Читать книгу Mitternachtswende - Melanie Ruschmeyer - Страница 4

Carla

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Der Spiegel war ihr irgendwie noch immer zu klein. Er konnte nicht groß genug sein; fasste sie nur teilweise. Carla betrachtete sich in ihm und wusste eigentlich ganz genau, dass sie diesem Gegenstand schon zu lange verfallen war. Viel zu oft nahm er ihre Zeit in Anspruch.

Verhöhnte sie!

Verspottete sie!

Zeigte ihr etwas, wonach sie sich stets so sehr gesehnt hatte und dennoch nicht wollte. Gedankenverloren drehte sie das Gesicht nach links und rechts, fasste an ihre Wangen, zog die Kochen mit ihren Fingerspitzen nach und legte den Kopf schief. Ihre blonden Haare fielen auf eine Seite und sie sah sich einer standhaften Frage gegenüber gestellt: War das wirklich sie?

Die schwarzen Handschuhe über ihrer Haut wirkten wie ein Gefängnis. Sie strich über die Seide, als sei sie lebendig. Die Berührung fühlte sich stumpf an. Lediglich aus Respekt vor ihrer Kraft steckte sie ihre Hand Tag für Tag in diesen Stoff. Er engte sie ein; verwehrte ihr das vollendete Gefühl der Berührung.

In den letzten Wochen hatte sich viel getan. Ihr war eine Welt offenbart worden, die sie nur durch andere Augen hatte sehen dürfen. Tasten, hören, riechen, schmecken; einfach alles war so real, wie nie zuvor. Dennoch wusste sie tief in ihrem Inneren, das es ein Verrat war. Ein Verrat, für den eine andere Seele teuer bezahlen musste. Doch dieses Wissen wies sie von sich. Klopfte es ab wie lästigen Staub, der sich auf die Kleidung legte.

Langsam und bedacht seufzte sie. Der Genuss des Ein- und Ausatmens war so wirklich; so intensiv.

Dieses Zimmer hatte sich verändert; hatte sein eigentliches Sein verloren. Einst das von Sarah und Alexander, spießig und gewöhnlich, hatte sie sich hier nun eine Oase geschaffen. Zwar klebte noch immer dieses seltsame Grün an den Wänden, was sie unwiderruflich an diesen widerlichen Halbwerwolf erinnerte, aber etliche Gegenstände hatten weichen müssen.

Nun zierte ein riesengroßer Schrank, der nur so vor Kleidungsstücken trotze und ein Spiegel mit Tisch und Stuhl davor, auf dem sie Platz genommen hatte, den Raum. Für den Rundbalkon hatte sie sich eine sehr bequeme Sonnenliege besorgt, auf der sie oftmals den gesamten Tag vertrödelte.

Vor ihr türmten sich Tuben, Pasten und Dosen. Lidschatten in allen Farben stapelten sich auf der Seite und Carla griff nach dem Mascara, der daneben lag. Unnötig zog sie ihre langen Wimpern nach und glaubte sie so noch um einiges verlängern zu können.

Während sie sich inständig betrachtete und nach dem schwarzen Lidschatten tastete, dachte sie nach.

Carla hatte es nicht leicht in der Familie Davenport. Ihre Art wurde nicht wirklich geschätzt. Gut, sie war ungestüm, wild und manchmal auch etwas zickig, aber war dies ein Grund ihr aus dem Wege zu gehen?

Gleich nachdem sie den ersten Streit mit Josy im Hubschrauber auf dem Weg nach Hong Kong hinter sich gebracht hatte und auch die anderen sie eher mit Unverständnis gemustert hatten, ging ihre Auseinandersetzung hier zu Hause weiter. Eigentlich hatten die Vampirwölfe sie begrüßen wollen. Hatten sie gedacht es wäre Sarah, wurden sie schwer enttäuscht. Plötzlich hatten sie Carla angeknurrt und ihr war nichts besseres eingefallen, als zu sagen: ››Elendes Pack! Entweder ein edler, reinrassiger Vampir, oder ein stinkender, dummer Werwolf. Ein Zwischending wird nicht akzeptiert! Ich hab´ genug davon!‹‹ Demonstrativ hatte sie nach ihnen getreten. Auch wenn sie nur die Luft getreten hatte, reichte diese Geste aus, Josy zum explodieren zu bringen. Waren doch diese Tiere ihre Schützlinge und keiner durfte sie so behandeln.

Sie schüttelte sich bei der Erinnerung. Ein eisiger Schauer, der ihr über den Rücken lief und ihr wieder einmal aufs neue bewies, wie widerlich sie diese Viecher fand.

Seit diesem Tag glaubte Carla hier nicht willkommen zu sein und ging ihren eigenen Weg. Ständig war sie an die Personen dieses Hauses angeeckt. Warum wollte nur keiner ihre Beweggründe hören, oder einfach mal auf sie eingehen?

Selbst ihre Aussage von damals, dass sie nicht Sarah sondern Carla war, wollte niemand so recht wahrhaben. Josy hatte ihr mehrere Male eindringlich zu verstehen gegeben, dass sie dieses Spiel sein lassen sollte. Es hälfe sowieso nicht so zu tun, als sei man ein andere Vampir geworden, um den Schmerz seines Seelenbissverlustes zu unterdrücken. Sollten doch alle dies denken.

Wut. Mehr empfand sie bei diesem Gedanken nicht. Blanke, brachiale Wut.

Weit lehnte sie sich zurück und kippelte mit dem Stuhl. Was sie im Spiegel sah gefiel ihr. Die roten Katzenaugen waren umspielt von tiefer Schwärze und brachten sie erst richtig zur Geltung. Schade nur, dass sie dies unter einer dunklen Sonnenbrille verstecken musste. Diese Tatsache war sie unendlich leid!

Als sie sich so zurücklehnte und ihr Blick durch das Zimmer schweifte, blieb er beim großen Schrank kleben. Carla wusste, was sich dort drinnen befand. Allerhand von Ausbeutungen der letzten Wochen. Sie hatte Alexanders Kreditkarte zum Glühen gebracht. In San Francisco hatte sie die teuersten Budiken besucht und sein Konto bluten lassen. Geschah ihm ganz recht!

Wie konnte man nur ein Halbwesen lieben? Carla verstand das nicht. Zugegeben, er sah ganz ansehnlich aus, aber für sie war er ein Werwolf. Schließlich war sein Vater ein Held der Wölfe, wie könnte da ihre Abneigung falsch sein? Sein Vater musste tausende von ihrer Art in den endgültigen Tod geschickt haben!

Eines jedoch hatte sie trotz allem nicht gewagt. In diesem Schrank war noch etwas anderes. Etwas, was sie nicht selbst gekauft hatte. Edel. Schön. Unbeschreiblich. Aber dennoch eine Errungenschaft von ihm. Sie hatte es lediglich ein einziges Mal betrachtet; hatte es nur ein Mal berührt. Carla wusste nicht, was sie von dem Kleidungsstück halten sollte. Es war ihr ein Dorn im Auge, denn es berührte etwas in ihr. Trotzdem war es irgendwie ein Teil ihrer selbst. Sie sollte es lieben. Aber andererseits glaubte sie auch, sie müsse es hassen, denn die Angst vor diesem Gegenstand war unglaublich beständig; genauso wie der Respekt davor.

Es handelte sich um ein wunderschönes Kleid, welches Alexander für Sarah hatte anfertigen lassen. Es sollte wohl eine Überraschung werden, doch da sie zu dem Zeitpunkt der Fertigstellung in Tibet bei den Werwölfe gelebt hatte, war dies gründlich misslungen.

In diesem Augenblick regte sich etwas in ihr. Es war eine Bewegung so zaghaft und sanft, wie eine Feder. Man bemerkte sie kaum, es sei denn, man wartete jede Sekunde darauf. Carla zuckte abrupt zusammen. Ihre Augen wurden groß und ihr Herz begann wie wild zu schlagen. Todesangst klammerte sich in ihr fest und zwang sie kurzatmig nach Luft zu schnappen. Schnell fegte sie den Gedanken hinfort, wie ein Blatt, das dem Wind ausgesetzt war. Weit flog es davon und sollte nie wieder den Weg zurück finden. Blitzschnell dachte sie an andere Dinge; nutzlose, langweilige. Hielt den Atem an und verharrte in jeglicher Bewegung.

Sie wollte weiterleben, dieses Leben genießen und nicht mehr zurück ins Nichts, dass sie so lange in den Fängen gehalten hatte. Alles in ihr war messerscharf gespannt und lauerte nur auf diese Regungen, denn sie konnten ihr Ende sein. Ein unachtsamer Augenblick, ein Moment in dem sie sich nicht unter Kontrolle hatte, würde sie in die Dunkelheit zurück reißen können.

Genau aus diesem Grund verspürte sie jedes Mal in diesen Sekunden Angst. Diese war so geballt und mächtig, dass nichts auf der Welt ihr schlimmer erschien. Carla glaubte dem Tode nahe zu sein. Der Adrenalinausschuss war nur ein Anzeichen davon, dass sie sich auf Messersschneide bewegte.

Sie musste einfach alles, was ihre zweite Hälfte dazu brachte, sich zu regen, auf Abstand halten, oder sogar im Keim ersticken.

Kurze Zeit lauschte sie der Stille und ergab sich ihren sinnlosen Gedankenfetzen und Bildern hin. Erst als sie glaubte, der Moment sei an ihr vorüber gezogen, wagte sie es wieder zu atmen. Der Neugier erlegen ging sie in sich.

Tief griff sie in sich hinein, auf der Suche nach ihr, die sie so vehement von sich weisen wollte. Anfangs fand sie nichts. Weiter und weiter schwamm sie in der Schwärze ihres Unterbewusstseins. Sarah hatte sich dort ihre eigene Welt geschaffen. Ein Abgrund aus purer Dunkelheit, der nicht zu enden schien. Irgendwann nach einer fast endlosen Suche, fand sie in der Finsternis einen weiß schimmernden Schemen. So zerbrechlich wie dünnes Glas. Die Frau drückte ihre Beine an die Brust und hatte sich krampfhaft zusammengezogen. Lautlos ergab sie sich ihren Tränen, die sie sich so oft gewünscht hatte, wieder fließen lassen zu können. Die Schwärze verschlang jeglichen Ton und fast jegliches Leben schwand in ihr, wie eine Kerzenflamme im Wind. Dies war Sarahs Heimat geworden. Ein Land aus Dunkelheit und endlosen Tränen.

Carla hasste Sarah nicht, trotzdem verstand sie ihre Zuneigung für dieses Halbwesen nicht. Sie wusste auch nicht, was sie von diesem Anblick halten sollte. Mitleid? Sollte sie etwa Mitleid empfinden? Nein, im Stillen dankte sie dieser Frau.

Carla liebte ihr Leben. Auch wenn sie Sarah nicht dazu verdammt hatte, sich zu verkriechen, dankte sie ihr. Eigentlich hatte sie geglaubt, dass sie Alex noch gebraucht hätte. Er war ein Mittel zum Zweck, den sie nicht ersetzt bekommen hätte, doch nun war es anders gekommen. Das war ihr nur recht.

Mit einem Schwung befand sich der Stuhl wieder auf allen Vieren und sie stand auf. Ihr Magen begann gewaltig zu Knurren und kündigte seinen Unmut an. Es war wieder einmal Zeit den Vorrat der Davenports zu plündern.

Als sie im nächsten Augenblick durch den Flur schritt, musste sie schmunzeln. Sarah hatte zu Letzt nicht so viel Nahrung benötigt. Ständig hatte sie versucht ihre Aufnahme hinauszuzögern. Seit Carla jedoch hier eingezogen war, dezimierte sie die Vorratskammer wie kein anderer. Für sie war die Nahrung wie eine Sucht, der sie sich ohne jeglichen Kommentar hingeben konnte und wollte. Jeder Tropfen war ein Genuss, den sie selbst auskosten durfte und ihn nicht mehr aus einer anderen Perspektive beobachten musste. Vielleicht war Carla aber auch einfach nur ein besserer Vampir, denn sie akzeptierte sich als Raubtier und scheute sich nicht davor. Sie gebrauchte ihre Kräfte auch weitaus gekonnter, als Sarah es vermocht hatte; so war sie jedenfalls der Meinung. Lag es da nicht nahe, dass sie mehr Blut benötigte?

Plötzlich drangen laute Geräusche an sie heran. Leichtes Vibrieren erfasste ihre Fußsohlen und versuchten sie vergeblich zu kitzeln. Ein gewaltiges Orchester aus Schüssen, Schlägen, Geschrei und purer Gewalt erfüllte die Umgebung. Carlas Trommelfell bebte und wollte platzen; forderte sie auf zu fliehen, doch sie widerstand der süßen Versuchung. Wenn man sich auf andere Dinge konzentrierte und sich vor den Geräuschen verschloss, sie weit von sich drückte und begrub, war es kein allzu großes Hindernis mehr. Warum andere Familienmitglieder hiermit ihre Probleme hatten, war ihr nicht klar. Konnten sie sich nicht so gut beherrschen wie Carla? Sie lauschte dem Klappern der Tastatur; nahm sie in sich auf, sodass die anderen Töne dumpf im Hintergrund verschwanden. Ein Wunder, dass das Gerät seinen Schlägen stand hielt.

Marc vergewaltigte wieder einmal seinen Computer. Er war der Einzige in diesem Haus, den Carla interessant fand. Dieser Vampir hatte etwas geheimnisvolles an sich. Auch wenn er sich seinem Spiel hingab, hatte sie, durch Sarahs Augen, gesehen, wie gut er mit seinen Wurfmessern kämpfen konnte. Dass er der Nikotinsucht verfallen war, empfand sie nicht weiter als schlimm. Es war ein Laster, was zum Himmel stank, keine Frage, aber es machte ihn nur noch anziehender. Er spielte im wahrsten Sinne mit dem Feuer, was Carla sehr imponierte. Marc schien die Angst vor diesem tödlichen Element zu fehlen.

Schließlich kam sie an der Küche vorbei. Die Tür war geschlossen. Niemand brauchte diesen Raum mehr. Er war eine Fehlinvestition, denn er würde noch lange verlassen bleiben. Flora war fort. Carla wusste jedoch ihre Gefühle für diese Frau nicht einzuordnen. Für Sarah war sie ein lieber Mensch gewesen, den sie sehr geschätzt hatte. Für sie war Flora ein gewöhnlicher Mensch, nichts weiter. Wollte sie dazugehören, müsste sie ein Vampir werden. Im Nachhinein, so kam ihr der Gedanke, verstand sie nicht, warum man diese Frau nicht verwandelt hatte. Es war ihr Wunsch gewesen, warum ihn ihr verwehren? Ein Stirnrunzeln huschte über ihr Gesicht, als ihr einfiel, dass sie erst neunzehn war. Somit war das ehemalige Dienstmädchen noch nicht bereit; ihr Körper und ihr Geist waren angeblich zu schwach.

Doch Carla konnte sich nicht vorstellen, dass ein Jahr einen schlechteren Vampir aus ihr gemacht hätten. Oder etwa doch? Sie zuckte gelangweilt mit den Schulter, denn es war ihr gleich.

Direkt neben der Küchentür, befand sich eine weitere. Auf ihr war ein Display mit Ziffernblock befestigt. Hierbei handelte es sich um das Kühlsystem, dass den Innenraum temperierte. Sofort schnappte Carla nach dem eisernen Griff und öffnete die Tür. Es zischte. Ein leichter Nebel drückte sich durch den Schlitz und kündigte den enormen Temperaturunterschied an. Diese Tatsache war eine der Wenigen, die Carla als schade empfand. Wie der Nebel herausquoll und nach ihren nackten Oberarmen griff, fragte sie sich, wie sich Kälte anfühlte. Die kleinen Wasserperlen, die sich auf ihrer Haut bildeten, kitzelten sie. Der Unterschied blieb ihr jedoch verborgen.

Mit einem leisen Seufzer erstickte sie ihr Interesse daran und trat endlich ein.

Etliche Regale taten sich vor ihr auf. Normalerweise waren diese prall gefüllt mit Plastikbeuteln, heute allerdings erschien diese Kammer gähnend leer. Wieder einmal hatte jemand vergessen für Nachschub zu sorgen, oder er war noch nicht eingetroffen.

Eine der wenigen übrigen Blutkonserven schnappte Carla sich und trank die rote Flüssigkeit gierig aus. Ihr Körper lechzte förmlich danach, wie nach einer sehr langen Durststrecke geschunden. Manchmal glaubte sie, dass die Abstände zwischen ihren Mahlzeiten sich verkürzten, doch das konnte nicht sein.

Als sie mit dem leeren Behälter den Raum wieder verließ, bemerkt sie Elest. Von der Treppe aus beobachtete sie Carla. Die Schwester der Hausbesitzerin war ihr suspekt. Kurz nachdem sie sich hier eingenistet hatte, wurde sie von dieser Frau verfolgt. Sie war überall, wie eine zweite Haut, die man abstreifen wollte, es aber leider nicht vermochte.

Elests glatte, weiße Haare verrieten sie. War ihr Körper auch verdeckt, wollten ihre Haare sich nicht tarnen. Der Wind beförderte einige Strähnen über die Treppenecke in den Flur. Auch ihr Geruch war unverkennbar. Carla seufzte, denn dies ging ihr gehörig auf die Nerven. Gab es nicht einen Tag, an dem diese etwas mopsige Person ihr nicht nachspionierte? Was hatte sie, was diese Frau interessierte? Elest mit dieser Frage zu konfrontieren, dazu fehlte ihr irgendwie der Mut. Außerdem konnte sie ihr sowieso nicht antworten. Und das Celest ihr eine Antwort auf diese Frage gab, wollte sie lieber ebenfalls umgehen.

Mit voller Absicht überging sie Elest und machte sich auf zum Wohnzimmer.

Dort fand sie Josy vor. Sie hatte es sich in einem der drei Sessel gemütlich gemacht und blätterte in der Tageszeitung.

Die Sonne fiel durch die große Fensterfront in den Raum und erfüllte ihn mit angenehmer Wärme. Durch ihr Licht schimmerten die roten Strähnen von Josephine wie blutrote Flüsse.

Hinter der Glasfront befand sich das Meer. Hin und her tanzten die Wellen, die gerade sehr mächtig zu sein schienen. Möwen trillerten ein Lied und besangen das Tosen des Wassers. Durch die leicht offenstehende Verandatür drangen die Töne an Carla heran, als stände sie direkt im Sand des Strandes.

Auf der einen Seite des Wohnzimmers befanden sich das gigantische Bücherregal mit ihren teilweise sehr alten Enziklopädien, die Carla so gar nicht interessierten. Auf der anderen waren die Sessel und ein langgezogenes Sofa postiert.

Dieser Raum gehörte allen Bewohnern. Er diente für Gespräche, Zusammenkünfte und ab und an auch für Streitereien. Die Kellertür daneben stand offen und verströmte den Geruch von Kabel und Staub. Eine Kombination, die Carla die Nase rümpfen ließ.

Zu Josy gewandt sagte sie: ››Unser Vorrat geht zur Neige, wir brauchen wieder Nachschub. Hat sich schon jemand darum gekümmert?‹‹

Josy sah nicht auf; tat abwesend. Doch über die Kante des Blattes sah man genau, dass sie eine Braue hob.

››Scheint dich ja so gar nicht zu interessieren?!‹‹, schnaubte Carla verächtlich.

››Wer trinkt denn hier wie ein Loch?‹‹, sagte sie und blätterte abwesend eine Seite weiter. ››Wenn hier jemand Nachschub besorgen sollte, dann bist das wohl du.‹‹

Carla knirschte mit den Zähnen. Diese Gleichgültigkeit kitzelte ihre Verachtung wach. Was hatte diese verdammte Familie nur gegen sie? Sie bat lediglich darum, dass sich jemand darum kümmerte. War das so schwer zu verstehen?

››Und wie soll ich das anstellen?‹‹, fragte Carla genervt. Demonstrativ verdrehte sie die Augen. Der Austausch dieser wenigen Sätze genügte, um ihr gehörig auf die Nerven zu gehen. Ohne das sie es wirklich wollte, spannten sich ihre Muskeln an.

Josys Zeitung glitt auf ihre Oberschenkel herab und sie legte den Kopf schief. Voller Missachtung fielen ihre Lider halb über die roten Katzenaugen. Ihre schwarzen, gewellten Haare mit den blutroten Strähnen passten heute perfekt zu ihrem farblich gleichen Top. Carla hasste sie für ihre Kleidungsperfektion, weil sie selbst diese noch nicht bei sich entdeckt hatte.

Lässig erwiderte Josy den Blickkontakt und meinte: ››Ich hab es dir schon tausend Mal erklärt wie es funktioniert.‹‹

››Ja ja, ich weiß. In der Stadt gibt es einen Lieferanten, dem ich Bescheid geben muss.‹‹ Carla winkte und man merkte ihr prompt die Abneigung an.

››Die Nummer ist eingespeichert, du kannst also gar nichts falsch machen.‹‹ Sie deutete mit einem Nicken zum Telefon auf dem Tisch.

Carla fühlte den Zorn, der sich allmählich in ihr breit machte. Er wuchs sekundenschnell; begann zu brodeln und zu toben. So recht konnte sie es nicht erklären, warum eine einzige kurze Konversation sie derart aus dem Gleichgewicht brachte. Abwertend verschränkte sie die Arme vor der Brust und versuchte ihre Wut bei sich zu behalten. ››Kann das nicht jemand anderes machen?‹‹

Josy hatte bereits wieder die Zeitung zu sich herangezogen und tat so, als wenn sie lesen würde. ››Du bist echt so twas von faul geworden!‹‹, zischte sie. ››Von mir aus kannst du verdursten. Du kümmerst um überhaupt nichts mehr. Tu mal was, … wenigstens irgendwas! Du versauerst wie eine alte Zitrone!‹‹

››Was soll das denn schon wieder heißen?‹‹, fauchte Carla sie an und erntete einen boshaften Blick.

Die Zeitung wurde in einem Sekundenbruchteil zusammengedrückt wie weiche Butter und flog im hohen Bogen, als Papierball, auf Carla zu. Diese zuckte nach links und wich dem Geschoss geschmeidig aus. War das etwa alles, was diese Furie zu bieten hatte?

Doch ihr vermeidlicher Gesprächspartner fixierte sie böse und abfällig. Blitzschnell, sodass Carla es nicht kommen sah, war sie vor ihr. Standhaft und anklagend. ››Seitdem du wieder hier bist, schaffst du es jeden Tag aufs Neue mich zur Weißglut zu treiben! Du bist faul, wie die Sünde. Putzt nicht, hilfst uns nicht und bist dir sogar zu fein dafür, beim Lieferanten anzurufen! Wir sind hier doch nicht deine Sklaven, oder Lakaien!‹‹ Sie tippte grob und absichtlich stark mit ihrem Zeigefinger auf Carlas Brust ein. Fassungslos spürte sie das schmerzliche Hämmern ihres Fingers. Carla hatte mit einem derartigen Ausbruch nicht gerechnet. Wieso auch?! Was war so schlimm daran, dass sie den Händler nicht anrufen wollte?

Ihrer Meinung nach übertrieb diese Frau mal wieder maßlos.

››Du machst nichts weiter, als shoppen zu gehen, dich in der Sonne zu aalen und vor dem Spiegel Püppchen zu spielen! ...‹‹

››Ach, und was machst du? Du bist doch selber ein Einkaufssuchti!‹‹, unterbrach Carla ihre Ansprache und wurde prompt mit einem weiteren Tippen zum Schweigen gebracht. ››Ich?! Oh, du kleines,... fieses...‹‹

››Hey, was ist hier schon wieder los?‹‹ Li trat aus der Kellertür heraus und wischte sich die dreckigen Hände an einem Putztuch ab. Mit ihm dran ein beißender Geruch von Terpentin in das Wohnzimmer ein. Schlagartig traf er Carlas empfindliche Nase und sie musste mehrere Male tief schlucken, um den Geschmack von der Zunge zu bekommen. Ihr wurde urplötzlich schlecht davon.

Carla presste die Lippen aufeinander und blickte zwiespältig in seine Richtung. Zum einen war sie froh um diese Unterbrechung, zum anderen, hätte sie diese Auseinandersetzung gerne mit Josy ausgefochten. Sie hatte einen intensiven Drang gegen sie zu gewinnen.

Trotzdem verschlag es ihr gerade in diesem Moment den Atem, denn der Geruch war so penetrant und allgegenwärtig, als würde er sie einhüllen und nicht mehr gehen lassen. Die Galle bahnte sich einen Weg die Speiseröhre empor. Prompt hielt Carla eine Hand von den Mund.

››Mein Gott, wie zwei Streithähne in einem Stall. Werdet mal erwachsen!‹‹ Li schien es allmählich satt zu haben. Zornig flammten seine roten Augen auf.

Verärgert wandte Josy sich ihm zu. ››Willst du diese … dieses … argh! Willst du die auch noch verteidigen?!‹‹

Carla fielen die Lider halb über das Auge und sie drehte sich weg. Sollte sie sich mit ihrem Mann weiter streiten. Diese Angelegenheit ging sie nichts mehr an und es lag keinerlei Versuchung darin, ihr beizuwohnen. Leise und flink huschte sie durch die Verandatür nach draußen und entkam dem Gestank und ihrer Kontrahentin.

Der salzige Wind griff ihr in das Haar und sie atmete erleichtert aus. Die Lungen wurden frei gespült. Ihre Nasenlöcher hörten auf zu brennen.

Widerlicher Geruch, wie konnte Li ihn nur aushalten? Es war eine Sache Geräusche unter Kontrolle zu wissen, aber eine ganz andere Gerüchen auszuweichen. Sie fanden Carla überall. Egal was sie tat, davor war sie nie gefeit. Diese Gabe musste sie wohl erst noch erlernen.

Eines war sie sich jedoch sicher: Irgendjemand würde den Vorrat auffüllen, so war es immer. Schließlich war sie nicht die Einzige, die diese Flüssigkeit brauchte. Zugegeben, sie nutzte diese Tatsache schamlos aus, aber das war ihr egal.

Schnell nahm sie die wenigen Stufen zum Strand und ließ die Schaukel auf der Veranda und das große Haus hinter sich.

Die Möwen schrien ihr entgegen, während sie sich dem großen Garten zuwandte. Der Rosenbogen mit seinen weißen Blüten rief einladend nach ihr. Diese Oase hatte etwas Besonderes; etwas Lebendiges, was Carla einfach nicht beschreiben konnte. Fast so, wie eine andere Welt. Die Bäume, Sträucher und Blumen in diesem Garten schienen Gefühle zu haben. Auch wenn sie es noch nie selbst bemerkt hatte, war es ihr doch nicht entgangen. Sie zogen sich zu Celest hin. Wie die Quelle ihres Lebens bogen sie sich ab und an in ihre Richtung. Als sei sie die Sonne; ihr Licht. Alle Pflanzen buhlten um eine Berührung ihrer schlangen Händen. Die Hausherrin sprach mit ihnen, das war Carla oft aufgefallen.

Langsam ging sie auf den Bogen zu und dachte über die Vampirälteste nach. Wahrscheinlich war diese Idylle ein Zufluchtsort für sie, den sie so gestalten konnte, wie sie es sich wünschte. Diese Frau hatte viel durchgemacht, hatte ihr Augenlicht durch ihren Seelenbiss verloren und litt jeden Tag unter dem Verlust ihres Liebsten.

Carla wollte gerade durch den Rosenbogen schreiten, als die schlanke, zerbrechliche Celest ihr entgegentrat. Wie, als haben ihre Pflanzen sie vor ihr geheimgehalten, trat sie aus dem Nichts hervor.

Ihre gewellten, hellbraunen Haare wurden vom Wind erfasst und streichelten ihre Figur. Vor dieser Frau hatte Carla Angst und zugleich unglaublichen Respekt. Was hinter diesem schwarzen Tuch, welches ihre Augen verbarg, verborgen lag, das wusste sie nicht. Ein Gedanke allerdings war allgegenwärtig: Diese Frau durfte sie niemals berühren! Carla wusste um ihre Gabe, Dinge bei der Berührung zu sehen und zu fühlen, die die andere Person empfand. Und so hatte sie Angst, sich zu verraten. Dieser Vampir durfte einfach nicht erfahren, dass sie nicht die war, für die sie alle hielten!

››Und schon wieder, wenn du mich siehst, ist deine Aura mit Angst erfüllt‹‹, gab sie traurig und bedacht von sich. ››Was ist nur los mit dir?‹‹ Sie wollte ihre Wange mütterlich berühren, doch Carla entzog sich ihrer Nähe.

››Nein, so ist es nicht‹‹, versuchte sie ihr glauben zu machen und trat ein paar Schritte zurück.

Celest schien die Lüge in ihren Worten gespürt zu haben, denn sie schaute traurig drein. Während sie behutsam die Hände faltete, griff eine Ranke nach ihrer nackten Schulter. Das Kleid, welches sie trug, war so blau wie das Meer und so lang, dass es den Boden berührte. ››Ich will dich nicht bedrängen, Sarah, aber willst du mir nicht verraten, was mit dir los ist? Du bist so … anders, seitdem du zurück bist. Liegt es vielleicht an … an deinem Verlust?‹‹

Die Hausherrin war besorgt um sie, daran bestand kein Zweifel. Sie wollte ihr zuhören und sich um sie kümmern, was Carla auch sehr zu schätzen wusste. Aber dies stellte ein enormes Risiko für sie dar. Im Gegensatz zu allen anderen war sie gütig und liebevoll. Sie wusste wohl am Besten, was es hieß lange von ihrem Keith getrennt zu sein. Wollte sie sich deshalb so sehr um Carla kümmern?

Plötzlich stieg der Zorn in ihr auf. Wie heißer Dampf füllte er ihren kompletten Körper aus und griff auf ihren Verstand zu. Nein, Celest wollte nicht ihr zuhören, sondern Sarah. Keiner hier wollte sie in seiner Nähe haben. Alle wollten sie nur ihre spießige Sarah zurück.

››Ich brauche Alexander nicht. Soll er doch bei seinen Verwandten bleiben, das ist mir doch egal!‹‹, versuchte Carla energisch das Gespräch zum Erliegen zu bringen.

Celest schüttelte mit dem Kopf und tat einen Schritt auf sie zu. ››So etwas darfst du nicht sagen, das wühlt dich nur noch mehr auf. Wenn du das Schicksal akzeptierst, wird es etwas leichter. … Etwas erträglicher.‹‹

Diese Unterhaltung wurde ihr zu wider und Carla gab sich ihrer Wut hin. Schnell wie ein Blitz drehte sie sich um und rannte davon.

Der Sand unter ihren Sohlen wurde in großen Wolken aufgewirbelt und es kam ihr fast so vor, als wenn er ihre Gefühle widerspiegelte. Wie ein Sandsturm wirbelten die Körner umher.

Eigentlich hasste sie sich selbst dafür. Sie wollte nicht so sein; stets zornig. Im nächsten Moment packte sie schließlich doch die Reue für ihre gewählten Worte. So war es immer. Doch aus irgendeinem Grund konnte sie nicht anders. Alles wurde ihr in diesen Augenblicken zu viel. Es drohte aus ihr herauszuplatzen; sie zu übermannen und zu überwältigen. Auch wenn sie das Leben lieben gelernt hatte, war es dennoch schwer für sie. Einfach ungewohnt.

Sie rannte so schnell sie konnte. Das Meer drückte sich über den Sand und färbte ihn dunkel. Mit einem schnellen Sprung schnappte sie nach ihren Schuhen und zog sie aus. Sie wollte das Nass und die Sandkörner unter ihren Füßen spüren.

Ungewollt wurde sie dadurch langsamer und gab sich der Massage des Sandes hin. Die Worte von Celest hallten noch immer in ihr wider. Carla musste sich eingestehen, dass sie froh darüber war, dass der Seelenbiss sie nicht plagte. Sarah gab sich für ihn auf und so reichten seine brutalen Fangarme nicht an sie heran. So machte es jedenfalls den Anschein. Bisher blieb sie von den Wahnvorstellungen verschont und hofft auch sehr, dass es so blieb. Ihre Gefühle verfrachteten sie viel zu oft in eine Achterbahn, die sie durchschüttelte und drohte aus den Eisen zu reißen.

Zwei Tage später lag Carla im modischen Bikini auf ihrer Sonnenliege. Die helle Scheibe strahlte so intensiv, wie lange nicht mehr und wollte dem Spätherbst in einen Sommertag verwandeln. Carla seufzte erleichtert. Die Wärme durchströmte sie; überflutete jede Zelle und brachte ein Gefühl von unglaublicher Zufriedenheit mit sich. Neben sich auf dem Boden des Rundbalkons hatte sie sich bereits ein großes Weinglas mit roter Flüssigkeit bereit gestellt. Nichts sollte diese Stunden trüben; nicht einmal der Gang zum Vorratsraum. Während die Möwen ihr alltägliches Lied krähten und im Einklang mit den Vögeln aus dem nahen Wald einstimmten, streckte sie sich.

Carla hatte ihre Augen unter der Sonnenbrille geschlossen und nahm all die Ruhe in sich auf.

Alles schien perfekt an diesem Tag. Selbst ihre Mitbewohner hatte sie heute noch nicht zu Gesicht bekommen und somit waren auch kein Streit oder böse Anschuldigungen entstanden.

Doch plötzlich drohte ihre idyllische Welt gestört zu werden. In wenigen Sekunden zerbrach der wunderschöne Spiegel namens Ruhe in tausend Scherben. Ein Geruch von schwefelartiger Substanz schlängelte sich in ihre Nase und legte sich bitter auf der Zunge ab. Angewidert schüttelte Carla sich und verzog die Lippen, als habe sie in eine Zitrone gebissen. Instinktiv sandte sie ihre Schallwellen aus, um sich zu vergewissern, dass ihr nichts entgangen war.

Leise Schritte drangen an sie heran, gefolgt von wildem, ungestümen Getrampel.

Als jemand in ihr Zimmer trat, versuchte sie den Störenfried anhand des Duftes zu erkennen, doch der Gestank war so abartig, dass sie ihn nicht zuordnen konnte. Je näher die Person kam, umso schlimmer wurde er. Galle brodelte empor und Carla versuchte krampfhaft den Würgereiz hinunterzuschlucken. Die Nackenhaare richteten sich auf und ihr ganzer Körper spannte sich.

Sie wollte ihre Augen nicht öffnen; sie wünschte sich doch nur Ruhe und ein bisschen wärmende Sonne.

Dann landete etwas auf ihrem nackten Bauch. Der Gestank schien seinen Höhepunkt zu erlangen, doch sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen.

››Du hast Post!‹‹ Das musste Josys Stimme sein; ein nicht gerade reizvoller Gast.

Carlas Augen öffneten sich. Sie schob die Sonnenbrille auf der Nase nach vorne und linste über den Rand.

Der Absender des Briefes war ihr nur zu gut bekannt. Daher rührte also dieser schlimme Gestank. Wann würde sie endlich aufgeben? Ständig warf Carla diese Umschläge in den Müll und hatte auch nicht vor, dies zu ändern. Sie stanken zum Himmel. Nach Werwolf, Schwefel, Dreck; einfach abartig!

››Du kannst ihn gerne wieder mitnehmen‹‹, gab Carla gelangweilt von sich und machte eine eindeutige Geste, dass Josy ihr aus der Sonne gehen sollte. ››Mich interessieren die News aus Werwolftal nicht im Geringsten.‹‹

Etwas begann zu wimmern und zu fiepen. Ein Knurren und Fauchen drang an Carlas empfindliche Ohren und sie wurde allmählich zornig. Wo war ihr schöner Tag hin?

Finster schaute Josy drein und fixierte sie böswillig. ››Ich bin nicht dein Diener!... Ich hätte wissen müssen, dass es schon zu viel des Guten war, ihn dir zu bringen. Was habe ich mir nur dabei gedacht?!‹‹

Carla richtete sich auf der Liege auf und der Umschlag glitt zwischen ihre Schenkel. Grimmig zog sie die Brille aus ihrem Gesicht. ››Willst du mir jetzt schon wieder eine Szene machen? Ich wollte dir lediglich klar machen, dass ich ihn nicht haben will.‹‹

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie schnelle Bewegungen, die ihre Aufmerksamkeit erlangten. Sie drehte ihren Kopf zur Tür und glaubte ihren Augen nicht trauen zu können. Die Vampirwolfwelpen spielten in ihrem Zimmer! Wild balgten sie sich auf dem Boden, sprangen und feixten um die Wette.

Carla wusste, wie klein sie gewesen waren, als Sarah sie das letzte Mal gesehen hatte. Auch ihr war der Anblick nicht verwehrt geblieben, doch mittlerweile waren sie gewachsen. Vieles in diesem Haus war ihnen schon zum Opfer gefallen: Vasen, Gläser, Fenster, Türen, Kabel und selbst vor Carlas neusten Schuhen hatte sie keinen Halt gemacht. Vor ihren teuren Schuhen!!!

Weit beugte sie sich über die Rückenlehne ihrer Liege und schätze jegliche Bewegung der Bande ab. Als sie ihren Schminkutensilien zu nahe kamen, begannen ihre Augen zu glühen und sie schrie: ››Weg von meinen Sachen, ihr widerlichen Mistviecher!‹‹

Als ein lauter Knall die Umgebung vereinnahmte, hielten die Welpen inne, legten ihre Ohren an und fiepten erschrocken.

Josy hatte Carla eine Ohrfeige verpasst. Ihre Hand vibrierte noch in der Luft; anklagend und drohend. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie Carla mit zwei Flammenherden fixiert, die sie brennen sehen wollten.

››Das sind Welpen! Babys! Keine Mistviecher! Wage es nicht noch einmal sie so zu nennen!‹‹

Carla hielt sich die Wange. ››Und was dann?‹‹

››Du bist unausstehlich!‹‹, fauchte Josy sie wie eine Viper an und wandte sich von ihr ab. Mit lauten Stampfen und einem eindringlichen Pfiff an ihre Welpenmeute, das sie ihr folgen sollten, verließ sie das Zimmer und knallte die Tür absichtlich laut hinter sich zu.

Carla schnaubte wie ein wild gewordener Stier. Ohne Worte ließ sie sich wieder auf die Liege fallen und setzte ihre Sonnengläser wieder auf. Reflexartig griff sie nach dem Brief. Verärgertes Schnauben gurgelte durch ihre Kehle.

Viele Briefmarken klebten darauf. Das Papier hatte einen weiten Weg hinter sich.

Wie viele Umschläge waren es jetzt schon gewesen? Carla konnte es nicht mit Sicherheit sagen.

Jedes Mal aufs neue packte sie die Neugier. In diesem Umschlag verbargen sich Ereignisse, denen sie nicht beiwohnen konnte. Eine Welt, die so fern und verborgen lag. Sie interessierte sich nicht für die langweiligen Belange der Werwölfe, aber ein wenig für die des Halbwesens.

Sie war im Zwiespalt mit diesem Mann. Damals, als sie noch nicht die Oberhand über diesen Körper errungen hatte, stellte er eine wichtige Rolle dar. Obgleich sie ihn für den Wolf in ihm verabscheute, so lebensnotwendig war er für sie gewesen. Dass sich ihre Wege nun nicht mehr kreuzten, empfand sie nicht als sonderlich schlimm. Aber da sie ihn sehr gut kannte, stellte sich Carla in diesen Augenblicken oft die Frage, was er dort tat.

Sie hielt den Umschlag in die Sonne und erhaschte ein paar Worte, die durch das Licht hindurch schimmerten. Wirr und teilweise überlappend drückte sich das Geschriebene durch das Papier.

Die Regung ließ nicht lange auf sich warten. Unter ihrer Brust rührte sich etwas. Ein Gefühl, wie die Berührung eines Geistes; seltsam kalt, unbekannt und beängstigend. Sarah war in diesen Momenten nah; zu nah! Sie schien in ihren Gedanken wie in einem Buch zu lesen. All die Worte, die Carla aufschnappte, bekam auch sie zu fassen.

Nein! Carla durfte ihn nicht öffnen, auch wenn sie noch so neugierig war. Eine Unachtsamkeit ihrerseits und sie würde abermals eingesperrt sein. Gefangen in einem Körper, den sie nicht kontrollieren konnte und es nur hin und wieder durfte. Sie wollte nicht zurück ins Nichts... Wie ein Sträfling, der zu lange die Decke seiner Zelle begutachtet hatte, war es ihr zu viel geworden.

In diesem Augenblick tat Carla ihre forsche Art auch schon wieder leid. War sie wirklich so unausstehlich, wie Josy behauptet hatte? Genaugenommen, wollte sie gemocht werden. Dennoch brauchte sie diese Maske, damit ihr keiner zu nahe kam. Wie sollte sie diese zwei Bedürfnisse nur überein bekommen? Geliebt werden und trotzdem alle auf Abstand halten? Ging das überhaupt?

Schweren Herzens seufzte sie und betrachtete den Umschlag wehmütig.

So leise, dass es niemand hören konnte, flüsterte sie: ››Verzeih mir, aber ich kann das nicht.‹‹ Dann riss sie das Papier in zwei. Die Geste war leblos und ihr Kopf fühlte sich so leer dabei an, dass sie den Fehler bereits in ihren Fingerspitzen als negatives Kribbeln fühlen konnte. Wieso war das Leben so schwer für sie? Auf der einen Seite so schön, frei und schwebend leicht, auf der anderen Seite, so besorgniserregend, schwer und zornig.

Darauf musste sie erst einmal einen Schluck von ihrem Getränk nehmen. Gierig schüttete sie das Blut in einem Schwung herunter.

So viel zu einem schönen, gemütlichen Tag auf der Liege, denn dieser war nicht nur von ihren Gedanken getrübt, sondern auch von ihrem Durst und den Drang die Vorratskammer aufzusuchen...

››Hey, wir haben nichts mehr zu trinken!‹‹ Grayson ging die Treppe zum Wohnzimmer herunter und blickte sich suchend um. ››Haben wir echt gar nichts mehr im Haus?‹‹

Carla saß auf der Schaukel der Veranda und hatte nicht die Absicht sich zu dem farbigen Vampir umzudrehen. Sie war sich ihrer Schuld, mal wieder die letzte Blutkonserve genommen und nicht beim Lieferanten angerufen zu haben, bewusst. Ihre Sturheit hinderte die Blondine daran. Nach ihren Streitigkeiten mit Josy schaltete sie erst recht auf durchzug.

In den letzten drei Monaten konnte sie an nichts anderes mehr denken, als an den Verzehr von Blut. Auch wenn sie es allmählich sehr seltsam fand, nahm sie es hin.

Mit einem tiefen Atemzug saugte sie die salzhaltige Luft in sich hinein.

Von hier konnte sie dem Schauspiel gut folgen, denn die Tür stand offen. Dadurch hörte sie Li die Kellertreppe herauf eilen.

››Das ist doch jetzt wohl nicht dein ernst?!‹‹, schrie er leicht wütend. ››Ich hab sie erst vor vier Tagen komplett auffüllen lassen! Ich dreh durch!‹‹

Seine Augen bohrten sich in Carlas Rücken und sie verzog schmollend die Lippen. Ihre Schallwellen empfingen seine negativen Schwingungen und warfen sie auf sie zurück wie kleine Stromschläge.

Wutentbrannt stampfte Li auf die Veranda und hielt ihr das Telefon hin. ››Wenn du schon säufst wie ein Loch, kannst du dich wenigstens dazu herablassen, selbst Nachschub zu ordern! Ich hab es satt immer erst anzurufen, wenn es schon zu spät ist. Du hast es doch mitbekommen, oder? Es brauch seine Zeit bis er uns beliefern kann. Wir sind schließlich nicht seine einzigen Kunden.‹‹

Carla presste die Lippen aufeinander und zog das Kinn nach unten. Schmollend fixierte sie ihn und wagte nichts zu sagen.

››Lass gut sein, Li, ich mach das schon.‹‹ Celest kam den Flur entlang, gefolgt von ihrer Schwester. Es war nur ein kurzer Blick der beiden Frauen, den sie wechselten und man wusste, dass sie eine Konversation auf einer ganz anderen Ebene eingingen. Sie tauschten bloße Gedanken aus, die niemand sonst verstehen konnte.

Grayson kratzte sich am Kopf und fühlte sich zusehends fehl am Platz.

Li glaubte nicht, was er da hörte. Im Gegensatz zum farbigen Vampir macht er seiner Wut Luft. ››Wieso willst du das übernehmen?‹‹

››Sarah ist sehr zerrissen von ihren Gefühlen. Bitte sei nicht so unfreundlich zu ihr.‹‹

Elest nickte zustimmend bei der Aussage ihrer Schwester und machte eine traurige Miene. Li jedoch war fassungslos, er schnaubte und setzte immer wieder neu an, etwas zu sagen. Doch dann wurde der Ausdruck in Celests Gesicht starr und fordernd, sie duldete keine Widerworte. Demonstrativ hielt sie ihm ihre Hand hin und wartete auf das Telefon.

Der ehemalige Samurai wechselte fragend den Blick zwischen ihr, Carla und Gray. ››Es ist eine Sache, Schmerzen zu erleiden, doch dies dann arrogant und zickig an seinen Freunden auszulassen, eine ganz andere. Mir will nicht in den Sinn, warum ihr das unterstützt!?‹‹, sagte er und wandte sich dann Grayson zu, ››Komm, Gray, ich hab mich in Marcs Spielserver gehackt, lass ihn uns einmal so richtig abzocken.‹‹

Das war wie Musik in Graysons Ohren und er grinste breit. ››Das klingt ganz nach meinem Geschmack!‹‹

Das Telefon wanderte von Li zu Celest. Er drückte es ihr mit einer solchen Wucht in die Hand, dass ihr Arm die Kraft abfedern musste.

Während die beiden Männer das Wohnzimmer verließen und er Gray freundschaftlich auf die Schulter schlug, warf die Hausherrin noch, ohne sich zu ihm umzudrehen, ein: ››Wir wollen morgen Weihnachtseinkäufe erledigen. Bitte sag Josephine Bescheid.‹‹

Li linste über die Schulter und nickte nur, dann verschwand er mit Gray im Keller. Laut knallte die Tür in das Schloss.

Indessen rief Celest beim Lieferanten an und ihre Schwester trat an das Fenster hinter der Verandaschaukel. Carlas Schallwellen ertasteten ihre Anwesenheit, doch sie schämte sich zu sehr, als dass sie sich bei ihr oder ihrer Schwester bedanken konnte. Warum traute sie sich nur nicht selbst bei dem Lieferanten anzurufen? Hatte sie Angst abgewiesen zu werden, oder war es wirklich nur ihre Sturheit, wie sie oftmals glaubte? Oder war es gar ihr Stolz, der ihr im Weg stand? Oder wollte sie etwa nicht wahrhaben, dass sie ein Loch war, wie es Li so nett umschrieben hatte?

Stimmte etwas mit ihr nicht? Tranken die anderen wirklich weniger, als sie? Carla konnte sich das nicht vorstellen...

Mitternachtswende

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