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Vom namenlosen Gott

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Unser Herr sprach: »Frau, die Zeit wird kommen und ist schon jetzt, wo die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten, und solche suchet der Vater.«

Nun achtet auf das erste Wörtlein, wo er spricht: »Die Zeit wird kommen und ist schon jetzt.« Wer da den Vater anbeten will, der muss sich in die Ewigkeit versetzen mit seinem Begehren und mit seiner Zuversicht. Es gibt einen obersten Teil der Seele, der steht über der Zeit und weiß nichts von der Zeit noch vom Leibe. Alles, was je geschah vor tausend Jahren, der Tag, der vor tau­send Jahren war, der ist in der Ewigkeit nicht ferner als diese Stunde, wo ich jetzt stehe, und der Tag, der nach tausend Jahren kommen wird oder soweit du zählen kannst, der ist in der Ewigkeit nicht ferner als diese Stunde, worin ich jetzt stehe.

Nun spricht er: »Die beten an den Vater.« Ach, wie viele gibt es, die beten die Kreaturen an und kümmern sich darum, und das sind gar törichte Leute. Sobald du Gott anbetest um der Kreatur willen, so bit­test du um deinen eigenen Schaden, denn sobald die Kreatur Kreatur ist, trägt sie Bit­terkeit und Schaden und Übel und Unge­mach in sich. Und darum geschieht den Leuten ganz Recht, die Ungemach und Bit­terkeit davon haben. Warum? Sie haben darum gebeten.

Alle Dinge, die in der Zeit sind, haben ein Warum. Wie der, der einen Menschen fragte: »Warum issest du?« »Damit ich Kraft habe.« »Warum schläfst du?« »Aus demselben Grunde.« Und so sind alle Din­ge, die in der Zeit sind. Aber wer einen gu­ten Menschen fragte: »Warum liebst du Gott?« »Ich weiß nicht, um Gottes willen.« »Warum liebst du die Wahrheit?« »Um der Wahrheit willen.« »Warum liebst du die Gerechtigkeit?« »Um der Gerechtigkeit wil­len.« »Warum liebst du die Güte?« »Um der

Güte willen.« »Warum lebst du?« »Wahr­lich, ich weiß nicht! Ich lebe gerne.«

Die Meister sagen, die Seele habe zwei Gesichter, und das obere Gesicht schauet al­lezeit Gott, und das niedere Gesicht blickt etwas herab und das berichtet die Sinne, und das oberste Gesicht ist das oberste der Seele, das steht in der Ewigkeit und hat nichts mit der Zeit zu schaffen und weiß nichts von der Zeit und vom Leibe. Und ich habe manchmal gesagt, dass darin etwas verborgen liege wie ein Ursprung alles Gu­ten und wie ein leuchtendes Licht, das alle­zeit leuchtet, und wie ein brennender Brand, der allezeit brennt [und der Brand ist nichts anderes als der heilige Geist].

Die Meister sagen, aus dem obersten Teil der Seele fließen zwei Kräfte. Die eine heißt Wille, die andere Vernunft, und die Voll­kommenheit der Kräfte liegt in der obersten Kraft, die da Vernunft heißt. Die kann nim­mer ruhen. Sie will nicht Gott, wie er der heilige Geist ist und wie er der Sohn ist, und fliehet den Sohn. Sie will auch nicht Gott, wie er Gott ist. Warum? Da hat er Na­men; und wären tausend Götter, sie bricht sich immer mehr Bahn, sie will ihn da, wo er keine Namen hat: Sie will etwas Edleres, etwas Besseres als Gott, wie er Namen hat. Was will sie denn? Sie weiß nicht. Sie will ihn, wie er Vater ist. Sie will ihn, wie er ein Grund ist, aus dem Güte entspringt; sie will ihn, wie er ein Kern ist, aus dem Güte fließt; sie will ihn, wie er eine Wurzel ist, eine Ader, in der Güte entspringt, und da ist er allein Vater.

Nun spricht unser Herr: »Es erkennt nie­mand den Vater als der Sohn und den Sohn niemand als der Vater.« In Wahrheit, wenn wir den Vater erkennen wollen, so müssen wir Sohn sein. Ich habe einmal drei böse Wörtlein gesprochen, die mögt ihr als drei böse Gewürze aufnehmen, auf die ihr trin­ken müsst. Zum Ersten: Wollen wir Sohn sein, so müssen wir einen Vater haben. Denn des Sohnes Leben hängt an dem Va­ter, und des Vaters Leben hängt an dem Sohn, und darum kann niemand sagen: Ich bin Sohn, wenn er keinen Vater hat, und der Mensch ist in Wahrheit Sohn, der da alle seine Werke aus Liebe wirkt. - Das Zweite, was den Menschen allermeist zum Sohn macht, das ist Gleichmut. Ist er krank, so sei er ebenso gern krank wie gesund, gesund wie krank. Stirbt ihm ein Freund - in Gottes Namen; wird ihm ein Auge ausgeschlagen - in Gottes Namen. - Das Dritte, was ein Sohn haben soll, das ist, dass er sein Antlitz nach nichts mehr wendet als nur nach dem Vater. O wie edel ist die Kraft, die da über der Zeit steht und die da ohne Raum steht! Denn damit, dass sie über der Zeit steht, hat sie alle Zeit in sich geschlossen und ist alle Zeit, und wie wenig einer auch von dem hätte, was über der Zeit steht, der wäre gar bald reich geworden, denn was jenseits des Meeres ist, ist der Kraft nicht ferner, als was jetzt gegenwärtig ist. Und von denen spricht er: »Solche suchet der Vater.«

Seht, so liebkost uns Gott, so fleht uns Gott an, und Gott kann nicht warten, bis sich die Seele geschmückt und von der Kreatur zornig entfernt hat; und es ist eine sichere und eine notwendige Wahrheit, dass es Gott so Not tut, uns zu suchen, als ob all seine Gottheit daran hänge, wie es auch der Fall ist. Und Gott kann unser so wenig entbehren wie wir seiner, und könn­te es auch sein, dass wir uns von Gott ab­wenden könnten, so könnte sich doch Gott nimmer von uns abwenden. Ich sage, ich will Gott nicht bitten, dass er mir gebe, ich will ihn auch nicht loben für das, was er mir gegeben hat, sondern ich will ihn bit­ten, dass er mich würdig mache zu empfan­gen, und will ihn loben, dass er die Natur und das Wesen hat, dass er geben muss. Wer das Gott nehmen wollte, der nähme ihm sein eigenes Wesen und sein eigenes Leben. Dass wir so in Wahrheit Sohn wer­den, dazu verhelfe uns die Wahrheit, von der ich gesprochen habe. Amen.

Meister Eckhart - Predigten

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