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1988 - Iris

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Der Tag war lang gewesen. Heute hatte sie fast zwei volle Schichten gearbeitet. Eine Kollegin war angeblich plötzlich krank geworden, vielleicht hatte sie auch einfach tags zuvor nur zu lange gefeiert. Das kam in der Belegschaft häufiger vor. Mallorca brachte das so mit sich.

Iris ging in den Raum hinter der Rezeption und zog sich um. Welch eine Wohltat. Raus aus dem kurzen schwarzen Rock, der hellen Bluse mit der zugeknöpften schwarzen Weste und vor allem aus der blickdichten Strumpfhose, die sie bei der Arbeit in dem hochklassigen Hotel tragen musste. Endlich Shorts und T-Shirt, die Einheitskleidung auf den Straßen der Insel, die zu dieser frühen Abendzeit gefüllt waren mit Touristen, die an den Geschäften und Verkaufsständen vorbeischlenderten und sich seelisch auf die lange Party vorbereiteten, die in wenigen Stunden, wie in jeder Nacht, steigen würde.

Morgen hatte sie frei. Also würde auch sie sich ins Getümmel stürzen und bis in die Morgenstunden tanzen. Das war ihre große Leidenschaft. Wenn sie sich im Takt der Musik bewegte, vergaß sie alles um sich herum und konnte sich einfach gehen lassen. Dazu brauchte sie auch keinen festen Tanzpartner, obwohl sich für die langsamen Stücke und den Schmuseblues stets jemand fand, an dem sie sich festhalten konnte.

An Verehrern mangelte es ihr nicht. Sie sah gut aus; hübsches, etwas kantiges Gesicht, typisch norddeutsch eben, mit einer hellblonden Mähne und langen wohlgeformten Beinen, die ihre Wirkung nie verfehlten. Gelegentlich brezelte sie sich gern auch mal richtig auf, wenn sie Lust darauf verspürte, sich auf den Markt für unverbindliche sexuelle Vergnügen zu begeben, und zog dann todsicher die Blicke aller Männer auf sich, wenn sie ihre Reize auf der Tanzfläche zur Schau stellte. Sie liebte die Bestätigung, die sie regelmäßig vom anderen Geschlecht erfuhr, aber das Gefühl, begehrenswert zu sein, hielt nie lange an. Danach begannen ihre Selbstzweifel von Neuem und in festen Beziehungen damit auch die Probleme, denn ihre ungefilterte Eifersucht sprengte den Rahmen des Erträglichen.

Sie hatte sich vorgenommen, nun erst einmal ihre Freiheit zu genießen, bevor sie es erneut wagte, sich einem Menschen ganz und gar anzuvertrauen. Zu tief saß der Stachel des letzten Liebesaus, das sie noch immer nicht verwunden hatte.

Iris hatte schon einige längere Beziehungen hinter sich und alle hatten schlecht geendet. Sie hatte gleich den erstbesten Mann geheiratet, der ihr über den Weg gelaufen war, da brauchte sie noch die Zustimmung ihrer Eltern, die sich gegen ihren Dickkopf nicht durchsetzen konnten. So sehr hatte sie aus diesem unwirtlichen Zuhause weggewollt; ihr war jedes Mittel recht gewesen.

Die beiden Menschen, die sie Mama und Papa nannte, waren eigentlich ihre Tante und ihr Onkel. Sie waren in der Zwischenzeit auch ihre Adoptiveltern, hatten aber sechzehn Jahre gebraucht, um sie als ihre Tochter anzuerkennen. In ihrer Kindheit und frühen Jugend hatte Iris nicht wirklich gewusst, wo sie hingehörte. Das Damoklesschwert der Rückführung an ihre biologischen Eltern, die mit ihren fremdgewordenen Geschwistern weit weg in Süddeutschland lebten, schwebte die gesamte Zeit über ihr. Es wurde auch durchaus öfters geschwungen, wenn ihre Tante mit dem Verhalten ihres Pflegekindes nicht einverstanden war oder es zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Elternpaaren kam, die zwar mit einander verwandt, aber doch sehr unterschiedlich waren.

Iris wurde in eine Familie hineingeboren, in der es noch nie rundgelaufen war. Der Vater war ein eher arbeitsscheues Subjekt, dem der Krieg und die nachfolgende Gefangenschaft in Russland seine letzte Motivation geraubt hatten. Seine Dämonen verfolgten ihn auf Schritt und Tritt, die grausamen Bilder in seinem Kopf wollten nicht weichen. Er wurde nie von der Aufbruchsstimmung der fünfziger Jahre erfasst, ließ sich treiben und ertränkte seine ständige Traurigkeit im Alkohol. Seine junge Frau versuchte anfangs ihn und die drei Kinder aufzufangen, bis die finanziellen Probleme sie an ihre Grenzen brachten und sie sich seiner Methode der Kummerbewältigung anschloss.

Das Jugendamt schritt ein, holte die stark vernachlässigten Kleinen mit Polizei und Blaulicht aus der Familie und brachte sie in ein Pflegeheim. Diese drastische Maßnahme ließ die Mutter erst einmal zur Vernunft kommen. Sie schwor dem Alkohol ab und schaffte es fortan als Kassiererin in einem Supermarkt so viel Geld zu verdienen, dass sie ihre Kinder nach Hause holen konnte. Aber für alle hungrigen Mäuler reichte das Einkommen nicht. Sie kontaktierte ihre ältere, kinderlose Schwester in Haselünne und überredete sie dazu, zumindest einen ihrer Sprösslinge bei sich aufzunehmen und zu versorgen.

Die Wahl war auf Iris gefallen. Sie war das unbeachtete Mittelkind, zwei Jahre alt, als sie erneut entwurzelt und einer unbekannten Umgebung zugeführt wurde. Ihre Tante und neue Pflegemutter stimmte der Übersiedlung der Kleinen erst nach langer Bedenkzeit zu. Sie mochte ihren Schwager nicht und fürchtete den schlechten Einfluss seiner Gene auf das Wesen des Mädchens. So brachte sie ihrer Nichte erst einmal wenig Zuneigung entgegen, beäugte sie mit kontrollierendem Blick und suchte nach Anzeichen der Bestätigung ihrer Befürchtungen, die sie reichlich ausfindig machte.

Schon im Vorschulalter konnte Iris wenig richtigmachen. Lob und Anerkennung blieben ihr zuhause verwehrt. Selbst wenn sie nur aus Versehen etwas anstellte oder sich nach den strengen Maßstäben der neuen Mutter danebenbenahm, bekam sie zu hören,

„Ist ja auch kein Wunder, dass du so missraten bist. Bei dem Vater konnte ja nichts Besseres herauskommen.“

Gelang ihr allerdings etwas Unerwartetes oder fremde Menschen bemerkten ihre Aufgewecktheit, dann war es der guten Erziehung der Pflegeeltern geschuldet. In den Arm genommen wurde sie dafür nicht, man wollte das Kind auf keinen Fall verwöhnen. Das war nicht Teil der Abmachung gewesen.

Iris war schon früh viel allein. Ihr Onkel führte im kombinierten Wohn- und Geschäftshaus den größten Textilladen am Ort, in dem auch die Tante den ganzen Tag lang eingespannt war. Das Mädchen lernte bald, sich um sich selbst zu kümmern und schärfte seine Sinne, damit es Missstimmungen schon frühzeitig erkennen und durch erfolgreiches Unsichtbarmachen den Folgen entgehen konnte. Der Stress, den das Geschäft mit sich brachte, wurde ungemindert in die Privaträume hinübertransportiert. Es gab viele Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten um die richtige Kollektion, Ärger mit den Angestellten, fällige Kreditraten und vieles mehr. Da blieb wenig Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse des ungewollten Kindes, das zu schweigen und zu funktionieren hatte.

Was Liebe und Vertrauen bedeuten, lernte Iris in dieser unterkühlten Umgebung nicht. Sie träumte von einem Leben mit ihrer richtigen Mutter, die sie aus der Ferne über alles liebte, und Geschwistern, die wie Pech und Schwefel zusammenhielten. Die Wirklichkeit sah anders aus. Das wurde ihr auch wiederholt deutlich gesagt. Sie hatte das große Los gezogen, auch wenn es sich nicht so anfühlte.

Ihre Geburtsfamilie kam aus der Armut nie heraus. Der Vater vertrank den Großteil des Einkommens seiner Frau, die mit der alleinigen Verantwortung für die Familie überfordert war. Die Kinder wurden weiterhin vom Jugendamt überwacht und waren schon früh verhaltensauffällig in der Schule. Ihr Weg in ein geordnetes Leben war steinig. Ob sie ihn dennoch erfolgreich gegangen waren, wusste Iris nicht. Sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihnen.

Ihre erste tiefe Beziehung knüpfte Iris mit ihrer Freundin Marlies. Die beiden Außenseiterinnen in der Sexta des Ursulinen-Gymnasiums fanden notgedrungen zueinander. Sie wurden gleichermaßen von den Klassenkameradinnen gemieden, die sämtlich aus sogenanntem „guten Hause“ stammten. Bastarde und Pflegekinder passten nicht ins feine Milieu. Das diskriminierende Verhalten der Schülerinnen wurde von den Nonnen nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert, in dem sie die beiden Mädchen herablassend behandelten, höhere Maßstäbe an ihr Aussehen und Tun anlegten und drastischere Strafen für kleine und große Vergehen verhängten als gemeinhin üblich.

So trieben sie alle zusammen die beiden Mädchen in eine Ecke, in der die zwei sich dann komfortabel einrichteten. Als unzertrennliches Team begegneten sie allen schulischen Herausforderungen gemeinsam, machten jeden Gegner fertig, mit Worten oder fester Entschlossenheit zum Kampf. Wie verletzlich sie tief im Innern waren, zeigten sie nur der besten Freundin und ausschließlich hinter verschlossenen Türen. Offiziell passte kein Blatt Papier zwischen sie, auch wenn sie nicht in jedem Falle einer Meinung waren oder Iris ihre aus der Unsicherheit geborene Eifersucht nicht im Zaum hielt.

Als pubertierende Teenager waren sie beide nicht leicht zu handhaben gewesen, aber Marlies hatte sich schneller gefangen und konnte an ihre guten Leistungen der ersten Schuljahre anknüpfen. Sie hatte den unbedingten Ehrgeiz, das Abitur zu schaffen, um dann zu studieren.

Iris hingegen verlor den Anschluss. Sie träumte im Unterricht, machte die Hausaufgaben nicht mehr und verlagerte ihr Interesse ganz und gar auf das Aussehen. Ihre Zensuren brachen ein, und es wurde klar, dass sie nicht in die Oberstufe versetzt werden würde.

Ihre Pflegeeltern waren nicht einmal unglücklich über diesen Umstand, so konnte Iris schneller ins Arbeitsleben einsteigen und finanziell auf eigenen Füssen stehen. Sie besorgten ihr bei einem befreundeten Unternehmen in der Kreisstadt Meppen eine Ausbildungsstelle als Bürokauffrau, verbunden mit der Hoffnung, dass sie irgendwann einmal das Textilhaus weiterführen würde. Auch aus diesem Grund entschlossen sie sich nun endlich zur Adoption ihrer Nichte, die seit Jahren ihre „richtige“ Tochter hatte sein wollen.

Dem Freiheitsdrang von Iris, der sich in langen Partynächten und Alkoholexzessen am Wochenende äußerte, begegneten die nun auch rechtlich verantwortlichen Eltern mit viel Geschrei und strengen Verboten. Sie erreichten nur das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigten. Iris lebte ihre gesamte angestaute Wut aus, suchte sich Freunde, die ebenfalls verlorene Seelen waren und auch schon mal ihrer zerstörerischen Kraft Ausdruck verliehen. Mehr als einmal wurde sie von der Polizei verhört, entging aber, wie durch ein Wunder, einer Vorstrafe. Schließlich verliebte sie sich in Tom, einen angehenden Installateur, und sie zog für eine Weile das Kuscheln zu zweit den lauten Partys vor.

Tom war ein typischer Kleinstadtteenager, er liebte Fußball, seine Kumpel und jedes Wochenende das gleiche Ritual: Gemeinsames Besäufnis bei Schützenfesten oder Discoabenden in der Gegend. Je schmerzhafter der Kater am nächsten Morgen, umso toller der Abend. In der Phase der ersten Verliebtheit hatte er, sehr zum Ärger seiner Freunde, die Zweisamkeit gesucht und mit Iris viele Abende auf seinem Zimmer verbracht. Seine Eltern hatten eine Kneipe und waren nie zuhause. Außerdem hatten sie es aufgegeben, ihrem Jungen Vorschriften zu machen, seit er seine Lehre begonnen hatte.

Iris hatte die Aufmerksamkeit sehr genossen und dachte, es würde immer so weitergehen. Sie ließ Tom nicht aus den Augen, wenn sie sich in Gesellschaft befanden und konnte es nicht ertragen, sprach er mit anderen Mädchen, geschweige denn, er lachte mit ihnen. Sie machte ihm unberechtigte Vorwürfe, denen er lediglich mit Erstaunen begegnete, denn er war sich keiner Schuld bewusst und sah keinen Grund, sich zu verteidigen.

Tom fand ihre Unsicherheit eher lästig und wollte nach und nach sein altes Leben mit den Freunden zurück, eben aber mit einer Frau zuhause, die ihm am Morgen ein Aspirin brachte, wenn er es zu toll getrieben hatte. In seiner jugendlichen Naivität nahm er an, ihre Eifersucht würde verschwinden, wenn sie erst einmal verheiratet wären. Schon nach sechs Monaten machte er ihr einen Antrag, den sie glücklich akzeptierte. Sie waren beide achtzehn Jahre alt und noch in der Ausbildung.

Iris zog zuhause aus und zu Tom in seine kleine Kemenate. Er erlaubte ihr nur ungern, dass sie seine Fußballidole von den dunklen Wänden entfernte, den Raum hell anstrich und den Schrank mir ihrer bunten Kleidung dominierte. Aber er wollte nicht schon von Beginn an Ärger und vertraute darauf, dass sich schon alles richten würde, wäre sie erst einmal richtig angekommen in ihrem neuen Leben. Nach ein paar Wochen wandte er sich seinen gewohnten Aktivitäten zu; arbeiten, ausgehen, mit den Kumpel Fußball schauen.

Bald fühlte sich Iris vernachlässigt, vermisste seine Liebesschwüre aus der Anfangszeit und vermutete reflexartig eine andere Frau hinter seinen Männerverabredungen, die mit der Zeit zunahmen. Tom konnte ihre an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfe einfach nicht mehr ertragen. Zudem wollte er vor seinen Freunden nicht als Pantoffelheld dastehen und nahm seine Frau, die unversehens zur Furie werden konnte, lieber nicht mit, wenn sie eine richtige Sause planten.

Kurz vor Ende ihrer Ausbildung fasste Iris den Entschluss, Toms Lotterleben endgültig ein Ende zu bereiten und setzte heimlich die Pille ab. Drei Monate später war sie schwanger. Sie freute sich diebisch, während Tom zu Recht seine Freiheit endgültig in Gefahr wähnte. Trotzdem unterstützte er sie, auch emotional, so gut er es eben konnte.

Im vierten Monat traten unerklärliche Bauchschmerzen auf. Die Ärzte im kleinen Ortskrankenhaus brauchten ewig, bis sie die Ursache, eine Entzündung mit Gonorrhoe-Erregern, feststellten. Da hatte Iris ihr Baby schon verloren und ihre Fruchtbarkeit auch. Sie war lange untröstlich, konnte und wollte sich mit der Wahrheit nicht abfinden. Schnell hatte sie einen Schuldigen ausgemacht. Tom musste ihr die verheerenden Erreger übertragen haben, wahrscheinlich als Ergebnis seiner Untreue, die sie ihm jeden Tag aufs Neue unterstellte.

Irgendwann hielt Tom es nicht mehr aus. Er schmiss Iris aus dem Haus. Er wollte nur noch sein Junggesellenleben zurück und endlich zuhause seine Ruhe haben. Iris war zwar zutiefst verletzt, hatte aber ebenfalls bereits für sich entschieden, dass Tom nicht ihr Mann fürs Leben war. Zu sehr erinnerte sein Anblick sie an den Verlust, den sie erlitten hatte. Sie wollte ihm nicht mehr begegnen, auch nicht zufällig, und beschloss, Haselünne für immer den Rücken zu kehren.

Die Scheidung wurde weniger als zwei Jahre nach der Trauung ausgesprochen. Die beiden hatten sich tatsächlich seither nie wiedergesehen.

Zuerst ging Iris nach Bremen, um dort in einem Steuerbüro zu arbeiten, dann nach Hannover und schließlich nach Hamburg. Ihr gefiel das internationale Flair der Stadt mit dem riesigen Hafen, der sie von fernen Zielen träumen ließ. Sie wollte mehr von der Welt sehen. Eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin schien ihr der beste erste Schritt in diese Richtung.

Das Studieren der Sprachen Englisch, Spanisch und Französisch machte ihr großen Spaß. Sie war ein Naturtalent. Allein durch häufiges Hören erschloss sich ihr die Grammatik der verschiedenen Idiome. Das Vokabular ähnelte sich von den Wortstämmen. Sie hätte nie geglaubt, dass das Lateinbüffeln bei den Nonnen sich irgendwann einmal auszahlen würde, aber nun war es eine gute Grundlage: Ora et labora, carpe diem.

Nach Abschluss ihrer Ausbildung fand Iris eine Position an der Rezeption des Hotels Atlantik an der Alster. Ihre schicke Selbstpräsentation im Vorstellungsgespräch mit dem arroganten Hotelmanager, der die Augen nicht von ihrem perfekt berechneten Ausschnitt nehmen konnte - nicht zu offen, aber auch nicht zu verhüllt für seine blühende Fantasie -, hatte ihr die Tür geöffnet. Bei der Arbeit begegneten ihr Menschen aus aller Welt, die sie oft wegen ihrer Sprachkenntnisse oder ihres Aussehens beglückwünschten. Auch Luther hatte sie hier kennengelernt.

Er war nicht der erste Mann nach Tom. In jeder Stadt, in der Iris wohnte, hatte sie mindestens ein gebrochenes Herz zurückgelassen oder war selbst von enttäuschter Liebe bis ins Mark getroffen worden. Sie verliebte sich schnell und häufig, öffnete sich dem Angebeteten jedes Mal mit Haut und Haaren, nur um bald darauf von ihrer Unsicherheit beherrscht zu werden, die nach ständiger, durch Worte und Taten zu bekundender Anerkennung heischte. Männer, die sich darauf einließen, wurden meist selbst zu peniblen Kontrollfreaks, die sie auf ein Podest stellten und niemanden sonst in ihrer Nähe duldeten. Das wurde ihr dann zu viel und sie machte sich klammheimlich davon. Die anderen potentiellen Partner, die Iris unmissverständlich die Grenzen ihrer Geduld aufzeigten, wenn sie zickig wurde, mutierten vom Helden zum Todfeind und sie verließ wütend das Schlachtfeld.

Luther war ein Mann im besten Alter, etwa sieben Jahre älter als Iris. Er wirkte seriös und distinguiert, kam aus New York und war von seiner Firma Sothebys, einem großen Kunstauktionator in Manhattan, für ein Jahr nach Deutschland transferiert worden, um bei einem befreundeten Auktionshaus das europäische Geschäft kennen zu lernen. Die ersten zwei Wochen verbrachte er im Hotel Atlantik, wo er sich gleich von der hübschen Dame an der Rezeption angezogen fühlte, mit der er sich fließend in seiner Muttersprache unterhalten konnte. Es dauerte keine drei Tage, bis er Iris auf einen Kaffee einlud und der Funke übersprang.

In Hamburg kannte Luther außerhalb seiner Arbeit keine Menschenseele, hatte also an den Abenden und Wochenenden reichlich Zeit, sich mit Iris zu vergnügen. Regelmäßig gingen sie zusammen aus, kannten jede Kneipe auf St. Pauli und joggten an gemeinsamen freien Tagen zusammen um die Alster. Luther hatte ein sehr gutes Gehalt, war großzügig und zuvorkommend. Er ließ es nicht zu, dass Iris irgendetwas bezahlte, wenn sie ausgingen, und beglückte sie regelmäßig mit kleinen Geschenken und Blumen.

Iris war im siebten Himmel. Es war so, wie sie es sich stets erträumt hatte. Von seinem Leben in den USA erfuhr sie nicht viel, seine Aussagen blieben an der Oberfläche und wenig genau. Sie nahm an, dass er als Junggeselle ein richtiges Arbeitstier war und für Hobbies wenig Raum blieb. Alle drei Monate war er für eine Woche nach Hause geflogen, um an seine Vorgesetzten zu berichten, wie er ihr erzählte. Jedes Mal hatte er sich mit einem langen Kuss von ihr verabschiedet, der ihr den Atem raubte und die Zeit des sehnsüchtigen Vermissens einleitete.

Als das Jahr seiner Entsendung dem Ende zuging, wartete Iris darauf, dass er sie bitten würde, mit ihm in die aufregende Metropole auf der anderen Seite des Atlantiks zu gehen und hatte sich ihr neues Leben schon in den schönsten Farben ausgemalt. Sie sah sich bereits über den Broadway schlendern und in der Rezeption eines 5-Sterne Hotels am Times Square den Touristen die besten Insidertipps für den Abend zuflüstern. Aber Luther machte keine Anstalten, ihr zu erläutern, wie er sich die gemeinsame Zukunft vorstellte. Einen Monat vor der Abreise setzte sie ihm die Pistole auf die Brust und ließ nicht locker, als er ihr erneut ausweichen wollte.

Dann traf es sie wie ein Schlag. Luther beichtete ihr kleinlaut, dass er längst verheiratet war und einen zehnjährigen Sohn hatte. Die Zeit mit ihr wäre sehr schön gewesen, aber eben von vornherein endlich. Er habe ihr nie mehr versprochen.

Der Boden unter ihr öffnete sich und Iris war darin verschwunden. Wie in Trance lief sie zu ihrem Apartment und versteckte sich drei Tage lang in ihrem Bett. Auf der Arbeit meldete sie sich krank, holte einige Zweiliterflaschen billigen Wein und verschanzte sich in ihren eigenen vier Wänden.

Die größten Vorwürfe machte sie sich selbst. Wie hatte sie so naiv sein können zu glauben, dass er es ernst meinte und mit ihr gemeinsam alt werden wollte. Wie ein verliebter Backfisch hatte sie sich benommen, ohne Vorsicht und Realitätssinn. Sie musste weg aus dieser Stadt, in der sie alles an Luther erinnerte und die glückliche Zeit, die unwiderruflich vorbei war.

Iris bewarb sich auf eine Anzeige im Hamburger Abendblatt, mit der ein Luxushotel in Mallorca nach jungen Menschen suchte, die mehrere Sprachen beherrschten und Erfahrung im Hotelgeschäft mitbrachten. Sie erfüllte alle Voraussetzungen und machte sich unverzüglich auf den Weg.

Seit vier Jahr war sie nun auf dieser fast deutschen Insel im Mittelmeer, wo oft die Sonne schien und die üblichen Begegnungen unverbindlich waren. Iris hatte sich an ihren Vorsatz gehalten, Luther und alle weiteren Exemplare des männlichen Geschlechts, das einer Frau wie ihr nur Unglück brachte, in den Wind zu schießen. Sie hielt sich lieber an ihre neuen Freundinnen, die sie seit ihrer Ankunft zahlreich gesammelt hatte und mit denen sie sich die Nächte um die Ohren schlug, bis ihr Körper vor Müdigkeit erschlaffte, ihr Kopf sich vollkommen leer anfühlte und keine Grübeleien mehr zuließ.

Die neuen Freundschaften waren natürlich nicht mit ihrer Beziehung zu Marlies zu vergleichen, die nun zwei Jahrzehnte andauerte. Iris konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder mit einem Menschen ein solch inniges Vertrauensverhältnis aufzubauen. Es war dieses einzigartige Gefühl des Zusammengeschweißtseins, ohne Wenn und Aber, während man gemeinsam erwachsen wurde, das so besonders war. Das konnte man später nicht mehr herstellen. Schade, dass sie so weit voneinander entfernt wohnten. Selbst telefonieren war horrend teuer. Sie taten es nur im äußersten Notfall.

Iris hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, als das Telefon läutete und Marlies vom anderen Ende der Leitung aufgeregt auf sie einredete. Sie erzählte ihr von dem Angebot, nach New York zu gehen und der Schwierigkeit, Klaus von diesem Schritt zu überzeugen. Trotz allen Wohlwollens fiel es Iris schwer, sich für ihre beste Freundin zu freuen. Wie gern wäre sie selbst längst in den USA gewesen an der Seite des Mannes, von dem sie geglaubt hatte, dass er sie liebte. Dennoch redete sie Marlies gut zu, zeigte sich überzeugt, dass das Ganze positiv ausgehen würde und drohte, dass sie so bald wie möglich für lange Zeit zu Besuch käme, sobald die beiden sich in der neuen Heimat niedergelassen hätten.

Nach dem unerwarteten Telefonat musste sie sich beeilen. Ihre Partycrew wartete auf sie. Sie ging eher nachlässig mit ihrem Makeup um, sparte sich Augenbrauenstift und Puder und konnte sich auf die Schnelle nicht entscheiden, welche Schuhe sie anziehen sollte, ihre bequemen Rock-n-Roll Turnschuhe oder doch lieber die Stilettos, auf denen ihre langen Beine wunderbar zur Geltung kamen. Sie stand geschlagene fünf Minuten unentschlossen vor dem Schuhschrank, bevor sie ihre geliebten hochhackigen Tanzschuhe aus dem Regal herausholte.

Septemberblau

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