Читать книгу Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 9

Jonathan

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Annabell driftete ihm wieder einmal weg. Während er versuchte, sie mit Erzählungen auf das Kommende vorzubereiten, ließ sie alles emotionslos über sich ergehen. Sie sah aus dem Fenster, schlief irgendwann ein und er beließ es dabei, nicht ohne sie sorgenvoll zu betrachten. Als sie schließlich das Anwesen erreichten, berührte er sie sanft an der Hand. Sie schreckte hoch und sah ihn verwirrt an. »Wir sind jetzt gleich da, Annabell. Wir fahren soeben die Auffahrt zu Thompsons Retreat hoch«, erklärte er mit ruhiger Stimme.

In Zeitlupe drehte sich ihr Kopf in die von ihm gezeigte Richtung, und zum ersten Mal seit Langem hatte er das Gefühl, das etwas Leben in ihr Gesicht zurückkehrte. Nachdem sie vorgefahren waren, entriegelte er die Seitentür und löste die Sicherungen des Rollstuhls. In diesem Moment öffnete sich die Haustür und Susan, Cassandra und Emma traten hinaus. Annabells Blick glitt zum Eingang, ihre Augen weiteten sich und dann sagte sie: »Emma.« Abrupt hielt er in der Bewegung inne.

Michael, der gerade ausgestiegen war, ließ die Autoschlüssel fallen und starrte seine Schwester mindestens ebenso schockiert an, wie er selbst es tat. Auch Annabell wirkte überrascht, sie blinzelte mehrfach irritiert. Die Haushälterin, die ein Taschentuch in den Händen hielt und sich damit die Augen betupfte, schluchzte auf und eilte los, so schnell sie ihre Beine trugen. Jonathan trat mit mühsamem Lächeln ein paar Schritte zurück, machte Platz.

Dann hockte Emma auch schon neben Annabell im Auto, hielt ihre Hand und weinte leise. Er kletterte aus dem Wagen und gesellte sich zu Michael, der noch immer erschüttert die Szene betrachtete. Susan war mit Cassandra auf dem Arm zu ihnen getreten, auch sie hatte Tränen in den Augen, während sich Cassy plappernd an ihre Mutter klammerte.

Sie hatte Emma erkannt, und das war ein gutes Zeichen, oder? Schweigend musterte er Annabell, las in ihrem Gesicht die unterschiedlichsten Emotionen, aber am deutlichsten die Verwirrung. Und so leid es ihm in diesem Moment auch für die Haushälterin tat, war ihre Mimik für ihn der Punkt, an dem er eingreifen musste. »Emma«, sagte er sanft und berührte sie am Arm. »Anna muss aus dem Rollstuhl raus, die Fahrt war lang.« Das war nicht ganz die Wahrheit, würde die Haushälterin aber weniger treffen. Annabells Augen flogen zu ihm, offene Dankbarkeit leuchtete ihm entgegen. Er zwinkerte ihr zu und stieg dann in den Wagen, um sie der Situation zu entziehen.

Er brachte Annabell auf ihr Zimmer und blockte in den nächsten Stunden alle Versuche seitens Michael und Emma ab, sie zu besuchen. Freundlich, aber bestimmt verscheuchte er beide mit Engelsgeduld. Seine Patientin lag still und blass in ihrem Bett, ließ die kurze Wiederholung der Übungen über sich ergehen. All das gefiel ihm nicht. Er wünschte sich inständig, dass sich ihr Verhalten in den nächsten Tagen etwas bessern würde.

***

Zwei Wochen waren seit Annabells Ankunft in Thompsons Retreat vergangen, doch entgegen Jonathans Hoffnungen hatte sich ihre Teilnahmslosigkeit nicht gebessert, sondern war immer offensichtlicher geworden. Schon im Therapiezentrum musste er sie förmlich zu jedem Gespräch zwingen, doch hier erreichte ihre Apathie neue Ausmaße. Annabell verweigerte regelmäßig das Essen, und verlor wieder an Gewicht. Sie zeigte kaum Engagement bei der Therapie, ihre Fortschritte verringerten sich noch mehr, seit sie hier war. Mittlerweile führte er ihr Nährstoffe über die Sonde zu, die speziell dafür gelegt und, Gott sei Dank, noch nicht entfernt worden war.

In den Wochen, seitdem sie aufgewacht war, hatte er notgedrungen ein Gespür dafür entwickelt, ihre Mimik zu deuten. Sie sprach kaum mit ihm, und wenn, dann gab sie nur Antworten auf Fragen. Ob sie denkt, dass ich nicht merke, wenn sie mir etwas vorspielt? Er schüttelte leicht den Kopf. Annabell hielt die Augen geschlossen, ein deutliches Zeichen für ihn, das er sie in Ruhe lassen sollte.

»Ich komme später noch einmal wieder«, sagte er leise und richtete das Betttablett so an ihrer Seite an, dass sie den Becher ohne Mühe erreichen würde, um zu trinken. In ihrer stärkeren Hand, der rechten, hielt sie einen Sender, mit dem sie durch Drücken eines kleinen Knopfes jederzeit auf sich aufmerksam machen konnte. Eine Reaktion ihrerseits erwartete er weder, noch bekam er sie. Er rechnete nicht einmal damit, dass sie etwas trank. Bedingt durch ihre anhaltend depressive Phase nahm sie viel zu wenig Flüssigkeit zu sich, was sich wiederum in Kopfschmerzen und Verdauungsproblemen widerspiegelte. Zwingen konnte er sie schlecht, also musste er einen neuen Ansatz finden, um ihr zu helfen.

Er verließ das Zimmer und marschierte die Wendeltreppe hinunter, die ins Erdgeschoss des Hauses führte. Im dortigen Wohnzimmer hielten sich erwartungsgemäß außer Emma alle Hausbewohner auf. Michael sah ihm entgegen, während Susan ein Kartenspiel mit ihrer Tochter spielte. »Boss, hast du ein paar Minuten Zeit für mich?« Sogleich trat ein alarmierter Ausdruck in dessen Miene und er winkte ab. »Nichts passiert, ich würde nur gern etwas mit dir besprechen.«

Michael sah zu Susan, die ihm aufmunternd zunickte, ehe er sich erhob. Schnellen Schrittes folgte Jonathan ihm in sein Büro und schloss die Tür hinter beiden. Nachdem sie sich gesetzt hatten, seufzte er leise.

»Schieß los, Jon. Wenn mit Annabell alles in Ordnung ist, wie kann ich dir helfen?« Sein Boss sah ihn fragend an. Er räusperte sich, rutschte auf dem Stuhl hin und her. Er hatte keine Ahnung, wie er das, was er sagen wollte, so verpacken könnte, dass es Michael nicht das Herz zerriss. »Du solltest darüber nachdenken, deine Schwester noch einmal fortzuschicken«, sagte er daher geradeheraus und wappnete sich innerlich für den Zornesausbruch, der jetzt folgen würde.

Doch sein Gegenüber starrte ihn nur mit offenem Mund an.

»Sie ist unglücklich. Schon seit Wochen. Aber ihre Apathie erreicht neue Ausmaße und ich mache mir ernsthaft Sorgen«, versuchte er zu erklären, aber Michael schüttelte heftig den Kopf.

»Vergiss es. Sie ist gerade erst Zuhause angekommen, da werde ich sicher nicht darüber nachdenken, sie wieder fortzuschicken! Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Michaels Faust donnerte auf den Tisch und nun funkelte er ihn doch zornig an. Jonathan schloss langsam die Augen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, zählte er in Gedanken.

»Annabell ist todunglücklich! Willst du mir erzählen, dass du das nicht gemerkt hast? Das geht seit Wochen so. Sie denkt, mir fällt das nicht auf, aber ich bin ja nicht blöd! Es war schon in der Klinik schlimm mit anzusehen, aber mittlerweile leidet ihr Gesundheitszustand darunter«, erwiderte er, so ruhig er nur konnte.

Sein Chef wurde mit jedem Wort, das er hervorbrachte, blasser. Es vergingen einige Sekunden, bis er sich fing und räusperte. »Aber warum, Jonathan? Ich begreife es nicht.« Michael lehnte sich im Bürostuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

»Du kannst es gar nicht verstehen, wie denn auch? Wie solltest du nachvollziehen können, wie sich deine Schwester gerade fühlt? Stell dir vor, wie sich die ersten Minuten anfühlen, wenn du mit einem dicken Kater aufwachst. Du kannst dich kaum bewegen, der Kopf dröhnt, als sei er eine Zeitbombe, du erinnerst dich nicht mehr daran, was du gestern Abend getan hast.« Jonathan beugte sich nach vorne und erwiderte Michaels Blick ernst. »Und jetzt ... multipliziere das Ganze mit Faktor 100. Dann weißt du, was Annabell gerade durchmacht.«

»Und was denkst du, was ich tun sollte, mhm?«

Jonathan erhob sich, trat um den Schreibtisch herum und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Lass sie gehen, sofern sie es möchte. Denn wenn sie dann wiederkommt, geschieht es aus eigenem Willen. Gib ihr die Chance auf eine freie Entscheidung. Das ist alles, was sie im Moment noch hat«, sagte er leise. »Stell deine Wünsche hinten an und sprich mit ihr.«

Michael schwieg eine Weile, nickte dann langsam und seufzte tief. »Du hast Recht. So schwer mir fällt, das zuzugeben.« Er erhob sich schwerfällig. »Danke, Jon. Ich schätze, ich habe deine offenen und harten Worte wirklich gebraucht.«

Jonathan lächelte nur leicht. »Michael, du bist nicht nur der, der mein überaus großzügiges Gehalt bezahlt, sondern auch mein Freund. Wer, wenn nicht ich sollte ehrlich zu dir sein? Und jetzt geh. Geh zu Annabell, und frag sie, was sie will.«

Heil mich, wenn du kannst

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