Читать книгу Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 10
Annabell
ОглавлениеZeit war bedeutungslos. Diese zog vorbei, ließ sich nicht fassen. Jeder Tag glich dem anderen und nur selten zeigte sich ein winziger Lichtblick. Ansonsten gab es keine Schattierungen, sondern nur eine stetig anherrschende Dunkelheit, die sie mehr und mehr verschlang.
Sie verlor sich immer mehr und die Übungen, die Jonathan mit ihr machte, ließ sie einfach nur über sich ergehen. Hatte sie anfangs noch mitgeholfen, so schaltete sie ab, um nicht mehr die andauernden Schmerzen ertragen zu müssen. Es gab nichts, wofür es zu kämpfen lohnte.
Jeder der sie besuchen kam, versuchte, Gespräche mit ihr zu führen. Doch sie antwortete nicht mehr. Niemandem. Sie wollte nur noch ihre Ruhe. Doch keiner von ihnen ließ sie ihr. Anstatt zu akzeptieren, wurden ihr Erinnerungen aufgedrängt, an die sie sich nicht erinnern konnte.
Emma, deren Namen kurz in ihrem Gedächtnis herumgegeistert war, saß oft an ihrem Bett und erzählte Geschichten von Michael und ihr. Sie berichtete mit so viel Liebe und Wärme und doch erreichte keines dieser Gefühle ihr Herz. Dieses war kalt und schlug einfach nur noch zur Lebenserhaltung in ihrer Brust. Und jeden Tag hoffte sie, es würde endlich seinen Dienst aufgeben, damit sie keinen weiteren Tag mehr ertragen musste.
»Tanteee«, krähte da die Stimme von Cassy neben ihrem Bett. Schwerfällig wandte sie den Kopf zu dem Kind. Es war Michaels und Susan Tochter und auch wenn man ihr gesagt hatte, dass sie das Kind nicht kennen konnte, so war Cassandra dennoch die Einzige, die etwas in ihr auslöste, dass sie nicht beschreiben konnte.
Die Kleine setzte sich zu ihr auf das Bett und hielt ihr den Trinkbecher hin. »Mommy sagt, du musst mehr trinken.«
Der Strohhalm kratzte über ihre Lippe, sie öffnete den Mund und trank ein paar Schlucke. Glücklich klatschte Cassy in die Hände, nachdem sie den Becher wieder zurückgestellt hatte, und freute sich. Das war einer der wenigen Momente, die Annabells Herz nicht mehr ganz so kalt ließen.
»Schatz, würdest du bitte zu Mom gehen? Ich habe etwas mit deiner Tante zu besprechen«, erklang Michaels Stimme von der Tür.
Übermütig sprang Cassandra, wie sie eigentlich hieß, vom Bett und warf sich erst einmal laut jauchzend ihrem Vater in die Arme.
Wäre sie auch eine gute Mutter? Konnte sie überhaupt noch Kinder bekommen? Annabell schüttelte die Gedanken ab. Das war egal. Sie würde es nie herausfinden, denn die Tage, die sie noch auf Erden hatte, waren bereits gezählt.
Ihr Bruder trat an das Bett und wie zuvor seine Tochter setzte er sich auch an ihre Seite.
»Jonathan hat Recht«, seufzte er dann, was sie aufschauen ließ. »Ich habe es nicht wahrhaben wollen. Aber du verlierst dich wirklich. Annabell, das kann ich nicht zulassen. Ich habe dich schon einmal fast verloren, noch mal halte ich das nicht durch.«
Bei diesen Worten hatte er ihre Hand genommen, strich sanft darüber und sie sah Tränen in seinen Augen schimmern.
»Es fällt mir schwer, aber wenn du es hier nicht mehr aushältst, dann lasse ich dich los. Es gibt ein Therapiezentrum in Florida. Nein, schau mich nicht so an, Annabell. Nicht so eins, wo du gerade hergekommen bist. Die Delfintherapie ist etwas ganz anderes und ich bin sicher, es wäre genau das Richtige für dich.«
Sie spürte, wie er ihr ein glattes Papier in die Hand drückte und dann aufstand. »Meine einzige Bitte. Schau es dir an.«
Mit zügigen Schritten verließ er ihr Zimmer. Stille hüllte sie wieder ein und normalerweise war das der Zeitpunkt, wo sie erneut in die Dunkelheit abtauchte. Doch das Papier in der Hand ließ sie nicht los, und auch wenn sie die Finger noch nicht bewegen konnte, so hielt sie dieses wie einen Rettungsanker fest.
Langsam hob sie Stück für Stück die Hand an. Es tat weh, aber etwas trieb sie an, sie musste sehen, was ihr Michael in die Hand gedrückt hatte.
Als die Vorderseite des Flyers, daher auch die glatte Oberfläche, ins Blickfeld kam, stockte Annabell. Sie konnte nicht aufhören, auf das Bild zu starren und erst ein Räuspern von der Tür her riss sie von dem Anblick los. Kraftlos fiel ihre Hand zurück auf die Decke.
»Über eine Minute. So lange hast du es noch nie geschafft, deine Hand zu halten.« Jonathan kam lächelnd auf sie zu.
Als sie nicht reagierte, sah sie, wie das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand und wie immer, wenn sie ihm nicht antwortete, Traurigkeit und Verzweiflung Platz machte.
»Annabell, bitte sprich doch mit mir!«
Sie konnte nicht. Sie wollte einfach nicht. Wieder zog das Bild des Flyers sie magisch an und sie hob ihn noch einmal hoch, um ihn anzuschauen.
»Möchtest du dorthin? Ein Zeichen von dir reicht aus, Anna. Aber bitte gib mir wenigstens eins!« Sie hörte die Verzweiflung in seiner Stimme.
Sie legte die Hand ab, hielt aber weiterhin den Prospekt fest. Sein Blick ruhte auf ihr und sie nickte stumm. Zeigte sein Gesicht Verwunderung und … Hoffnung?
»Aber nur mit dir«, flüsterte sie.
Da war es wieder, das Lächeln. Er trat ans Bett und nahm ihre Hand, in der sie immer noch den Flyer hielt. Er drehte es so, dass beide darauf schauen konnten. »Da wäre ich aber sehr dumm, wenn ich da Nein sagen würde. Das ist doch das reinste Paradies. Wann bekommt man schon die Möglichkeit mit Delfinen zu schwimmen?«
Seine warme Hand lag auf ihrer und gab ihr seit langer Zeit wieder das Gefühl, lebendig zu sein.
***
»Bist du bereit?«
Sie nickte nur, denn sie traute ihrer Stimme nicht wirklich. Sie war tatsächlich aufgeregt und das sollte keiner mitbekommen. Die letzten zwei Wochen hatten sich gezogen, bis Michael einen Platz für sie bekommen hatte. Doch nun war alles geregelt, Jonathan durfte als Betreuungsperson mitkommen und würde dort bei allen Behandlungen und Anwendungen, die durchgeführt wurden, anwesend sein.
Ärzte und Pflegepersonal waren auf ihre Situation vorbereitet und man hatte immer wieder versichert, dass Annabell nicht der erste Fall ihrer Art sei, den man dort behandelte. Auch diese Aussage hatte ihr ein wenig Zuversicht zurückgebracht, denn sie war somit kein Einzelfall.
Michael stellte seinen Jet zur Verfügung, damit sie die 1400 Meilen nicht im Auto verbringen mussten. Die Verabschiedung zuhause war sehr tränenreich ausgefallen. Vor allen Dingen von Emmas Seite aus. Doch nichts hatte Anna so sehr berührt wie die kleine Cassy. Diese hatte ihr eine selbstgemalte und gebastelte Karte in die Hand gedrückt, auf deren Vorderseite sie mit ihr auf dem Arm abgebildet war.
Eine Annabell, die wieder stehen und ihre Nichte halten konnte. Jetzt dagegen hielt Jonathan sie auf dem Arm, um das Flugzeug über die Treppe betreten zu können. Der Rollstuhl war sicher verstaut und ein Sitz im Inneren war extra für sie hergerichtet worden. Das alles hatte ihr Michael erzählt, doch sie war nicht darauf eingegangen. Er war ihr immer noch fremd und seine Bemühungen ihr gegenüber prallten an ihrer Hülle ab.
Jonathan trug sie hinauf ins Flugzeug. Dort warteten der Pilot und eine Flugbegleiterin.
»Ms. Thompson, Mr. Briggs, herzlich willkommen. Ich bin Captain Hollor und wünsche Ihnen einen angenehmen Flug. Sollten Sie etwas benötigen, wenden Sie sich vertrauensvoll an Mrs. Terence, unsere Stewardess.«
Professionell wurden sie vom Piloten und Mrs. Terence in Empfang genommen und während Jonathan mit ihnen lockere Konversation betrieb, drehte sie ihren Kopf weg, hin zu seinem Hals. Der vertraute Duft, der sie in den letzten Wochen immer wieder begleitet hatte, stieg ihr in die Nase und sie schloss die Augen. Wie oft hatte sie, wenn sie meinte, alles um sie herum erdrückte sie, die Augen geschlossen, sich an diesen Geruch geklammert und alles andere ausgeblendet.
Ihr Therapeut hatte sie einmal gefragt, wie sie es fertigbrachte, allen Angstzuständen, die unweigerlich in ihrer Situation auftraten, Herr zu werden. Sie war ihm immer eine Antwort schuldig geblieben, denn wie sie es tatsächlich schaffte, würde sie nie jemanden anvertrauen.
Als Jon sie sanft auf den Sitz herabließ, öffnete sie die Augen und sah seinen besorgten Blick. Sie ahnte, dass er es nicht einfach mit ihr hatte. Vier Jahre hatte er genauso gehofft und gebangt wie alle an ihrer Seite, und dann war sie endlich wach und weit entfernt davon, eine einfache Patientin zu sein.
Wieder versuchten die negativen Gedanken, sie aufzufressen, doch als ob er es merkte, setzte er sich neben sie, schaltete den Bildschirm vor ihnen an und zeigte ihr die Aufnahmen vom Zentrum, zu dem sie unterwegs waren. Auch wenn es nur ein blöder Werbefilm war, war es Balsam für ihre geschundene Seele.
Der Flug, vor dem sie ein wenig Angst gehabt hatte, gestaltete sich sehr angenehm. Nicht zuletzt aufgrund von Mrs. Terence, der netten Stewardess. Dennoch schwieg sie die ganze Zeit. Man hatte ihr erzählt, dass sie eine lebenslustige und fröhliche Frau gewesen war. Und nun saß sie hier und traute sich kaum den Mund aufzumachen. Was hatte der Therapeut dazu gesagt? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Aber das war auch egal. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie je wieder zu der Frau wurde, die sie einst war.
In Thompsons Retreat hatte sich keinerlei Erinnerung eingestellt. Dabei wusste sie, dass sich Michael so viel davon versprochen hatte, als er sie nach Hause holte. Ihr Bruder war enttäuscht. Vielleicht war dies zusätzlicher Druck gewesen, durch den sie sich immer mehr zurückgezogen hatte.
»Schau, dort unten«, riss Jonathans Stimme sie aus ihrem Grübeln. Er zeigte mit der Hand aus dem kleinen Fenster.
Sie befanden sich im Landeanflug und man sah die Landzunge, die direkt in den Atlantik mündete. Sie meinte, das Rauschen bis hier oben zu hören, und das Glitzern auf der Wasseroberfläche tat in den Augen weh. Als sie von New York gestartet waren, herrschte dort entsprechendes Februarwetter mit sieben Grad und Nieselregen. Laut der Informationsanzeige auf dem Bildschirm herrschte hier ein mildes Klima von 24 Grad und die Sonne lachte einem entgegen.
Als das Flugzeug mit leichtem Ruckeln aufsetzte und der Druck in den Ohren nachließ, spürte sie schon fast die Wärme auf ihrem Arm, als die Sonne durch das Fenster strahlte. Nachdem die Maschine ausgerollt und in ihrer Parkposition stand, schnallte Jon sie ab und bevor er sie hochhob, fragte er mit einem Augenzwinkern: »Bereit für das nächste Abenteuer, Anna?«, setzte ihr den Sonnenhut auf und schob ihr die Sonnenbrille auf die Nase.
Sie nickte statt einer Antwort. Seine starken Arme hoben sie hoch und am Eingang warteten Captain Hollor und Mrs. Terence. Der Abschied fiel kurz aus und doch verspürte sie einen inneren Drang, sich zu bedanken. Als die Worte »vielen Dank, der Flug war sehr angenehm», ihren Mund verließen, spürte sie, dass Jonathan leicht zusammenzuckte. Ansonsten ließ er sich nichts anmerken und als die Tür sich öffnete, die Wärme und der Geruch des nahen Meeres ihr entgegenschlugen, vergaß sie seine Reaktion wieder.
Während Jon sie die Treppe heruntertrug, wärmten die Sonnenstrahlen ihre Haut und wie bei einem Akku wurden auch ihre Zellen aufgeladen. Viel zu schnell kamen sie bei dem wartenden Wagen an und Jonathan verfrachtete sie auf den Rücksitz. Die Scheiben waren abgedunkelt und kühle Luft empfing sie. Fast schon enttäuscht wartete sie im Inneren, bis das Gepäck verstaut war, Jon sich neben sie setzte und der Fahrer sie zur genannten Adresse fuhr.
Hatte sie die Aussicht im tristen New York nicht beachtet, so konnte sie hier kaum den Blick von all dem Gebotenen abwenden. Palmen säumten die Straße und durch die dunklen Scheiben wirkten sie leicht bläulich. Mit großer Anstrengung hob sie den Arm an und legte die Finger auf den Fensterheber. Doch so sehr sie auch versuchte, ihn zu bedienen, es wollte nicht klappen, sie konnte nicht fest genug drücken. Jons Hand legte sich helfend auf ihre und kurz danach summte das Fenster herunter. Sofort fuhr ihr der Fahrtwind durch die braunen schulterlangen Haare und zerzauste sie. Noch nicht einmal so etwas Einfaches wie die Scheibe alleine herunterzubekommen, schaffte sie. Um Jon nicht zu zeigen, wie sehr sie das frustrierte, schloss sie die Augen und hielt ihr Gesicht in den Wind. Die Sonne erwärmte dieses, und langsam beruhigte sie sich wieder. Annabel spürte selbst, wie sich ein Lächeln auf ihre Miene stahl.
»Wir sind gleich da.« Jonathans Stimme klang genauso entspannt, wie sie sich fühlte.
Ihr Blick wanderte nach vorn und sie war froh, dass sie nun doch schon einige Körperteile bewegen konnte. Egal ob es noch schwerfällig war, aber sie merkte mittlerweile selbst, wie sehr sich die Übungen lohnten.
Sie fuhren durch einen Torbogen, auf dem ein großes Schild angebracht war. Auf diesem sah man einen Delfin, der mit einem lachenden Kind schwamm. Der Weg schlängelte sich zwischen Palmen zu einem blau gestrichenen Holzhaus hindurch. Der Wagen stoppte, Jonathan stieg aus und war in nicht mal fünf Minuten an ihrer Seite und hatte den Rollstuhl bereitgestellt.
Er legte sich ihren Arm um den Hals, hob sie aus dem Auto und setzte sie sacht in den fahrbaren Untersatz. Nachdem er alles gerichtet hatte, kam ihnen auch schon eine korpulente, über das ganze Gesicht strahlende Frau entgegen.
»Herzlich willkommen im Delfin-Therapiezentrum. Ich bin Jessica und ab sofort für euch, aber vor allen Dingen für dich, Schätzchen, zuständig. Und damit meine ich dich, Annabell, nicht das heiße Gerät hinter deinem Rollstuhl.« Jessy lachte laut, hielt ihr die Hand hin und griff fest zu, als Anna die Hand hochgehoben hatte. »Super, die Hand kannst du ja schon gut anheben. Den Rest, Sweetheart, bekommen wir mit dem Programm, das wir dir hier bieten, auch noch hin. Glaub mir, wenn du uns verlässt, kannst du wieder Walzer und Tango tanzen und alle Männer werden dir zu Füßen liegen.«
Annabell riss die Augen auf und ihr lag eine schnippische Bemerkung auf der Zunge. Was bildete sich die ... verdammte Schnepfe eigentlich ein? Diese Jessy schien sich in keiner Weise von ihrem bitterbösen Blick beeindrucken zu lassen und ehe sie es sich versah, hatte sie schon bissig geantwortet: »Normales laufen und ein einziger Mann würde mir reichen. Ich bin gespannt, ob du das hinbekommst.« Jessys Lachen wurde noch lauter, als auch noch ein Husten in ihrem Rücken erklang.