Читать книгу Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 12

Annabell

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Während des ganzen Wegs zu ihrer Unterkunft redete Jessy unermüdlich auf sie ein. Annabell hatte gar keine Zeit, um sich Gedanken um Jon und das Gepäck zu machen, wenngleich dieser wie ein Packesel von Jessica hinter ihnen her gescheucht wurde.

Der Bungalow, den die Therapeutin als kleine Hütte verkaufen wollte, war ein Traum. Bilder blitzten auf und ein vertrautes warmes Gefühl stellte sich ein. Ob es Erinnerungen waren, oder ihr die Umgebung an sich das Empfinden von Geborgenheit vermittelte, konnte sie nicht sagen.

Ein Tippen auf die Schulter holte sie aus ihrer Trance heraus und Jessy beugte sich nah an ihr Ohr heran. »Und Sweetheart, zum Thema ›ein einziger Mann würde mir schon reichen‹ habe ich nur eins zu sagen. Soweit ich weiß, bist du bewegungseingeschränkt und hast Amnesie. Von einem Augenfehler war mir nichts bekannt!«, flüsterte sie ihr zu.

Kurz überlegte Annabell, wie sie das gemeint hatte, bis es ihr bewusst wurde. Heiße Röte stieg ihr in die Wangen, denn natürlich war sie nicht blind. Jonathan sah sehr gut aus, hatte einen tollen Körper und war ein charmanter Mann. Nur gab es da ein großes, dickes Aber. Er war ihr Pfleger, er hatte sie schlimm zugerichtet gesehen und sicher wollte er sich nicht eine kaputte Frau, wie sie es war, ans Bein binden. Und ihrer Meinung nach würde sie auch nie wieder eine normale Frau werden können.

Sie verscheuchte die trüben Gedanken, denn das erste Mal seit Wochen fühlte sie sich wohl. Auch wenn ihr Gedächtnis immer noch leer war, der Körper auf Sparflamme lief, so war dieser Ort Balsam für ihre Seele. Allein die Sonne und der Geruch des Meeres ließen wieder Gefühle aufsteigen, die sie noch nicht zuordnen konnte, die aber sehr angenehm waren.

Jon fuhr sie auf die Terrasse und drehte sie so, dass sie das Meer sehen konnte, während er das Gepäck reinbrachte. Gerade fing die Sonne an, langsam am Horizont zu verschwinden. Als der feuerrote Ball das Meer berührte, meinte man, das Zischen zu hören, und die Sonne versank immer mehr.

»Es ist ... wunderschön«, konnte sie nur flüstern, als Jonathan wieder zu ihr heraustrat. Annabell hob langsam ihre rechte Hand und deutete nach vorne.

Sie hörte das Kratzen eines Stuhles, dann setzte er sich neben sie und schaute stumm der untergehenden Sonne zu.

»Aye«, sagte er dann leise. »Wunderschön.«

Seine Stimme ließ sie ihren Kopf drehen und nicht nur das Bild des Sonnenuntergangs, sondern auch das von ihm, würde sich wohl für immer in ihr Gedächtnis einbrennen. Wenn sie nicht wieder einen Unfall erlitt und alles vergaß, schoss es ihr durch den Kopf und sie sah schnell weg.

»Anna, was ist los?«, fragte er sofort alarmiert nach. Ihm war ihr Stimmungswechsel doch nicht entgangen.

Normalerweise war sie auf solche Fragen nie eingegangen und hatte sich wortlos weggedreht. Warum sie ihm heute antwortete, wusste sie nicht. »Warum sollte ich mich anstrengen, wenn doch morgen alles wieder vorbei sein könnte?«

»Was wenn nicht? Annabell, koste jede Sekunde deines Lebens aus, du hast nur dieses eine. Und es gibt Menschen, denen du sehr viel bedeutest, die sich wünschen, dass du wieder an ihrer Seite bist.« Er hatte ihre Hand genommen und als sie ihm nun in die Augen schaute, lag so viel Wärme darin, dass sie um Fassung ringen musste.

»Es wird Zeit, dass du ins Bett kommst. Es war ein langer, und so wie es aussieht, bewegender Tag.« Wieder hatte er gemerkt, dass es nun besser war, sie in Ruhe zu lassen.

Sie musste feststellen, dass nicht nur sie ihn perfekt lesen konnte, sondern Jon auch sie. Dabei hatte sie immer gedacht, dass sie ihre Gefühle gut genug abgeschottet hatte. Dies schien aber nicht wirklich der Fall zu sein.

Als er sie ins Bad schob, sah sie sich dem nächsten Hindernis gegenüber. Zuhause hatte Susan sie abends und morgens fertiggemacht. Aber auch das Baden und die Toilettengänge waren in ihren Aufgabenbereich gefallen. Nun war sie hier alleine mit Jon und auf ihn angewiesen, auch wenn zweimal am Tag eine Pflegerin kommen und ihr bei der Körperpflege helfen würde.

Bestimmt hatte er ihre Unsicherheit gespürt und doch ließ er sich nichts anmerken. Am WC angekommen half er ihr hoch, sie hielt sich an den Griffen, die dort angebracht waren fest, und zog ihr die Hose herunter. Er arbeitete so routiniert, dass für sie kein Schamgefühl entstand und half ihr auf die Toilette.

Erstaunt sah sie, wie er rausging. »Ruf, wenn du fertig bist.«

Sie klammerte sich an die Griffe, dabei saß sie auf der Toilette fast genauso sicher wie in ihrem Rollstuhl. Doch es war das erste Mal, dass sie allein darauf saß.

Nachdem sie fertig war und gerufen hatte, half er ihr beim Säubern und Aufstehen, zeigte dann mit der Hand Richtung Waschbecken.

»Ab heute werden wir dir Stück für Stück deiner Freiheit zurückgeben.«

Erstaunt wusch sie sich die Hände und das Gesicht, dann nahm sie die dargebotene elektrische Zahnbürste. Jon half ihr, diese in den Mund zu befördern, ohne dass sie sich die Paste im Gesicht verteilte und hielt ihren Arm nur, wenn er merkte, dass sie die Kraft verließ.

Auch den Becher mit Wasser zum Ausspülen musste sie selbst halten und sie war sich nicht sicher, ob sie diese Art von Freiheit gerade mochte. Denn die ungewohnt vielen Bewegungen, die sie selbst ausführen musste, taten mittlerweile weh - in Thompsons Retreat hatte sie kaum mitgearbeitet und all diese Dinge nur mit Hilfe von Susan getan.

Danach brachte er sie in ihr Zimmer, welches wirklich wunderschön eingerichtet war, gleichwohl das Bett sie daran erinnerte, dass es nicht kein Ferienparadies sein würde.

Jon legte sie darauf und zog sie um, immer darauf bedacht, sie nicht zu sehr anzuschauen. Woraufhin er ihr allerdings das Schlafshirt nun schon zum dritten Mal falsch über den Kopf ziehen wollte.

»Jon«, seufzte sie. »Ich weiß, dass ich gesagt habe, dass du meinen nackten Körper nicht mehr sehen sollst. Bevor du aber noch einmal versuchst, den Ärmel über den Kopf zu bekommen und mir dabei auch noch die restlichen Haare ausreißt, dann schau verdammt noch mal hin.«

Er hielt inne und auch sie erstarrte. Was war gerade in sie gefahren? Noch nie hatte sie ihn angeblafft oder ihren Unmut geäußert … bis heute.

Sein Blick wandte sich ihr zu, dann grinste er. »Deshalb passt das nicht. Dachte schon, dein Kopf wäre angeschwollen.«

Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er das Shirt gerichtet und ihr übergezogen. Er legte eine dünne Decke über ihre Beine und zeigte dann auf den Knopf neben ihr. »Wenn du dort draufdrückst, dann bin ich innerhalb einer Sekunde bei dir. Gute Nacht, Annabell.«

»Gute Nacht«, murmelte sie, dann hatte er das Licht gelöscht und war verschwunden.

Lange blickte sie in die Dunkelheit, die Gedanken rasten und es dauerte einige Zeit, bis sie eingeschlafen war.

***

Am nächsten Morgen war sie früh wach. Das ungewohnte Vogelkonzert und die Sonne hatten sie aus einem ruhigen Schlaf geholt und als sie merkte, dass Jonathan wohl noch nicht auf war, genoss sie einfach eine Weile die Ruhe. Einst war diese schlimm für sie gewesen, doch hier hatte es etwas sehr Beruhigendes … fast schon Friedliches an sich.

Jon hatte keine Fragen gestellt, als er sie wach vorgefunden hatte. Er hatte die Pflegerin mitgebracht, die sich ab jetzt um ihre Morgen- und Abendtoilette kümmern würde, ansonsten lief alles ab wie am Tag zuvor. Er machte wirklich ernst, dass sie ab sofort mehr alleine machen sollte und auch musste.

Als sie den Weg zum Hauptgebäude nahmen, sog sie tief die Luft ein, genoss das wundervolle Wetter und die Sonne auf ihrer Haut. Auch wenn es sie Überwindung gekostet hatte, so fühlte sie sich jetzt in dem Kleid wirklich wohl. Sie vermied es, ihre Beine, die viel zu dünn waren, anzuschauen.

»Guten Morgen, guten Morgen«, empfing Jessy sie vergnügt. »Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Nachtruhe. Da keine Beschwerden vorliegen, wart ihr zwei Hübschen auch nicht zu laut.«

Sie ignorierte, dass Annabells Kopf wieder die Farbe einer Tomate angenommen hatte, und dirigierte sie direkt zu einem Tisch, an dem zwei junge Männer im Rollstuhl saßen.

»Das sind Steve und Phil. Beide stattliche Männer, wenn sie denn endlich mal ihren Hintern aus den Rollstühlen bekommen würden.«

»Wenn du so weitermachst, Jess, dann springe ich wirklich bald da raus und flüchte vor dir.« Der Phil genannte grinste sie allerdings belustigt an und wandte sich dann an Annabell. »Ich bin Phil. Eigentlich Philipp Drexler. Bis mich die blöde Multiple Sklerose überfiel, war ich ein erfolgreicher Geschäftsmann, und Frauen wie Jess hab ich zum Frühstück verspeist.«

Diese gab Phil prustend einen Klaps auf die Schulter und die beiden lachten ausgelassen.

»Und wer bist du, du bezauberndes Wesen?«

Phil lächelte jetzt Annabell an und wieder nahm ihre Gesichtsfarbe eine dunklere Nuance an.

»Das ist …«, fing Jonathan hinter ihr an, doch sie selbst unterbrach ihn patzig. »Anna, eigentlich Annabell Thompson. Bis mich ein Junkie ins Koma geprügelt hat, soll ich eine lebenslustige Frau gewesen sein, die machte, was ihr gefiel. So wird es mir immer erzählt. Da mir aber nicht nur die Muskeln abhandengekommen sind, sondern auch das Gedächtnis, kann ich nicht beurteilen, wie ich wirklich war.«

Das war der längste Satz, den sie in den letzten Wochen gesprochen hatte. Nur Jonathan wusste das, doch dieser stand immer noch hinter ihrem Rollstuhl, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Obwohl ihre Stimme leichte Verbitterung enthalten hatte, ließen sich Jessy und schon gar nicht Philipp davon beeindrucken. Ganz im Gegenteil, dessen Augen leuchteten regelrecht auf. »Wow, wenn du früher nur halb so viel Feuer hattest wie jetzt … verdammt Jessy, ich muss aus dem Rollstuhl raus. Wobei …«, sein Blick wanderte an Annabell vorbei, »dein Bodyguard mich am liebsten gerade in diesem ganz klein machen würde, wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig deute.«

Besagter räusperte sich in ihrem Rücken, trat neben sie und lächelte ein wenig verkrampft. »Ich besorge uns etwas zum Frühstück.«

»Super, nun hast du ihn eifersüchtig gemacht«, schaltete sich Steve ein, der bis dahin komplett still gewesen war. »Steve Fox. Zusammenstoß mit einem Auto, wobei dieses gewonnen hat. Meine sarkastische Seite habe ich allerdings erst jetzt entdeckt, weil ich nicht vor Jessy fliehen kann und sie mir Phil aufgedrückt hat. Unter uns gesagt, es ist hier ein Folterlager!«

Jessy baute sich neben Steve auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Das werden wir deinem Konto gutschreiben und nachher, mein Freund, wirst du nicht nur eine, sondern drei Runden mit den Delfinen schwimmen.«

Verschmitzt zwinkerte sie Annabell zu. »Ich lasse euch Vier alleine, damit ihr euch besser kennenlernen könnt. Danach stelle ich dich dem Doc vor und wir machen uns ein Bild von deiner Verfassung.«

Jess rauschte zwischen den Tischen hindurch und blieb hier und da kurz stehen, redete und man hörte noch lange ihr Lachen, bis sie den Speisesaal verlassen hatte.

»Bevor dein Aufpasser wiederkommt«, flüsterte ihr Phil verschwörerisch zu. »Seid du und er … nun ja, seid ihr ein Paar?«

Anna sah ihn irritiert an. »Er ist mein Pfleger. Somit weder Bodyguard noch mein Freund.«

Warum redete sie so viel? Bevor Philipp weiter fragen konnte, trat Jon mit zwei Tabletts in der Hand zu ihnen, von denen er eins Annabell hinstellte und sich dann neben sie setzte.

Saft, Kaffee, Früchte und eine Brötchenscheibe mit Schinken belegt, befanden sich auf diesem.

»Das schaffe ich nicht, Jon«, flüsterte sie ihm zu. Sie hasste es, wenn man Essen wegwarf. Sie hasste es?

Zwei kleine Kinder saßen am Tisch und als das Mädchen aufstehen wollte, erklang Emmas Stimme. »Es ist nicht mehr viel, was auf deinem Teller liegt. Aber das isst du jetzt auf. Andere Kinder haben nichts und ich möchte, dass ihr lernt, dass man sich nur so viel nimmt, wie man auch schafft!« Die kleine Annabell nickte und stopfte sich den letzten Rest von ihren Brötchen in den Mund ...

»Siehst du, das hast du doch geschafft«, riss Jonathans Stimme sie aus ihren Gedanken.

Sie legte ihre Hand auf seine und er verstummte sofort. »Ich hatte eine Erinnerung«, stammelte sie. »Wir waren Kinder und Emma schimpfte, weil ich mir zu viel auf den Teller geladen hatte …«

Mit tränenverhangenem Blick sah sie ihn an und er drückte leicht ihre Hand. »Das ist gut, sogar sehr gut, Anna!«

»Wow, einen Tag hier und schon prasseln die Erinnerungen auf dich ein, Bella«, freute sich Phil.

»Ich hasse den Namen Bella«, erwiderte sie entnervt und die Stille am Tisch, ließ wie verwundert alle drei nacheinander anschauen.

Jonathan grinste und drückte ihr einen Kuss auf den Handrücken. »Oh ja, die Entscheidung hierherzukommen war die Allerbeste. Wir sollten jetzt aber los, damit wir nicht zu spät zu deinen Untersuchungen kommen.«

Er räumte alles zusammen und stand auf, um ihr Geschirr wegzubringen.

»Viel Spaß, Be …. Anna, bei den Anwendungen. Und wenn du die Schnauze voll von deinem Bodyguard hast, du weißt, wo du mich findest.« Phil zwinkerte und zog übertrieben die Augenbraue hoch, sodass sie nicht anders konnte und lachte.

»Sollte Phil dich zu sehr nerven, sag mir Bescheid«, mischte sich Steve mit seiner ruhigen Stimme ein. »Ich bin mir sicher, wir können es wie einen Unfall aussehen lassen.«

Schon am ersten Tag und nur kurzer Zeit am Tisch mit den beiden Männern, musste sie immer wieder Schmunzeln und Erinnerungen, die tief vergraben waren, suchten ihren Weg nach draußen.

Heil mich, wenn du kannst

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