Читать книгу Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 10
Juliette
ОглавлениеEndlich Wochenende. Mit einem Lächeln auf den Lippen stand Juliette auf. Normalerweise bedeuteten diese zwei Tage für sie keine Entspannung, doch seit vor zwei Tagen der neue Chef ihr Arbeitsleben auf den Kopf gestellt hatte, war alles besser, als in die Firma zu müssen.
Sie schlüpfte in die Hausschuhe und schaute bei ihrer Mutter im Zimmer nach, ob diese auch schon wach war. Sie schlief noch und ihr Gesicht hatte eine ungesunde Farbe angenommen. Sanft strich sie ihrer Mom eine Strähne ihres grauen Haares aus dem Gesicht und wandte sich dann um.
Solange sie noch schlief, hatte Jules Zeit zu duschen und anzuziehen, danach brauchte ihre Mutter ihre ganze Aufmerksamkeit.
Zwei Stunden später hatte sie Paige gefüttert und sie befanden sich auf den Weg in den nahegelegenen Park. Jedes gute Wetter nutzte sie aus, um ihre Mom an die frische Luft zu bekommen. An einem kleinen Teich, wo die Enten ihnen schon entgegengewatschelt kamen, hielte sie an.
»Schau mal, Mom. Die erkennen uns mittlerweile«, lachte Jules, als die Tiere ihnen hungrig folgten.
Sie stellte den Rollstuhl neben die Bank, auf der sie auch bald ein Namensschild anbringen konnte, so oft kamen sie her.
»Möchtest du sie füttern?»
»Mach du, mein Kind«, erklang es schleppend von ihrer Mutter.
Verdammt. Jules Blick wurde traurig, doch sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie sich große Sorgen um ihre Mutter machte. Sie kramte das alte Brot hervor und warf es den Tieren vor die Füße. Laut schnatternd fielen diese darüber her.
»Weißt du, heute wäre eigentlich die Charity-Veranstaltung«, begann sie dann zu erzählen. »Ich hatte dieser Stiftung deinen Fall geschildert, leider wurden wir nicht ausgewählt. Es tut mir leid, Mom.«
»Das macht nichts, Kind, mir geht es gut.« Ihre Mutter war körperlich sehr eingeschränkt und auch das Sprechen fiel ihr schwer. Aber Hören und Verstehen funktionierte noch prima. Daher erzählte ihr Jules auch viel, erwartete aber kaum Antworten.
»Vielleicht klappt es doch noch. Donnerstag ist Mr. White aus der Firma ausgeschieden. Es war so rührend. Ich werde ihn und seine Frau wirklich vermissen. Die beiden sind erst einmal auf eine Schiffsreise gegangen und genießen den Ruhestand. Aber ich bin sicher, danach werden sie uns besuchen kommen.«
Jules riss ein Stück Brot ab und warf es zu einer kleineren Ente, die es direkt im Flug fing und herunterschlang.
»Und dann habe ich meinen neuen Chef kennengelernt.« Sie seufzte laut.
»Was ist mit ihm?«
Sie konnte ihrer Mutter nichts vormachen. »Er ist schrecklich. Arrogant, herrisch und verhält sich teilweise wie ein Tyrann. Und gerade dann mache ich viele Fehler und er wird sauer.« Sie sah auf ihre Finger herunter, die das Brot hielten. »Er ist ein Arschloch, Mom«, brach es dann aus ihr heraus.
»Kind, habe ich dir so ein Benehmen beigebracht? Was habe ich immer gesagt?«, fragte ihre Mutter leise nach.
»Jeder hat eine Chance verdient.«
»Das auch. Aber es hat einen Grund, warum er so ist, wie er ist«, begann sie schwerfällig zu reden. »Wer so auf andere wirkt, hat nicht nur am Rande des Abgrundes gestanden, sondern war auch dort unten.« Schleppend waren die Worte herausgekommen und doch hatte ihre Mutter voller Inbrunst gesprochen.
»Ich weiß nicht«, murmelte Jules und warf das letzte Stückchen den Enten zu.
Gegen Mittag gingen sie wieder nach Hause, denn seit ihre Mutter so stark abgebaut hatte, brauchte diese ihren Mittagsschlaf noch dringender als vorher. Das war die Zeit am Wochenende, wo sie in Ruhe ein Buch lesen konnte. Heute hatte sie sich allerdings die Post vorgenommen, und als sie die vielen Rechnungen sah, hätte sie diese am liebsten verbrannt. Der laufende Kredit und die anfallenden Kosten fraßen sie langsam aber sicher auf und sie wusste nicht, wie lange sie das noch schaffen konnte.
Aber es gab keine Alternative. Sie hatte überlegt, am Wochenende einen zweiten Job anzunehmen, doch sie wusste nicht wohin mit ihrer Mutter. Ihre Freundin, die diese zwar betreuen würde, kostete Geld und wollte sicher nicht jedes Wochenende aufpassen. Eine richtige Pflegekraft konnte sich Jules dagegen nicht leisten.
Sie hatte gerade die Hälfte der Rechnungen online überwiesen, als keine weitere Überweisung mehr zugelassen wurde.
»Verdammter Mist!«, fluchte sie und Tränen der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen. Die restlichen noch zu begleichenden Ausstände, die sie in der Hand hielt, knüllte sie zusammen und warf sie laut schluchzend einfach weg. Die nächsten Mahnungen würden schon kommen, heute aber war es ihr einfach nur egal.
***
Wo sich sonst das Wochenende dahinzog, flog es diesmal nur an ihr vorbei. Montag früh saß sie in der U-Bahn und ihr war richtig schlecht. Wie würde die neue Woche laufen? War ihr Chef immer noch so mies drauf, oder würde es besser werden?
Im Aufzug nach oben traf sie auf Francoise und Jules konnte sich gerade noch ein »Guten Morgen« abringen, bevor diese auch schon loslegte.
»Du hast am Samstag wirklich was verpasst, Sweety. Die Veranstaltung war der Wahnsinn. So viele reiche Leute und dann Annabell Thompson, wie sie aus ihrem Rollstuhl aufgestanden ist und die Ansprache hielt. Ich bin ja sonst nicht so sentimental, aber es war wundervoll. Und dann gab es sogar noch eine Schlägerei zwischen ihrem neuen und alten Pfleger, die ganzen Menschen waren im Aufruhr«, plapperte sie drauf los und übertrieb sicherlich maßlos. »Letztendlich nahm Ms. Thompson aber den Antrag von ihrem früheren Pfleger an. Hach, war das schön. Und erst dein Chef, dieser Mann.«
Jules wandte sich mit fragendem Blick an Francoise. »Was ist mit ihm?«
»Heilige Scheiße, sah der gut aus. Da wurde mein Höschen ganz feucht.«
Jules schüttelte den Kopf, denn diese Bilder wollte sie auf keinen Fall weiter vor Augen haben.
»Aber die Frau an seiner Seite hat alles ausgestochen. Wow, was eine Schönheit. Muss ich ja schon zugeben. Nicht so eine billige Schlampe. Die hatte richtig Stil. Aber war zu erwarten, dass dieser geile Mann so eine Frau an seiner Seite hat.«
Zum Glück öffneten sich die Türen des Aufzuges zum Stockwerk, in dem Francoise arbeitete und Jules blieben weitere Bekundungen erspart.
In ihrem Stockwerk eilte sie zu ihrem Büro und schloss auf. Sie war noch vor Patrick St. Claire hier, so konnte sie ihm den Kaffee und alles für den Tag vorbereiten, wenn er eintraf. Wenn er so eine tolle Frau hatte, dann hatte er sicher ein super Wochenende gehabt und würde nicht so früh hier eintreffen.
Wobei sie sich eingestehen musste, dass es sie erstaunte, dass er überhaupt eine Frau hatte. Aber anscheinend war er privat ganz anders als zu ihr. Nur so konnte sie sich die Frau an seiner Seite erklären.
Sie bereitete die Unterlagen für den Tag vor, währenddessen lief der Kaffee durch. Als die Bürotür geöffnet wurde und ihr Chef hereinkam, sprang sie sofort auf. »Guten Morgen, Mr. St. Claire. Ich bringe Ihnen sofort den Kaffee.«
Ein kurzes »Guten Morgen« erklang, und er rauschte in sein Büro, ließ aber die Zwischentür offen. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie er sein Jackett auszog und die Ärmel seines Hemdes ein Stück hochkrempelte. Schöne Hände hatte er ja.
Kanne, Tasse, Milch und Zucker stellte sie auf das Tablett, klemmte sich die Mappe unter den Arm und trat an den Beistelltisch. Ohne, dass auch nur das leiseste Klirren zu hören war, stellte sie das Tablett ab, machte ihm seinen Kaffee fertig und drehte sich dann zu ihm herum.
Hatte er sie die ganze Zeit angestarrt? Verunsichert trat sie an den Schreibtisch und reichte ihm die Tasse weiter. Um sich nichts anmerken zu lassen, setzte sie sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, schlug die Mappe auf und begann ihm die Tagesplanung vorzulesen. »Der Vorstand bittet Sie um zehn Uhr zu einem ersten Treffen. Die Herren waren nicht sehr erbaut darüber, dass sie Freitag erst die Kunden vorgezogen haben, anstatt sich mit Ihnen zu treffen.«
»Kein Wunder, dass die Firma so schlecht läuft, wenn erwartet wird, dass man erst einmal dem hiesigen Vorstand in den Arsch kriecht, anstatt sich um das wichtige zu kümmern; die Kunden der Thompson Holding.«
»Mit den Worten habe ich das nicht weitergegeben, aber ich hatte den Eindruck, dass Ihnen die Kunden auf jeden Fall wichtiger sind. Entsprechend habe ich das vorhin bei deren Anfrage angemerkt.« Sie hielt inne. »Ich hoffe, das war so in Ordnung Mr. St. Claire. Mr. White vertrat diese Ansicht ebenfalls.« Sie wurde knallrot, weil sie wieder etwas einfach gemacht hatte, was ihr alter Chef auf jeden Fall gutgeheißen hätte.
St. Claire lehnte sich im Stuhl zurück und musterte sie. Jules war es nicht möglich, zu erkennen, ob er ihr zustimmte oder gerade überlegte, wie er ihr die Kündigung am Besten überbrachte. »Nun, Julia ... Ich bin tatsächlich erstaunt. Auch wenn Sie mir ein wenig zu eigenständig gehandelt haben, so war es richtig. Ich möchte aber, dass Sie in Zukunft solche Dinge vorher mit mir besprechen.«
»Natürlich«, versicherte sie ihm schnell und stand dann auf.
»Einen Moment bitte. Würden Sie bitte diese zwei Überweisungen von meinem Privatkonto vornehmen lassen?«
Sie kam um den Schreibtisch herum, um die Papiere entgegenzunehmen. Dabei fiel ihr das markante Parfum auf, was ihn umgab. Jules nahm die Zettel an sich und als ihr Blick auf den obersten fiel, stockte sie.
»Gibt es ein Problem, Ms. Franklin?«
Die Hitze, die ihr in den Kopf stieg, übertraf alles und sicher war dieser zu einem tiefroten Ballon mutiert. »Natürlich nicht«, stotterte sie und eilte, begleitet von seinem tiefen Lachen, aus dem Büro hinaus und schloss die Verbindungstür.
Sie sah ihn und diese Frau vor ihrem Auge, wie sie sich im Bett rekelten, denn der Diamond Escort war nicht als reiner Begleitservice bekannt, sondern bot auch unter der Hand andere Dienste an.
Um kurz vor zehn kam St. Claire aus seinem Büro. »Haben Sie die Überweisungen erledigt?« Ihr fiel natürlich auf, dass ein leichtes gehässiges Lächeln zu erkennen war.
»Natürlich, Mr. St. Claire. Hier habe ich die Unterlagen für die Sitzung …«
»Sie kommen mit.«
Erstaunt erhob sie sich, krallte sich noch Block und Stift und musste dann fast hinterherrennen, weil er mit weit ausladenden Schritten über den Flur marschierte.
Das erste Mal, dass sie bei solch einer Sitzung dabei war und sofort fielen ihr die missbilligenden Blicke der anderen Männer auf. Doch St. Claire ließ sich nicht beeindrucken und Jules musste zugeben, dass er bestimmend und eiskalt auftrat und sich überhaupt nicht einschüchtern ließ. Ihn so in Aktion zu erleben, rang ihr doch einen kleinen Funken Bewunderung ab.
Auf dem Rückweg konnte sie wieder kaum Schritt halten, als ihnen von vorn eine ihr nur allzu bekannte Stimme entgegen hallte. »Mr. St. Claire. Wie wundervoll.«
»Ach du Schande«, rutschte es Jules heraus und Patrick drehte sich zu ihr herum und blieb stehen.
Dann wies er mit der Hand die entgegenkommende Person an, zu warten. »Wer ist das?«, fragte er leise nach.
»Francoise Denver. Sie hat im Einkauf angefangen und wurde nach einiger Zeit in die Personalabteilung versetzt«, gab Juliette ebenso leise zurück.
»Und?«
»Was und?«
»Julia!«, knurrte er.
»Sie krallt sich jeden Mann aus der Firma, der ihr nicht schnell genug entkommt.«
Sie hielt seinem stummen Blick stand, auch wenn es äußerst peinlich war, ihm das zu sagen. Hatte sie ihm vorhin doch gerade seine Liebelei für das Wochenende überwiesen, gab sie ihm jetzt preis, dass dort eine Frau stand, für die er nicht bezahlen musste.
Patrick drehte sich herum. »Ms. Denver, was kann ich für Sie tun?« Beherrscht und höchst professionell trat er auf, wo hingegen Francoise äußerst hektisch und übertrieben herüberkam.
»Mr. St. Claire, es ist mir eine Freude, Sie endlich kennenzulernen«, flötete sie mit viel zu lauter Stimme. »Im Namen der Thompson Holding heiße ich Sie herzlich willkommen.«
Jules sah das leichte Zucken seiner Wangenmuskeln. Ob er sauer war oder sich das Lachen verkneifen musste, konnte sie allerdings nicht sagen.
»Ms. Denver, mir gehören 25 % der Firma, meinen Sie nicht, dass es da etwas komisch ist, wenn Sie mich in deren Namen willkommen heißen? Oder sprechen Sie für die restlichen 75 %, die ich schon kennengelernt habe?«
Francoise sah wie ein Fisch auf dem Trockenen aus, als ihr keine Erwiderung herauskam und Juliette musste den nahenden Lachanfall in einem Husten tarnen.
»Ich denke, wir haben alle viel zu tun. Julia? Wir müssen weiter. Es war mir eine Freude, Ms. Denver.«
Jules folgte mit schnellen Schritten und hatte den Rest des Weges, um sich wieder zu fassen. Sie würde wohl das Gesicht von Francoise so schnell nicht mehr vergessen.
Im Büro wandte sich Patrick an seine Sekretärin. »Ich möchte die Akte von Ms. Denver sehen. Außerdem empfinde ich die Situation nicht als komisch und es wäre schön, wenn Sie sich wieder sammeln würden.«
Autsch, das hatte wieder gesessen. Dachte sie, sie wären heute einen Schritt weitergekommen, wurde sie eines Besseren belehrt. »Entschuldigen Sie.« Sie setzte sich an den PC und rief die Akte von Francoise auf. Sie packte die Dateien in ein Zip-Archiv zusammen und schickte alles per E-Mail an Patrick.
***
Die Woche zog sich wie Kaugummi und immer wenn Juliette dachte, dass sie eine gemeinsame Basis gefunden hatten, war er wieder mit etwas nicht einverstanden und zeigte es ihr sehr deutlich.
Schlimmer waren aber die Überstunden, die er jeden Tag verlangte und sie bangte jedes Mal, ob ihre Freundin auch Zeit hatte. Für diese kurzen Nachfragen verzog sie sich mit dem Handy auf die Toilette, denn am Arbeitsplatz wollte sie auf keinen Fall mehr erwischt werden. So freute sie sich, als endlich wieder Freitag war und er nachmittags einen Außentermin wahrnahm und ihr gnädigerweise erlaubt hatte, früher zu gehen, weil er nicht wusste, wie lange das Meeting dauerte.
Sie hatte gerade alles zusammengepackt, als ihr Smartphone eine eingehende Nachricht meldete.
»Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und viel Vergnügen mit La.«
Was ein Arsch, dachte sie und war froh, ihn nicht mehr sehen zu müssen.
»Was hatte ich Ihnen gesagt zur Benutzung vom Handy am Arbeitsplatz?«, erklang es von der Tür.
Sie sah zwischen ihm und ihrem Handy hin und her, dann straffte sie die Schultern. »Sie haben die Nachricht eine Minute nach halb geschickt, das ist außerhalb der Arbeitszeit.«
Sie steckte das Telefon weg und ging wortlos an ihrem Chef vorbei, blieb dann aber doch noch einmal stehen. »Und vielen Dank. Das Vergnügen werde ich sicher haben.« Mit schnellen Schritten verließ sie ihr Büro und ließ Patrick St. Claire stehen.