Читать книгу Septemberblau - Mechthilde Böing - Страница 8

1988 - Marlies

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Ach, wie toll war das denn! Sie konnte es noch immer kaum glauben.

Ihr Chef hatte ihr gerade angeboten sich für eine freie Stelle in der Filiale New York zu bewerben, die genau ihren Fähigkeiten und Wünschen entsprach. Er hatte ihr augenzwinkernd signalisiert, dass ihre Chancen nahezu bei neunzig Prozent ständen, dass sie den Job wohl bekommen würde, sollte sie sich entschließen ihren Hut in den Ring zu werfen. Die Stelle war wie für sie gemacht. Die meisten ihrer potentiellen neuen Kollegen kannte sie auch schon von ihren täglichen Telefonaten mit derjenigen Abteilung, in der sie als Kundenbetreuerin für deutschstämmige globale Firmenkunden einsteigen würde.

Endlich würden sich ihr anstrengendes Studium und die letzten Jahre extremer Arbeitsbelastung in der Röber Bank wirklich bezahlt machen. Was für eine Karriere: Von Haselünne nach New York! Alles aus eigener Kraft. Das war schon etwas Besonderes. Marlies musste lachen; wer hätte das gedacht, damals, als sie als verstoßener Bastard eines unzüchtigen Mädchens jahrelang um Anerkennung ringen musste.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie sah die Skyline von New York vor ihrem geistigen Auge und sich selbst mitten darin, wie sie eilig die Fifth Avenue entlang lief in ihrem neuen dunkelblauen Kostüm, der weißen Bluse und den hochhackigen Schuhen, deren Beherrschung sie durch viel Übung perfektioniert haben würde. Sie malte sich Geschäftstermine aus, in denen sie ihre Gesprächspartner mit einem einwandfreien, fast akzentfreien Englisch von ihrem Angebot überzeugte und dann den Deal mit einem festen Händedruck zum Abschluss brachte.

Beschwingt ging sie zurück an ihren Schreibtisch. Auf einmal sah der Stapel von unerledigten Vorgängen darauf nicht mehr so bedrohlich aus. Sie konnte sich allerdings in diesem Moment überhaupt nicht auf die Arbeit konzentrieren, sah sich außerstande auch nur eine der Mappen in die Hand zu nehmen. Sie starrte auf die Vielzahl der gelben Zettel, die an den Trennwänden um ihren Arbeitsplatz herum angeheftet waren, ohne auch nur ein Wort zu lesen. Zumindest gab sie ihren ahnungslosen Kollegen den Anschein, als würde sie gerade überlegen, was als nächstes zu tun sei.

Das Wichtigste war nun, ihren Freund Klaus davon zu überzeugen, mit ihr in den Big Apple zu ziehen. Allein wollte sie das große Abenteuer lieber nicht wagen. Außerdem waren sie seit fast zehn Jahren ein Paar und waren bisher gemeinsam unschlagbar gewesen. Er war ihr zuliebe sogar mit nach Frankfurt gezogen, obwohl er eingeschworener Westfale und konservativer Beamtensohn war. Eigentlich hatte er seine Heimat nie verlassen wollen, aber nun war er glücklich in Hessen.

Sie hatte Klaus als Studentin in Münster kennengelernt, als sie ihm auf der Promenade ins Fahrrad gelaufen war, weil sie auf dem Weg zur Klausur ihre tags zuvor gemachten Spickzettel zum letzten Mal durchlas, um sich den Inhalt einzutrichtern. Er hatte versucht auszuweichen, aber vier nebeneinander fahrende Radfahrer im Gegenverkehr ließen das nicht zu. Wären diese nur zehn Sekunden später an der besagten Stelle angekommen, wäre sie Klaus nie begegnet, denn er hätte sie wahrscheinlich geschickt umkurvt. So waren sie zur Kommunikation gezwungen; es hatte gleich gefunkt. Er zeigte großes Verständnis für ihre Zerstreutheit und bot ihr an sie auf dem Gepäckträger zur Uni zu bringen, damit sie dort gefahrlos ihre Klausurvorbereitungen abschließen konnte.

Danach hatten sie die Telefonnummern ausgetauscht, sie hatte ihre Klausur geschrieben und trotz der ständig zu ihm wandernder Gedanken sogar ordentlich bestanden. Klaus war angehender Lehrer und bereits im Referendariat, damit ein viel beschäftigter Mann. Dennoch rief er bereits nach zwei Tagen an und sie verabredeten sich für den gleichen Abend im Kleinen Kiepenkerl auf eine Altbierbowle. Seither waren sie zusammen, ein ungleiches Paar, aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an.

Die beiden hatten schon beim ersten Treffen stundenlang geredet, ohne Anstrengung und künstliche Pausen. Marlies hatte sich gleich sicher gefühlt in seiner Gegenwart, gut aufgehoben und geborgen. Er wusste so genau, was er vom Leben erwartete und wie er seine Ziele zu erreichen gedachte. Er hatte bereits seinen Traumberuf gefunden und gab ihr mit leuchtenden Augen zu verstehen, dass er heute vielleicht sogar seiner Traumfrau begegnet war.

Marlies imponierte seine Selbstsicherheit, von der sie noch weit entfernt war. Sie hatte BWL studiert, weil ihr nichts Besseres eingefallen war und es Raum ließ für die verschiedensten Einsatzmöglichkeiten später im Beruf. Das Hauptfach Bankbetriebslehre wählte sie, da die Vorlesungen und Seminare nicht so überfüllt waren und sie sich dort nicht so verloren vorkam. Das Interesse am Thema kam erst im Laufe der Zeit. Getreu dem alten Motto: „Appetit kommt beim Essen.“ Das hatte die Mutter ihr als Kind schon immer eingebläut, wenn sie lustlos auf ihren Teller geschaut hatte.

Jetzt war sie glücklich über ihre Entscheidung. Auch sie hatte ihren Platz in der Welt der aufstrebenden Karrieristen gefunden, wenngleich es etwas länger gedauert hatte. Zumindest hatte sie Durchhaltevermögen bewiesen und die Fähigkeit, sich in komplexe neue Sachverhalte einzuarbeiten. Daher hatte sie auch keine Angst mehr vor neuen Herausforderungen, eher einen stillen Hunger, ihre Grenzen auszuloten.

Marlies war der Weg zum Studium nicht schon in der Wiege vorgezeichnet worden. Sie hatte sich alles hart erarbeiten müssen. Ihre Mutter war unverheiratet und alleinerziehend, denn Marlieses Erzeuger hatte sich nach Bekanntwerden der Schwangerschaft schleunigst aus dem Staub gemacht. Da war ihre Mutter erst achtzehn Jahre alt gewesen, fast noch ein Kind und sehr naiv. Ende der fünfziger Jahre waren die moralischen Maßstäbe jedoch unerbittlich und die Schande riesengroß.

Die junge Frau hatte sich Hals über Kopf in einen verheirateten Handelsvertreter verliebt, der regelmäßig bei ihnen zuhause einkehrte, um dem Herrn des Hauses, Marlieses Großvater, die neue Hutmode nahezubringen. Der über Land fahrende Verkäufer war zuvorkommend und redegewandt, machte gern Komplimente an alle Frauen, sehr wohl wissend, dass im Regelfall sie diejenigen waren, die letztendlich die Kaufentscheidung fällten. Eines Tages war Marlieses Mutter allein zuhause gewesen, denn ihre Eltern waren nach Holland ans Meer gefahren. Sie machte den Fehler, den smarten Charmeur ins Haus zu lassen, der sie mit geübter Finesse bezirzte und noch am gleichen Abend an seiner Liebeskunst teilhaben ließ.

Ihre kurze Glückseligkeit war nicht ohne Folgen geblieben, und Marlieses Mutter hatte für ihre Unbedarftheit schwer büßen müssen. Die Eltern schämten sich ihrer, zumal der Kindsvater nicht als Ehemann zur Verfügung stand. Es dauerte Jahre, bis der Tratsch um die „verdorbene“ junge Frau und ihren kleinen Bastard verebbte. In der Kleinstadt Haselünne im Emsland passierte eben nicht viel, da hielt man sich auch schon mal längere Zeit an einem Thema auf, besonders wenn es etwas schlüpfrig war und von einem großen Geheimnis umgeben. Marlieses Mutter hatte außer ihren Eltern niemandem je den Namen des Verführers preisgegeben, der sich mit einer einmaligen Zahlung von eintausend D-Mark das Schweigen der Familie erkaufte und nie mehr blicken ließ.

Marlies war trotz des schwierigen Starts in ihr Leben nicht ohne Liebe aufgewachsen. Sowohl ihre Mutter als auch ihre Großeltern konnten sich weder ihrer Unbekümmertheit noch ihrem starken Willen entziehen. Sie lernte schnell die Erwachsenen für sich zu gewinnen, sie ein wenig zu manipulieren und, sobald es opportun erschien, gegeneinander auszuspielen. Die Eloquenz hatte sie definitiv von ihrem Vater geerbt. So hatte sie während ihrer Kindheit und Jugend drei liebende Personen um sich gehabt, die ihr das notwendige Urvertrauen gaben, wenn sie auch schon mal ein größeres Risiko einging.

Ihr unglückliches, folgenschweres Liebesabenteuer hatte Marlieses Mutter für die Männerwelt unerreichbar gemacht. Sie hatte ihre Lektion mehr als gründlich gelernt. Sie konzentrierte sich zunächst auf ihre Ausbildung zur Sekretärin, lernte Stenografie und Schreibmaschine und arbeitete seit vielen Jahren in der lokalen Allgemeinen Ortskrankenkasse. Einen festen Partner hatte sie nie mehr in ihr Bett gelassen. Sie lebte weiterhin im Haus ihrer Eltern in einer kleinen ausgebauten Einliegerwohnung. Auf diese Weise hatte sie das notwendige Geld sparen können, um ihre auffallend intelligente Tochter auf das Ursulinen-Gymnasium zu schicken.

Marlies war von Beginn an eine sehr gute Schülerin, obwohl es ihr die Klassenkameradinnen und der Lehrkörper nicht leichtmachten. In den ersten Jahren wurde sie aufgrund ihrer bescheidenen Herkunft und des „unmoralischen“ Eintritts in diese Welt oft verhöhnt oder von Gemeinschaftsaktivitäten ausgeschlossen. Auch die Nonnen, die die Klosterschule leiteten und große Teile des Unterrichts bestritten, ließen sie spüren, dass sie eine große Schande in sich trug, die sie durch nichts auslöschen konnte, auch nicht durch wohlfeiles Verhalten. Also beschloss Marlies, es mit dem Gegenteil zu probieren und alle ihr entgegengeschleuderten Vorurteile zu bestätigen. Sie gebärdete sich aufsässig und besserwisserisch, brachte auch schon mal ein Lexikon von zuhause mit, um zu beweisen, dass sie Recht hatte. Zudem scheute sie sich nicht vor körperlichen Auseinandersetzungen, wenn es ihr notwendig erschien. Irgendwann waren es die anderen Schülerinnen leid, auf ihr herumzuhacken und sie bekam nach und nach den ihr gebührenden Respekt.

Eine einzige Freundin hatte sie während der gesamten ersten sechs Jahre auf dem Mädchengymnasium an ihrer Seite gehabt. Auf sie konnte sie sich noch heute ohne Wenn und Aber verlassen. Iris war eine Außenseiterin gewesen, so wie sie. Auch sie kam aus schwierigen Verhältnissen und musste sich gegen Klassenkameradinnen und Nonnen durchboxen. Da tat es gut, dass sie zu zweit waren.

Nicht völlig unerwartet reagierte Klaus anders als Marlies es sich gewünscht hätte. Er war von der Idee New York wenig begeistert.

„Was soll ich denn da machen? Ich sitze dann den ganzen Tag zuhause und warte darauf, dass meine liebe Frau am Abend heimkommt. Außerdem ist mir Frankfurt wirklich schon groß genug.“

„Du kannst dort sicher auch eine sinnvolle Beschäftigung finden. Lehrer werden immer und überall gebraucht und sei es für Nachhilfe. Manhattan ist übrigens gar nicht so groß und sehr übersichtlich angeordnet. Da findest du dich ganz schnell zurecht.“

„Ich fühle mich wohl an meiner Schule und die Schüler mögen mich. Und ich mag meine Klasse, endlich mal interessierte und intelligente Kinder, die was lernen wollen. Das gebe ich nur ungern auf.“ Klaus räusperte sich hörbar und ging in die Küche, um sich ein Bier zu holen.

Marlies bemerkte, wie erregt er innerlich war. Sie sah es an seinem zackigen Gang und den hochgezogenen Schultern. Auch sie ließ die Diskussion nicht kalt. Auf keinen Fall wollte sie ihren Traum aus den Händen gleiten lassen. Missmutig ließ er sich auf das Sofa plumpsen. Er trank die Flasche fast in einem Zug leer und schaute an ihr vorbei aus dem Fenster.

„Denk doch mal daran, wie spannend es ist. Ein neues Land, eine völlig andere Kultur und die vielen Leute, die man kennenlernt. Hier sind wir doch schon fest eingefahren. Immer die gleichen Gesichter, auf der Arbeit, an den Wochenenden, bei den Geburtsfeiern und so weiter und so fort.“, wagte sie einen neuen Anlauf.

„Ich liebe meine Freunde. Und ja, ich möchte ihre Gesichter regelmäßig sehen. Ich fühle mich wohl in unseren angestammten Kreisen. Wieso irgendwo anders ein Unbekannter sein, lästigen Smalltalk machen und mit allem wieder von vorn anfangen? Das ist mir zu anstrengend.“; gab er patzig zurück.

Marlies sah ihre Felle schwimmen. Er war wirklich ein harter Knochen. Stets fokussierte er sich erst einmal auf die Nachteile, bevor er über Chancen nachdachte. So war es auch gewesen, als sie nach Frankfurt gezogen waren, und jetzt fühlte er sich hier so wohl. Sie erinnerte ihn daran.

„Du wolltest damals auch nicht hierherkommen. Und sieh, es ist doch gut gelaufen. Man kann eine Sache aus mehreren Winkeln betrachten, wenn man das nur will.“ Sie konnte einen leichten vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme nicht vermeiden.

Klaus ging nicht weiter auf ihr Argument ein, sondern setzte zum nächsten Gegenschlag an, einem Punkt, der in den vergangenen Monaten bereits mehrmals ein heißes Eisen in ihren Auseinandersetzungen gewesen war.

„Was ist eigentlich aus unserer Familienplanung geworden. Du bist jetzt dreißig. Ist es nicht langsam mal an der Zeit, das Thema Kinder anzugehen? Ich verdiene genug, dass wir es uns leisten könnten, ein Häuschen im Grünen anzumieten und mit der Rasselbande loszulegen.“

Marlies hatte befürchtet, dass er die Diskussion in diese Richtung lenken würde. Sie war noch völlig mit sich selbst im Unreinen, was ihre Position zur Kinderfrage war. Selbstverständlich hatte sie ihm zugestimmt, als er ihr von seinem unbedingten Kinderwunsch erzählt hatte, schon ganz am Anfang ihrer Beziehung. Damals, als junge Studentin, war das Ganze für sie noch so weit weg gewesen, dass sie nicht wirklich eine dezidierte Meinung hatte. Gehörten Kinder nicht irgendwie automatisch zu einer langfristigen Partnerschaft? Aber zu dieser Zeit hatte sie sich auch nicht vorstellen können, dass es ihr so viel Spaß machen würde, arbeiten zu gehen und eigenes Geld zu haben.

Mehr als sie es sich je erträumt hatte genoss sie es, nicht über jede Ausgabe dreimal nachdenken zu müssen. Sie verdiente als Bankerin im Kundenbereich ein tolles Gehalt, von dem sie auch zu zweit leben könnten, ohne sich einschränken zu müssen. In der Zwischenzeit brachte sie sogar mehr Geld nach Hause als Klaus, ein Umstand, der ihm schwer zu schaffen machte. Sein männliches Ego war schon ein bisschen angekratzt gewesen, als sie die letzte Gehaltserhöhung bekommen hatte und ihn fortan beim Einkommen überflügelte.

Für Klaus war es auch absolut klar, dass Marlies als Mutter zuhause bliebe, wenn sie Kinder hätten. Er würde sicherlich seinen Beitrag zur Hausarbeit leisten, so dass Marlies sich irgendeinem Hobby würde widmen können, aber er wollte auf keinen Fall, dass eine fremde Person den Nachwuchs in der Hauptsache betreute. An Berufstätigkeit würde sie erst wieder denken können, wenn die kleinen Bengel aus dem Gröbsten raus wären, vorher war ihre Anwesenheit zuhause unabdingbar. Marlies hatte einmal leise anklingen lassen, dass vielleicht auch er die Vollzeit-Elternrolle übernehmen könnte und war auf große Empörung gestoßen. Das kam für ihn nicht in Frage. Er brauchte seinen Beruf und die Kinder ihre Mutter. Basta!

Das Thema war also äußerst heikel und würde sich an diesem Abend nicht lösen lassen. Marlies machte noch mehrere zaghafte Versuche, Klaus das Leben in der Weltstadt New York schmackhaft zu machen, aber er ließ sich nicht erweichen. Er versprach ihr jedoch, in den nächsten Tagen ernsthaft und ergebnisoffen darüber nachzudenken. Dann erlag er gern ihren beschwichtigenden, körperlichen Annäherungsversuchen und schlief zufrieden ein.

Sie lag noch lange wach und fragte sich, was die Zukunft wohl für sie parat hielt.

Septemberblau

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