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Teil 1 1987 - Anthony
ОглавлениеMit zitternden Händen öffnete er den Briefumschlag vom Familiengericht. Seine Zukunft war entschieden worden und er wusste nicht, ob er sie schwarz auf weiß vor sich sehen wollte. Anthony setzte sich an den kleinen Küchentisch in dem alten Haus, das er zusammen mit seinem Freund Ernie gemietet hatte, und begann zu lesen. Der Inhalt der nüchternen Zeilen in typischer Amtssprache ließ seine düstersten Träume wahr werden.
Gloria hatte also vollen Erfolg gehabt. Sie hatte augenscheinlich den besseren Anwalt an ihrer Seite. Der war garantiert von ihrer Mutter bezahlt worden, die sich im Endeffekt hinter ihre Tochter gestellt hatte, obwohl sie es doch gewesen war, die ihr damals so eindringlich zur Heirat mit diesem netten, jungen Jamaikaner geraten hatte. Das Haus und ein Großteil seiner Altersversorgung gingen an seine Ex. Zudem musste er monatlich eine stattliche Summe Unterhalt für seine Kinder zahlen, die bei der Mutter verblieben und die er nur nach Absprache mit ihr alle zwei Wochen sehen durfte. Ihm selbst gestand das Gericht lediglich ein mageres Einkommen zu, das in etwa dem eines Kassierers bei McDonalds entsprach. Sein ziemlich nutzloser Anwalt, angeblich der Beste unter den wenigen, die er sich hatte leisten können, würde sicher nur mit den Achseln zucken und nicht lange mit seiner trotz des katastrophalen Ergebnisses saftigen Rechnung auf sich warten lassen.
Anthony atmete tief durch, schluckte seine Wut so gut es ging herunter und schickte ein Gebet zum Himmel: „Lieber Gott, warum tust du mir das an? Womit habe ich das verdient? Zeig dich, damit ich die Hoffnung nicht völlig verliere, irgendwann wieder auf die Beine zu kommen. Ich vertraue auf dich. Bitte verlass mich nicht!“
Das erste Mal in seinem Leben wusste er nicht mehr weiter. Anthony liebte seine Kinder abgöttisch, hatte im täglichen Leben jahrelang den Löwenanteil der Verantwortung und Arbeit auf sich genommen, und jetzt waren sie Gloria zugesprochen worden, obwohl die beiden dem Gericht erklärt hatten, dass sie lieber beim Vater wohnen wollten. Aber was zählte schon ein in einer Männer-WG lebender, voll berufstätiger Vater im Vergleich zur Hausfrau und Mutter, die den Kindern die gewohnte Umgebung in einem schönen Heim am Rande des Stadtteils Queens bieten konnte. Gloria hatte mächtig auf die Tränendrüsen gedrückt und erklärt, es würde ihr das Mutterherz zerreißen, sollten ihr die Kinder weggenommen werden. Und so war das Urteil für Außenstehende nicht überraschend. Nur ihn kostete es unerträgliche Schmerzen und die finanzielle Sicherheit, die er sich über viele Jahre erarbeitet hatte.
Anthony hatte in seinem Leben schon manche Hürde genommen. Er hatte sich sogar immer als Glückskind gewähnt, das nichts umhaute, selbst als Julian mit einer schweren Krankheit geboren wurde. Aber nun war seine Ehe den Bach runtergegangen und mit ihr die Familie, die er sich schon als junger Mensch so sehr gewünscht hatte. Er hatte nichts dagegen tun können.
Anfang der fünfziger Jahre war er in Montego Bay, einer schönen Küstenstadt im Norden Jamaikas, geboren worden als jüngster Spross einer siebenköpfigen Familie, in der es ihm an Aufmerksamkeit nicht mangelte. Er hatte neben seiner Mutter drei ältere Schwestern, die ihn um die Wette verwöhnten. Er dankte es ihnen mit ausgedehnten Schmusereien und einem sonnigen Gemüt. Ansonsten war er ein echter Junge, der nichts mehr liebte, als draußen mit seinen Freunden zu toben, stundenlang am Strand zu spielen und sich bei Bedarf an den unzähligen exotischen Früchten zu laben, die überall auf der Insel zu finden waren.
Von Ausbeutung und Rassismus hatten die Kinder noch nie gehört. Hautfarbe war schlicht kein diskriminierendes Merkmal. Es gab sie in allen Schattierungen von tief schwarz bis bleich und mit Sommersprossen übersät, ein Überbleibsel der britischen Kolonialzeit. Die Mehrzahl der Menschen befand sich auf einer Skala mitten dazwischen, braun wie Melasse, Kaffee oder Karamell. Anthony fiel auf, weil er trotz seiner mittelbraunen Haut rot schimmernde Haare hatte, was ihm niemand je erklären konnte, seine Freunde allerdings dazu anstachelte, ihm freche Spitznamen zu geben. Leuchtturm, Feuerqualle und Duracell waren noch die harmlosesten.
Anthonys Vater war ein Bär von einem Mann, der sein eigenes Bauunternehmen leitete, viel arbeitete und in seiner Freizeit allen fleischlichen Genüssen zugetan war. Reichliches Essen, ein ordentlicher Whiskey und eine Zigarre hinterher zusammen mit guten Freunden, das war seine Idee von einem netten Abend. Sehr zum Verdruss seiner Frau, die über die Jahre immer religiöser wurde und sich fast täglich in der fundamentalistischen Adventistenkirche engagierte, die jede Art von Genussmitteln ablehnte.
Ein handfester Skandal entzündete sich, als bekannt wurde, dass der Vater eine Angestellte seiner Firma geschwängert hatte und seine Reue sich in Grenzen hielt. Die Mutter vergaß für eine Weile die christlichen Gebote der Nächstenliebe und des Verzeihens und hielt mit ihrer Wut nicht hinter dem Berg. Aber irgendwann verrauchte ihr Zorn und sie besann sich ihres Treueschwurs vor Gott, der ihr eine Scheidung unmöglich machte. Anthony hatte die Angelegenheit nicht großartig berührt. Er war zu jung, um die ganze Aufregung wirklich zu verstehen und sich für seinen Vater zu schämen, den er doch als seinen großen Helden verehrte.
Die Geschwister gingen alle auf eine streng-christliche Schule, wo sich für Anthony schnell ein fester Freundeskreis herausbildete, in dem er sich vollkommen aufgehoben fühlte. Ernie und Lester, Robert und Glenn waren seine wichtigsten Kumpel, die zusammen mit ihm durch dick und dünn gingen. Sie waren normale Teenager, die gern Streiche spielten, heimlich Mädchen beobachteten und ihre Sexualität vorsichtig erkundeten. Der Herrgott schaute wohlwollend von oben zu und beschützte sie vor allzu großen Dummheiten. Auch die Eltern der Jungen waren eng befreundet, so dass die Grenzen zwischen den Familien verschwammen. Jeder fühlte sich für jeden verantwortlich und eine Ohrfeige konnte aus jeder Ecke kommen, sollten die Rabauken gelegentlich übers Ziel hinausgeschossen sein.
Nach der Schulzeit wurden die Freunde zunächst in alle Winde zerstreut. Die meisten von ihnen gingen nach England oder in die USA, um dort zu studieren. Ihre Voraussetzungen waren gut, denn die Lehrer hatten ganze Arbeit geleistet. Man hatte ihnen Disziplin, ein festes Wertesystem und umfangreiches Allgemeinwissen eingetrichtert.
Anthony war stets gut in der Schule gewesen. Besonders aber hatte er sich im Sport und in der Musik hervorgetan. Er war ein begnadetes Fußballtalent, spielte in Jamaika bereits in der höchsten Jugendklasse, aber für eine internationale Entdeckung reichte es nicht. Zum Studium bewarb er sich am Baruch College in New York City in den Fächern Musik und, auf Anraten seines Vaters, Buchhaltung. Seine Freunde folgten ihm einer nach dem anderen und mit der Zeit kam die alte Clique fast vollständig an neuer Wirkungsstätte zusammen, um die Damenwelt zu erobern.
Anthony hatte die karibische Leichtigkeit im Blut. Sein wiegender Gang, sein süffisantes Lächeln und sein offener Blick taten ein Übriges. Dass er gut singen konnte und gefühlvoll Klavier spielte, war zudem ein dickes Plus. Die jungen Frauen lagen ihm zahlreich zu Füßen.
Warum er sich ausgerechnet in Gloria verliebt hatte, konnte er später nicht mehr sagen. Es war wahrscheinlich ihre physische Attraktivität, die vor allem sein Testosteron angesprochen hatte. Er erinnerte sich nicht, seinen Verstand gebraucht zu haben. Gloria war schlank und groß; er überragte sie nur um zwei egowichtige Zentimeter. Sie hatte eine glatte, karamellfarbene Haut und wunderschöne, lange, lockige Haare, die besser zu bändigen waren als seine krause Pracht, die er im wilden Afrolook zur Schau stellte. Ihre dominikanischen Wurzeln schienen ihm von der Mentalität nah genug, obwohl sie bereits in New York geboren war. Sie umgab sich mit einer geheimnisvollen Aura, in dem sie Fragen nie direkt beantwortete, sondern diverse Möglichkeiten im Raum schweben ließ. „Vielleicht“ war ihr Lieblingswort. Ihn reizte das. Er wollte ihr Inneres langsam entdecken, bis er sie wie ein offenes Buch lesen konnte.
Dazu hatte er es nie gebracht. Gloria blieb verschlossen und ließ ihn an ihrer unsichtbaren Leine zappeln. Er wollte nicht länger auf den Ausdruck ihrer Liebe warten, derer er sich sicher zu sein glaubte. Schon nach einem Jahr hielt er um ihre Hand an. Gloria zögerte, aber ihre Mutter redete ihr gut zu. Sie mochte den jungen Mann, der ihr höflich und zuvorkommend begegnete, fleißig und christlich erzogen war und sowohl den Kopf als auch das Herz auf dem rechten Fleck zu haben schien. Schließlich willigte Gloria ein und Anthony war am Ziel seiner Träume. So dachte er zumindest damals.
Die Ehe der beiden war eigentlich nie glücklich gewesen. Gloria war launisch und unsicher. Mal war sie verschmust und liebevoll, dann wieder abweisend und barsch. Anthony wusste nie, wen er zuhause antreffen würde, wenn er von der Universität heimkam. Er glaubte, dass er sie schon mit viel Geduld für sich gewinnen würde, aber er hatte sich überschätzt.
Durch eine Bekannte seiner Schwester fand er heraus, dass Gloria sich nur zwei Tage vor ihrer Hochzeit mit ihrem früheren Freund getroffen und die beiden sich leidenschaftlich geküsst hatten. Er stellte sie zur Rede, erhielt aber nur ein Schulterzucken.
„Was willst du? Das war, bevor ich mich an dich gebunden habe. Ich bin mit dir verheiratet. Ist das nicht genug?“, hatte sie ihm verächtlich an den Kopf geworfen und ohne weiteren Kommentar den Raum verlassen.
Anthony war zutiefst verletzt; er wusste nicht, woran er bei ihr war. Ein paar Wochen später teilte sie ihm mit, dass sie schwanger war. Sollte er sich freuen oder heulen? Er schob seine Bedenken erst einmal zur Seite und nahm sich vor, ihr als Vater zu beweisen, was für ein liebevoller Mensch er war und dass sie keinen besseren Mann finden könnte.
Julian war von Anfang an ein schwieriges Kind, das ein harmonischeres Umfeld gebraucht hätte. Die Inkompatibilität der jungen Eltern zeigte sich sogar in den Genen ihres Kindes. Bei dem Baby wurde nach einem halben Jahr Sichelzellenanämie festgestellt, eine Bluterkrankung die auftritt, wenn beide Eltern ein bestimmtes abnormes Gen in sich tragen. Als Folge der Erkrankung kommt es zu Durchblutungsstörungen in den Organen und damit zu Einschränkungen in der körperlichen Leistungsfähigkeit, möglicherweise auch in der Lebenserwartung.
Anthony und Gloria schafften es nicht, sich dem Thema gemeinsam zu stellen und das Beste aus der Situation zu machen. Die täglichen Sorgen, gepaart mit vielen Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten zermürbten, was es noch an gegenseitigem Wohlwollen gab. Gloria schloss zwar ihr Bachelorstudium ab und blieb bei ihrem Sohn, aber wenn Anthony abends das Haus betrat, fiel ihm ein Berg Wäsche entgegen und das Baby lag oben allein in seinem Bettchen, während Gloria sich irgendwelche hirnlosen Fernsehserien anschaute.
Nach seinem eigenen Studienabschluss fand Anthony eine erste Anstellung in einer Bank, wo er in der Buchhaltung arbeitete. Er mochte das Jonglieren mit einer Unmenge von Zahlen, die am Ende des Tages immer fein säuberlich stimmten. Die Aufgabe war für ihn als Berufsanfänger anspruchsvoll, aber nicht überfordernd. Man erwartete vollen Einsatz, war aber im Gegenzug bereit, gute Leistung auch entsprechend zu honorieren. Anthony verdiente ausreichend, um seine Familie zu ernähren und ein wenig Geld auf die Seite zu legen.
Er war nicht der Typ, so einfach vor den Auseinandersetzungen daheim wegzulaufen. Also plante er, ein Nest zu bauen, in dem genug Platz für alle war, wo sich jeder wohlfühlen konnte, wenn er nur wollte. Und gab es nicht in jeder Beziehung Konflikte? Er musste nur einen Weg finden, sie zu lösen.
Die nächsten Jahre waren dahingeflogen; es gab keine Zeit zum Nachdenken. Sie nahmen einen großen Kredit auf, bekamen einen Zuschuss von der Schwiegermutter und bauten mit sehr viel Eigenleistung Anthonys ein schönes Haus in Laurelton, einem Stadtteil von Queens unweit des Flughafens. Es war eine zunehmend begehrte Gegend, in der sich vornehmlich eine aufstrebende schwarze Mittelschicht niederließ und sich ihre Idee vom amerikanischen Traum verwirklichte. Die Häuser wurden regelmäßig gestrichen, die Gärten gepflegt und die von Platanen gesäumten Straßen wöchentlich gekehrt. Man organisierte regelmäßige Nachbarschaftswachdienste, damit Kinder und Senioren sich auf den öffentlichen Plätzen sicher fühlten.
Gloria hielt sich aus diesem Geschehen möglichst fern, verbrachte ihre Zeit lieber drinnen vor dem Fernseher. Die Außenkontakte überließ sie Anthony, der zugänglich und hilfsbereit war und dafür sorgte, dass Julian auch mal die Sonne zu sehen bekam, auch wenn er nicht so wild wie die anderen Kinder auf dem Spielplatz toben konnte. Samstags nahm er ihn mit zur Kirche, in der er inzwischen das Musikprogramm leitete, was ihm etwas von der Freude zurückgab, die er zuhause vermisste.
Beruflich machte Anthony gute Fortschritte, wenn auch nicht so schnell wie manche seiner hellhäutigen Kollegen, die weniger qualifiziert waren als er. Er war clever und mit einem guten Gespür für zwischenmenschliche Untertöne ausgestattet, so dass er die vielen Minen im kollegialen Umfeld geschickt umging. Seine Manager wollte er durch Leistungsbereitschaft und nicht-konfrontatives Verhalten von sich überzeugen. Oft behielt er seine Meinung für sich; er biss sich einige Male auf die Zunge, um nicht den Mund an der falschen Stelle aufzumachen. Damit erwarb er sich den Ruf eines unkomplizierten, fleißigen Arbeiters, auf den man sich verlassen konnte. Weitergehende Ambitionen gestand man ihm allerdings nicht zu. Er erhielt regelmäßige Gehaltserhöhungen, aber eine Beförderung in eine Führungsposition bot man ihm nicht an.
Schließlich griff er zu, als ihm auf Initiative eines Studienkolleges ein Broker an der Wall Street eine Stelle als Geldhändler anbot. Ein Teil seines Einkommens war zwar fortan erfolgsabhängig, aber selbst in mittelmäßigen Jahren erwirtschaftete er so viel Kommissionen, dass ein erkleckliches Sümmchen für ihn dabei heraussprang. Zudem konnte er seinen Arbeitsablauf frei gestalten, so wie er es für richtig hielt. Den ganzen Tag war er am Telefon und baute erfolgreich langfristige Kundenbeziehungen auf, eine komplette Männerdomäne auf beiden Seiten der Leitung. Er kannte die Vorlieben und Familienverhältnisse all seiner Klienten, wusste wer wie viele Kinder hatte, sprach mit ihnen über ihre Hobbies und Nöte und hörte zu, wenn sie mit ihren angeblichen sexuellen Eroberungen prahlten. Er gab ihnen das Gefühl, wichtig und interessant zu sein. Sie dankten es ihm mit entsprechenden Umsätzen.
Zuhause stiegen mit seinem Einkommen die Ansprüche. Gloria kaufte, was immer ihr in den Sinn kam und bezahlte mit seiner Kreditkarte. Auch die Gesundheitskosten für Julian rissen jeden Monat ein großes Loch in die Kasse. Egal wie viel Geld er heimbrachte, es schien nie zu reichen. Es begann die übliche Schuldenspirale, als die Zinsen der Kreditkarte die mögliche monatliche Rate überstiegen. Die Schuldensumme wuchs und wuchs. Es gab oft Streit deswegen und Gloria bestrafte ihn jedes Mal mit Sexentzug.
Es musste passiert sein, als Glorias Mutter einmal großzügig die gesamte ausstehende Kreditsumme beglich, nachdem ihre Tochter sie stundenlang mit psychologischer Kriegsführung bearbeitet hatte. Als Anthony abends die Tür aufmachte, kam Gloria ihm mit einem Weinglas in der Hand entgegen, ein wenig beschwipst und in bester Laune.
„Na, mein Schatz. Ich habe alles für dich geregelt. Wir sind schuldenfrei.“, strahlte sie ihn an und drehte sich verführerisch um ihre eigene Achse.
Sie küsste ihn auf den Mund und zog ihn an der Krawatte ins Schlafzimmer. Solche Gelegenheiten bekam er nicht häufig und willigte nur zu gern ein, seiner aufgestauten Lust freien Lauf zu lassen. Ein denkwürdiger Abend mit Folgen. Er hatte im Rausch der Gefühle auf Verhütung verzichtet und so trat Marie neun Monate später in sein Leben.
Anthony hatte gehofft, dass ein weiteres, gesundes Kind Glorias Zufriedenheit steigern und seine Ehe irgendwie kitten würde. Aber nichts dergleichen geschah. Frühzeitige Tests während der Schwangerschaft schlossen zwar das Risiko einer weiteren Sichelzellenanämie aus, aber Gloria war trotzdem nicht glücklich. Sie wollte arbeiten gehen und sah sich durch das neue Kind daran gehindert. Den Schuldigen hatte sie sofort ausgemacht, ihren sexgeilen Mann, der sich vergessen hatte.
Damit das nicht noch einmal passierte, ließ sie sich gehen. Sie aß zu viel, trank zu viel und vertrödelte die Tage vor der Flimmerkiste. Ihre einstige Schönheit litt, ihre Kleidergröße wuchs in wenigen Jahren von 38 auf 46. Anthony musste sich endgültig eingestehen, dass sie nur ihren Nachwuchs, aber keine gemeinsamen Werte hatten. Er wollte sich und den Kindern den täglichen Krieg vor ihren Augen ersparen und zog schließlich in ein gemietetes Haus in der Nähe, nicht ohne den Kleinen zu versichern, dass er stets für sie da sein würde.
Gloria hatte offensichtlich auf dieses Signal gewartet oder sie war von einem Anwalt gut beraten worden. Sie wechselte die Schlösser zu ihrem Haus, machte eine Diät und verwandelte sich nach und nach zurück in die Schönheit, die Anthony einst geheiratet hatte. Ob ein neuer Mann ihrer Transformation Auftrieb gegeben hatte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Nachweisen konnte er es jedenfalls nicht. Wann immer es ihr in den Kram passte, rief sie an, damit er die Kinder holte. Er nahm jede Gelegenheit wahr. Ansonsten gab es kaum weitere Kommunikation.
Jetzt, drei Jahre nach der Trennung von Familie und Haus stand er vor dem Scherbenhaufen, den er sich zum großen Teil selbst eingebrockt hatte. Er hatte auf niemanden hören wollen, der ihn gewarnt hatte, erst vor der Heirat mit dieser Frau, dann vor der freiwilligen Aufgabe alles dessen, was ihm lieb und teuer war.
Die Kinder hatten sehr unter der neuen Situation gelitten. Julians Krankheit war weiter fortgeschritten, er hatte Nieren- und Lungenprobleme bekommen. Er war jetzt vierzehn Jahre alt und äußerst frustriert, hatte kein psychisches Reservoir, aus dem er schöpfen konnte. Er reagierte meist aggressiv und fordernd, ließ seine Wut an allen aus, besonders aber am Vater, der ihn verlassen hatte. Trotzdem wollte er lieber bei ihm leben als bei der Mutter, die ihre Kälte ihm gegenüber nie ablegte. Marie war eher zurückhaltend, sie versuchte sich unsichtbar zu machen. Ihren Vater liebte die Achtjährige über alles, er war ihr Held, der ihre Welt heile machen konnte, wenn sie nur bei ihm leben dürfte. Aber das war ja nun vorerst ausgeschlossen.
Das Telefon im Flur klingelte. Es war sein Kumpel Glenn, der vor Glück fast platzte. Er hatte gerade erfahren, dass er in ein paar Monaten die sehr erfolgreiche Arztpraxis seines Onkels in Jamaika übernehmen konnte und als erster US-ausgebildeter Radiologe moderne Medizindiagnostik in seine geliebte Heimat bringen würde.
Anthony gratulierte seinem Freund. Er freute sich wirklich für ihn, konnte es aber am heutigen Tag nicht mit dem gebührenden Elan ausdrücken. Glenn bemerkte die Traurigkeit in seiner Stimme.
„Hey, was ist los, Leuchtturm. Stimmt was nicht?“, fragte er besorgt.
Anthony erzählte ihm von dem Brief des Familiengerichts.
Glenn seufzte.
„Ich hab‘s dir prophezeit. Die Alte ist skrupellos. Sei froh, dass du sie los bist. Kopf hoch! Jetzt beginnt ein neues Leben für dich. Wie wäre es, wenn wir unseren Neuanfang gemeinsam feiern? Im September habe ich eine Reise nach Mallorca gebucht, für eine ganze Woche. Ich habe noch ein Bettchen frei in meinem Zimmer und den Flug kann ich dir auch bezahlen, ich bin ja jetzt bald reich!“
„Danke. Ich werde darüber nachdenken. Jetzt muss ich erst einmal den heutigen Schock verkraften. Bis bald.“, sagte Anthony und ließ den Hörer kraftlos auf die Gabel fallen.