Читать книгу Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 8

Annabell

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Seit sie aufgewacht war, schwirrten Ärzte, Pfleger, Therapeuten um sie herum. Aber auch der Bruder, an den sie sich nicht erinnern konnte, saß immer wieder an ihrem Bett, sprach mit ihr, zeigte ihr Bilder.

Doch sie konnte sich einfach nicht erinnern. Alle Menschen um sie herum waren ihr fremd und doch war sie auf ihre Hilfe angewiesen. Sie verabscheute es.

Jeden Tag führten sie mit ihr Untersuchungen durch, bei denen ihr die Ärzte freudestrahlend mitteilten, dass bisher keine Funktionsbeeinträchtigungen festzustellen und ein schneller Heilungsverlauf zu erwarten seien. Der Gedächtnisverlust würde ganz sicher auch noch weggehen und irgendwann könnte sie sich an die Vergangenheit und ihre Familie erinnern. Allerdings hielten sich die Ärzte mit der Prognose um die Erinnerung an den Unfallhergang sehr bedeckt.

Aber wollte sie das? Wollte sie sich wirklich erinnern? Als ihre Stimme wiederkam und sie fragte, was mit ihr passiert war, wich man ihr aus. Keiner, noch nicht einmal ihr Bruder, wollte ihr davon berichten. Man würde erst mit ihr darüber sprechen, wenn Erinnerungsfetzen zurückkamen, oder sie sich komplett erinnerte. Am Anfang hatte sie noch mit Wutausbrüchen reagiert, teilweise das Essen verweigert und doch war man der Meinung, dass eine Konfrontation mit den Geschehnissen nicht förderlich für ihre Genesung sein würde.

Sie alle machten ein großes Wettschweigen daraus und jeden Tag, den sie an das Bett gefesselt war und sich tiefer in ihre kleine Welt zurückzog, wollte sie weniger wissen, was ihr zugestoßen war. Mittlerweile war es ihr scheißegal. Sollten sie doch alle an dem Geheimnis ersticken.

Ärzte kamen und gingen. Und als sie nach der ersten Woche in ein Therapiezentrum für Langkomapatienten verlegt wurde, begann die Zeit, in der sie sich immer mehr wünschte, sie wäre nie aufgewacht, oder aber man möge ihr einfach ein Ende bereiten.

Mehrmals täglich wurde mit ihr trainiert um die Muskeln wiederaufzubauen, so meinten die Therapeuten, und bei diesen Sitzungen hätte sie am liebsten ihren Körper verlassen. Auch wenn sie nie jemandem zeigte, wie es in ihr aussah, so litt sie in diesen Stunden ganz besonders. Die Schmerzen, die bei jeder Bewegung durch ihren Körper jagten, waren kaum auszuhalten.

Aber sie war still, ließ es über sich ergehen und hoffte, dass der Tag kommen würde, an dem man ihr eine Spritze setzte und ihr den letzten Schuss gab.

Man verlangte von ihr, dass sie mitarbeitete - aber wofür? Wollte sie wirklich noch Monate herumliegen, nicht viel tun können und von fremden Menschen umgeben sein? Nein, keinesfalls und doch war sie nicht einmal in der Lage, all dem hier selbst ein Ende zu bereiten.

Die meisten ihrer Tage verbrachte sie damit stoisch aus dem Fenster zu schauen.

Und dann war da noch Jonathan. Wie sie von ihm erfuhr, hatte er sie die letzten vier Jahre gepflegt. Auch jetzt war er an ihrer Seite, machte Übungen und erzählte viel. Sie ließ ihn reden, antwortete nur einsilbig und ließ ansonsten seine Worte wie Regentropfen an sich abprallen. Trotzdem war er der Einzige, der es schaffte, sie wenigstens ab und zu aus dem Loch zu holen, obwohl er ihr Dinge erzählte, die ihr eigentlich nichts sagten und auch egal waren.

Ganz am Anfang, als ihre Stimme ihr wieder gehorchte, hatte sie darauf bestanden, dass er sie nicht mehr nackt sah. Es war ihr egal, ob er ihren Körper die letzten vier Jahre schon gesehen hatte, aber sie wollte jetzt, wo sie bei Bewusstsein war, nicht, dass er weiterhin Dinge tat, wo er mehr als nur die Arme oder Beine sah.

Nach fünf Wochen im Therapiezentrum, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, waren die Ärzte so zufrieden, dass sie nach Hause entlassen werden konnte. Nach Hause – welch ein Hohn. Sie wurde in die nächste fremde Umgebung gebracht, die sich aber nun ihr Zuhause nannte.

Als Jon sie vor einigen Tagen gefragt hatte, ob sie sich schon freue, hatte sie ihn, wie so oft davor, angelogen. Immer wenn er sie fragte, wie es ihr ging, log sie. So auch, ob sie sich auf ihr Zuhause freute.

Natürlich hatten ihr Michael und auch Jonathan bei den vielen Erzählungen von Thompsons Retreat erzählt. Von Emma, von Susan mit ihrer Tochter Cassandra und somit auch, dass sie Tante war. Bei dem Wort Tante stiegen kurz wie ein sanfter Flügelschlag Gefühle in ihr auf, aber dann waren sie auch schon wieder weg. Nicht greifbar für sie und nur Frustration blieb zurück.

Als Jonathan das Zimmer betrat, wand sie den Blick zu ihm.

»Der Shuttle-Service ist da!«, lächelte er sie an.

Ihr dagegen war überhaupt nicht zum Lächeln zumute und doch rang sie sich dazu durch, nicht ihre wahren Gefühle zu zeigen, und grüßte ihn, wie sie es immer tat.

Er holte den Rollstuhl, schlug die Decke zurück, um sie hochzuheben. Es war nicht das erste Mal, dass er sie auf die Arme nahm, es war aber das erste Mal, dass sie sich am liebsten ängstlich in sein Shirt gekrallt hätte. Ja, es ging nach Hause, aber für sie fühlte es sich an wie der Gang zum jüngsten Gericht.

Hilflos musste sie über sich ergehen lassen, dass ihr Körper so schwach war und ihr nicht gehorchte. Jonathan setzte sie in den ihr so verhassten Rollstuhl, achtete darauf, dass sie es auch gemütlich hatte, und schob sie dann aus dem Zimmer hinaus.

Sie erkannte sofort den geschockten Blick von Michael, der im Flur schon auf sie wartete. Sie ahnte, was sie für ein Bild abgab und der Wunsch, dem allem zu entfliehen, wurde übermächtig.

Auf dem Parkplatz wurde sie zu einem Van gebracht und Jonathan schob sie auf die Rampe, die er zuvor hatte herunterfahren lassen. Im Auto arretierte er ihren Rollstuhl und stieg dann mit einem Lächeln aus.

Panik kroch in ihr hoch, denn anscheinend sollte Michael die Fahrt über bei ihr sitzen. Doch der eigene Bruder war ihr fremder als ihr Pfleger und so fällte sie zum ersten Mal eine eigene Entscheidung: »Ich möchte, dass Jonathan hinten bei mir sitzt.«

Sie mied den Blick von Michael und sah stattdessen in das überraschte Gesicht von Jon, der sich aber schnell wieder fing. Auch er spielte ihr gegenüber eine Rolle, die er einnahm, um sie nicht noch weiter herunterzuziehen. Das hatte sie ganz schnell herausgefunden. Immer wenn er dachte, sie würde es nicht bemerken, enthielt sein Blick eine tiefe Traurigkeit, die ihr Herz berührte. Aber sie konnte ihm einfach nicht sagen, dass es nicht seine aufgesetzte Fröhlichkeit war, die zu ihr durchdrang, sondern sein wahres Gesicht, wenn er zeigte, wie es um sie stand.

Jonathan setzte sich neben sie und beide Männer erzählten ihr während der langen Fahrt etwas über das Anwesen, wer alles auf sie wartete. Doch sie schaute aus dem Fenster und blendete die Worte aus, denn die Angst kroch ihr schon wieder den Rücken hinauf.

***

Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie weggedöst war, erst als sie sanft an der Hand berührt wurde, schreckte sie hoch.

»Wir sind jetzt gleich da, Annabell. Wir fahren soeben die Auffahrt zu Thompsons Retreat hoch«, klärte Jonathan sie mit ruhiger Stimme auf.

Als das Haus in Sichtweite kam, riss dessen Anblick sie aus ihrer Lethargie. Es war wirklich wunderschön und ein leicht vertrautes Gefühl stieg in ihr auf. Auch wenn sie es nicht benennen konnte, fühlte es sich tatsächlich an, als ob sie nach Hause kam.

Michael parkte direkt vorm Eingang, wo sie beim Herausfahren aus dem Auto einen Lift erkannte, den man für sie angebracht hatte. Denn Treppenstufen führten hinauf zur Eingangstür, die sich just in dem Moment öffnete.

Eine junge Frau mit einem Kind trat heraus und dahinter folgte eine ältere Frau, die mit einem Taschentuch ihre Augen betupfte.

Ihre Blicke trafen sich und obwohl Annabell die Frau nicht kannte, verließ ein einziges Wort ihren Mund: »Emma.«

Heil mich, wenn du kannst

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