Читать книгу Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 11
Jonathan
ОглавлениеEs schien ihm, als wäre mit dem Wechsel von Örtlichkeit und der gestiegenen Temperatur ein Stück weit Leben in Annabell zurückgekehrt. Schon auf dem Weg aus dem Flugzeug heraus glänzten ihre Augen auf eine Art, die er noch nie an ihr gesehen hatte.
Die Fahrt verlief entspannt, und als sie im Zentrum angekommen waren, hatte Anna sogar zum ersten Mal eine echte Regung gezeigt gegenüber Jessy, der kräftigen, aber herzensguten Therapeutin, die den beiden in den folgenden Wochen zur Seite stehen würde. Sie hatte zwar gezickt, aber auch das war eine Emotion und alles, was zählte.
Es erleichterte Jonathan ungemein, dass seine Überlegung, sie aus dem Umfeld herauszuholen, welches sie so sehr verunsicherte, offenbar die Richtige gewesen war. Natürlich lag immer noch ein weiter und beschwerlicher Weg vor Annabell, aber er hatte zum ersten Mal, seitdem sie erwacht war das Gefühl, dass sie ein bisschen Lebensmut zurückgewann.
Vorerst war der Aufenthalt in diesem Center für 3 Monate geplant. Und wenn sie so gut auf die Therapie ansprach, wie er es sich erhoffte, dann bestünde sogar die Möglichkeit, um weitere 4 Wochen zu verlängern. Es war Michael nicht leichtgefallen, seine Schwester wieder gehen zu lassen, kaum, dass sie angekommen war, aber er hatte schließlich eingesehen, dass es für sie schlicht und ergreifend das Beste war. Susan hingegen hatte Jonathan sofort den Rücken gestärkt. Sie erkannte die Notwendigkeit hinter seiner Bitte, und unterstützte ihn, indem sie ihm bei der Suche nach geeigneten Therapien half.
Jessy schien eine Seele von Frau zu sein, er hatte sie gleich ins Herz geschlossen, als er mitbekam, wie sie mit Annabell umgegangen war. Genau das war es, was diese junge Frau jetzt am dringendsten brauchte. Jemanden, der vollkommen normal mit ihr umging, sie zum Agieren und Reagieren brachte, ihr zeigte, dass ihre Situation zwar schlimm, aber nicht hoffnungslos war.
Nachdem Jessy Anna also den ersten Stutenbiss überhaupt entrungen hatte, drängte sie ihn vom Rollstuhl weg und deutete mit einem saloppen »Hopp, Schätzelein, mach dich mal nützlich!«, auf die Koffer und Taschen. Amüsiert mit dem Kopf schüttelnd griff er sich das Gepäck und folgte den beiden Frauen, von denen zumindest eine wie ein Wasserfall schnatterte.
Der Weg, den Jessy nun einschlug, war asphaltiert und leichtgängig, wie er erfreut feststellte. Auch die restlichen Wege, die von einem Hauptweg aus in verschiedene Richtungen führten, waren auf dieselbe Weise angelegt. Man merkte sofort, dass hier alles darauf ausgelegt war, den Anwesenden den Aufenthalt so einfach wie möglich zu gestalten. Die Therapeutin plauderte munter auf Annabell ein, und als er zu den beiden aufschloss, stellte er fest, dass sie aufmerksam zuhörte und sich gleichzeitig neugierig umsah. Nach einem Fußweg von etwa 5 Minuten in gemütlichem Tempo blieb Jessy stehen.
»So, ihr zwei Hübschen. Das da ist eure Hütte für die kommenden Wochen. Ich hoffe, es gefällt euch! Und falls nicht, kann ich es auch nicht ändern«, erklärte sie fröhlich und nickte mit dem Kopf nach vorn.
Jonathan folgte ihrem Kopfnicken und ließ erstaunt die Taschen sinken, während Annabell ein überraschtes Keuchen entwich. Vor ihnen tat sich ein Häuschen auf, das den Namen Hütte eindeutig nicht verdient hatte. Es war ein hübscher, kleiner Bungalow, der fröhlich in Blau und Weiß gehalten war. Eine Rampe führte hinauf auf eine Veranda, auf der links eine Hollywoodschaukel und rechts ein Tisch mit Stühlen stand. Gleichzeitig bot sie jedoch genug Platz, um auch mit dem großen Rollstuhl bequem rangieren zu können.
»Frühstück gibt’s von 8 bis 10 Uhr, Mittag von 12 bis 14 Uhr, Abendessen von 16 bis 18 Uhr. Es handelt sich um Buffets, aus denen ihr euch das Essen selbst zusammenstellen könnt. Die Entscheidung, ob ihr im Speisesaal mit den anderen Patienten esst, oder euch etwas mit auf die Hütte nehmt, liegt ganz bei euch. Morgens und abends kommt jeweils für 30 Minuten eine weibliche Pflegerin, die Annabell bei der Körperhygiene behilflich ist«, erklärte Jessy und drückte Anna ein Heftchen und einen Briefumschlag in die Hand. »Hier ist ein Lageplan mit allen wichtigen Orten, Notfallrufnummern und so weiter. Im Umschlag befinden sich die Zugangsdaten fürs W-lan, der Code für den Safe, und sonstige Informationen, die ihr eventuell benötigen könntet. Der Schlüssel zum Haus liegt unter dem Blumentopf neben der Tür. Heute habt ihr noch kein Programm. Ich werde euch jetzt gleich allein lassen, damit ihr euch einrichten könnt. Morgen früh komme ich gegen 8 Uhr vorbei, dann stehen noch einige Untersuchungen an und der Therapieplan wird erstellt. Noch Fragen?«
Jonathan schüttelte den Kopf und sah zu Annabell. Sie hatte Jessy ganz eindeutig überhaupt nicht zugehört, denn ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen und sie sah wie gebannt zum Bungalow. »Ich glaube, fürs Erste sind die wesentlichen Punkte geklärt. Und für sie ...«, er deutete mit dem Kopf in Richtung Rollstuhl, »offensichtlich auch.« Er verharrte einen Moment und betrachtete seine Patientin schweigend. Nicht nur ihre Augen glänzten, auch ihre Wangen hatten eine zarte Röte bekommen. Ihr Blick machte nur allzu deutlich, dass ihr der Bungalow und alles, was sie sonst noch sehen konnte, gut gefiel. Ein sanftes Lächeln legte sich auf sein Gesicht, ohne das es ihm selbst bewusst war.
Jessy schmunzelte. Dann tippte sie Annabell auf die Schulter, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, und beugte sich zu ihr herab, flüsterte ihr etwas ins Ohr. Diese verharrte kurz überlegend, lief sodann knallrot an und senkte verlegen und langsam den Kopf. Die Therapeutin kicherte leise, zwinkerte Jonathan zu und verschwand dann winkend. »Bis Morgen!«
Amüsiert den Kopf schüttelnd ging er an Annabell vorbei auf die Haustür zu. Wie Jessy es gesagt hatte, fand er unter einem Blumentopf den Schlüssel und sperrte auf. Er warf nur einen kurzen Blick hinein, dann marschierte er zum Rollstuhl, legte die Hände an den Griff und schob sie auf die Rampe zu. Auf der Veranda angekommen drehte er sie so, dass sie alles überblicken konnte, und betätigte die Feststellbremse. »Ich verstaue schnell das Gepäck und mache einen Rundgang«, erklärte er.
Er holte die Taschen und betrat den Bungalow. Der breite Flur ging nach vorne in einen großzügigen Wohnbereich über, nach links und rechts zweigten je zwei Zimmer ab. Die Türen standen allesamt offen, sodass er einen Blick hineinwerfen konnte, um sich zu orientieren. Auf der rechten Seite befanden sich Küche und Badezimmer, wohingegen sich auf der anderen die beiden Schlafräume verbargen. Das Haus war zweckmäßig, aber nichtsdestotrotz schön eingerichtet, durch kleine Accessoires und farbenfrohe Vorhänge sah man so gut wie nirgends, dass man in einem Therapiezentrum verweilte. Lediglich im Bad und in Annabells Zimmer war anhand der medizinischen Komponenten eindeutig zu erkennen, dass man sich nicht in einem Urlaubsressort aufhielt.
Nachdem er ihre Taschen im hinteren Raum, in dem ein spezielles Pflegebett stand, abgestellt hatte, warf er in seinem alles einfach achtlos aufs Bett, um Anna nicht allzu lang allein draußen zu lassen. Er begann immer fester darauf zu hoffen, dass sie hier große Fortschritte machen konnte. Fernab von jedem Einfluss, die für ihre geschundene Seele nur Stress bedeuteten, den man eigentlich vermeiden sollte. Er war sicher, dass auch ihre Erinnerung zurückkehren würde, wenn ihr Körper erst einmal die Kraft wiederfand.
Auf leisen Sohlen verließ er den Bungalow, trat an den Rollstuhl. Annabell saß noch immer regungslos und sah fasziniert geradeaus. »Es ist ... wunderschön«, flüsterte sie, hob langsam ihre rechte Hand und deutete nach vorne. Bevor er ihrem Fingerzeig folgte, zog er sich einen der Stühle direkt neben sie und setzte sich. Dann erst blickte er in dieselbe Richtung, in die auch sie sah.
Von ihrem Sitzplatz aus sah man das Meer. Die Sonne ging gerade unter und tauchte nicht nur das Wasser, sondern auch den Himmel in ein spektakuläres rotorange. Ein paar weiße Wolken vervollständigten das Bild, das sich für immer in seinen Kopf brennen würde. Dann wandte er sein Gesicht wieder zu Annabell.
»Aye«, sagte er dann leise. »Wunderschön.«