessant und kultiviert reden, hatte sogar schon eine eigene Radioshow als Filmkritiker. Das imponierte Manuel mächtig. Wer war er, dass er es ausschlagen konnte, von so einem Menschen begehrt zu werden, auch wenn der nicht aus der gleichen Oberschicht stammte wie er selbst?

Omar war zwar in Uruguay geboren, lebte allerdings schon viele Jahre mit seinen Eltern in New York und reiste regelmäßig zwischen den beiden Welten hin und her. Nachdem die beiden Männer ihrer Liebe nicht mehr ausweichen konnten, nahm Omar ein Studium der Kunstgeschichte in Montevideo auf und sie waren von nun an ein Paar, wenn auch unter getrennten Dächern. Irgendwann ging Omar notgedrungen zurück nach New York, wo es besser bezahlte Jobs gab, und ihre Beziehung reduzierte sich auf lange Briefe, in denen sie sich ihre Sehnsucht von der Seele schrieben.

Manuel folgte seiner großen Liebe, nachdem die Militärdiktatur in Uruguay geendet hatte und er sich endlich frei fühlte, auch von den Erwartungen seiner Familie. Die ersten Jahre in der Metropole New York, wo Menschen aller Couleur und Ausrichtung aufeinandertrafen, hätten so schön sein können, wäre da nicht das Gespenst AIDS wie ein gigantischer Menschenfresser in der homosexuellen Szene umgegangen und wären Manuels finanzielle Ressourcen nicht endlich gewesen. Er hatte aus Montevideo eine Menge alten Schmucks mitgebracht, den er gegen Kommission im Auftrag verkaufte oder von seiner Mutter geschenkt bekommen hatte, um seinen Unterhalt zu bestreiten. Aber das Leben im Big Apple war teuer und er wollte sich nicht von Omar aushalten lassen. Bald neigte sich der Vorrat dem Ende zu; dann kam ihm der Zufall zur Hilfe.

Er schlenderte über den West Broadway, vorbei an Galerien und kleinen Geschäften, als ihn ein Japaner ansprach und nach dem Weg zum World Trade Center fragte. Manuel war in die gleiche Richtung unterwegs und bot dem Fremden an, ihn zu begleiten. Sie führten eine angeregte Unterhaltung über die Rolle der schönen Künste im modernen Leben, die beiden sehr wichtig war. Kazuo Sitaki war Galerist und Kunsthändler, auf der Suche nach neuen, frischen Künstlern, die für seine wohlhabenden Kunden in Japan interessant sein könnten. Er hatte auch ein Auge auf südamerikanische Maler geworfen, zu denen er bisher aufgrund der Sprachbarriere keinen Zugang hatte.

Die Begegnung war der Anfang einer mehrjährigen Zusammenarbeit, in der Manuel sehr viel über Kunst lernte, wie sie bewertet und vermarktet wurde, wer die wichtigsten Galeristen waren, wie man sich in der Szene bewegte und vieles mehr. Kazuo zahlte ihm ein ordentliches Gehalt und im Erfolgsfall auch eine anständige Beteiligung an der Kommission. Leider fand die Kooperation ein jähes Ende, als Kazuo wegen Steuerhinterziehung verhaftet wurde und fortan in einer Gefängniszelle sein Dasein fristete.

Manuel fing von vorn an, kontaktierte die japanischen Kunden aus Kazuos Datei, die ihm allesamt mit Skepsis entgegentraten. Lediglich ein Klient erklärte sich bereit ihn zu treffen, wenn er das nächste Mal in New York wäre. Als das Treffen Monate später in einer Hotelbar stattfand, war Manuel wieder einmal in höchsten finanziellen Nöten, selbst die Anrufe bei seiner Mutter hatte er auf größere Abstände terminiert.

Der Japaner behandelte ihn mit offensichtlicher Herablassung.

„Es ist ein Jammer, dass Herr Sitaki nicht mehr tätig ist. Er war gut und ich mochte ihn. Aber es gibt ja eine Menge renommierter Händler, mit denen man potentiell arbeiten kann. Für mich kommen allerdings nur die besten in Frage.“

„Ich habe viele Jahre mit Herrn Sitaki gearbeitet und eine Menge von ihm gelernt. Ich glaube, ich kann ihren Ansprüchen genügen.“, warf Manuel ein und lächelte mit gespielter Selbstsicherheit.

„Ich verlange von meinen Geschäftspartnern besondere Leistungen, nicht das, was alle können. Ich suche Objekte, die noch niemand in einer Ausstellung gesehen hat. Mich interessieren Künstler, die an der Schwelle zum Weltruhm stehen, aber noch nicht völlig verdorben sind, was ihre Preisvorstellungen angeht. Hier habe ich eine Liste interessanter Namen. Sehen Sie, Kunst ist für mich eine Passion, aber auch ein Geschäft. Ich investiere, um Geld zu verdienen. Dabei habe ich einen langen Atem, aber am Ende muss die Kasse klingeln.“

Manuel schaute die Liste an, auf der sich einige Namen befanden, über die in Fachkreisen bereits mit sabbernden Lefzen diskutiert wurde. Persönlich kannte er keinen von ihnen. Trotzdem nickte er zustimmend.

„Wenn ich sie richtig verstehe, suchen sie einen Spürhund, einen Detektiv in der Kunstwelt, der sich relativ unbemerkt in der Szene bewegen kann und im richtigen Moment zuschlägt. Da sind Sie bei mir richtig. Ich kann mich unter dem Radar bewegen, habe keine Visitenkarte mit einem wichtigen Firmennamen darauf, der Begehrlichkeiten weckt.“

„Genau das ist es, was ich suche. Ich gebe Ihnen eine Chance. Rufen Sie mich an, sobald Sie etwas Interessantes gefunden haben.“, sagte der Japaner und schickte sich an, vom Tisch aufzustehen.

„Eine solche Arbeit verlangt einen hohen Einsatz an Zeit und viel Reisetätigkeit. Ich würde es begrüßen, wenn Sie die Ernsthaftigkeit Ihres Anliegens mit einem Vorschuss unterstreichen würden.“

Manuel machte seinen Rücken gerade und schaute seinem Gesprächspartner direkt in die Augen. Sein Gesicht strahlte Zuversicht aus, während sein Herz so laut klopfte, dass er befürchtete, man könne es meterweit hören.

„Ich verstehe.“

Der Japaner zückte sein Scheckbuch, schrieb die ungeheure Summe von fünftausend Dollar in die Betragszeile, unterschrieb mit einem kräftigen Schwung und reichte ihm das wertvolle Papier.

„Ich erwarte erste Ergebnisse in drei Monaten. Wir können den Betrag mit der Kommission verrechnen. Sollten Sie nichts zustande bringen, erwarte ich mein Geld unverzüglich zurück. Und wagen Sie es nicht zu verschwinden. Ich finde Sie überall. Guten Tag.“

Damit erhob er sich und verließ das Lokal mit raschem Schritt.

Manuel blieb ungläubig zurück. Seine Gefühle fuhren Achterbahn. Auf der einen Seite war er glücklich, dass die nächsten Monate gesichert waren, auf der anderen Seite verspürte er einen ungeheuren Druck, der sich wie ein riesiger Felsbrocken auf seine Schultern legte.

Nun, ein Quartal später, war das Geld bis auf die letzten hundert Dollar ausgegeben. Der größte Teil war für sein tägliches Leben draufgegangen, der Rest für ein paar Reisen und unzählige Telefonate, in denen er versucht hatte, zu den entscheidenden Spielern auf dem Kunstmarkt vorzudringen. Alles vergeblich. Er war keinen Deut weitergekommen.

Und jetzt lief er bei Omar auch noch Gefahr, aus seinem kleinen, wohligen Nest geschubst zu werden. Auf keinen Fall wollte er als gescheiterter Held zu seinen Eltern zurückkommen. Lieber würde er sich von dieser Welt verabschieden. Aber einen Abend gab er sich noch, die hundert Dollar würden für ein paar ordentliche Cocktails in einer guten Bar reichen.

Er wusch sich das verheulte Gesicht, zog seinen besten Anzug an und machte sich auf den Weg in die Dragon Bar, wo sich gut situierte Schwule und Heterosexuelle gleichermaßen trafen. Er setzte sich an die Theke, bestellte einen Martini und schaute zum Fernseher über dem Barkeeper, wo ein Baseballspiel live übertragen wurde.

Ein neuer Gast setzte sich neben ihn. Er warf seinen schicken, hellen Trenchcoat über die Lehne des Hockers, öffnete den Knopf seiner Armani Jacke und streckte zur Entspannung seine Arme, wobei eine sündhaft teure Patek Philippe Uhr sichtbar wurde. Manuel hatte ihn in Sekundenschnelle taxiert, er hatte einen untrüglichen Blick für Klasse.

Im Fernseher brachten sie einen Werbespot für die neue Lotterie, bei der zum ersten Mal ein Hauptgewinn von einer Million Dollar ausgeschüttet würde. Die Menschen an der Bar diskutierten, was sie alles mit so viel Geld anfangen würden, ein Haus kaufen, einen geilen Ferrari oder doch erst einmal ein Urlaub in der Karibik. Manuel beteiligte sich nicht an diesen Fantasien, er sah keine Zukunft vor sich.

Der elegante Mann an seiner Seite bemerkte Manuels miese Stimmung. Er sprach ihn an.

„Na, was würden sie sich denn wünschen, wenn sie eine Million Dollar hätten? Ich bin übrigens Luther Vancroft.“, und er reichte ihm zur Begrüßung die Hand.

Septemberblau

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