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Kapitel 1

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Der Anfang

1188 – 1225

Der junge Mann lugte durch die Zweige der Büsche, die sich oben auf dem Hügel befanden, hindurch. Nachdem er genau gesehen, was er zu sehen befürchtet hatte, drehte er sich um und legte sich auf den Rücken. Sein Bruder tat es ihm gleich. Dann drehten sie ihre Köpfe, bis sie sich ansahen, und nickten einander zu. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, rutschten sie den Hügel auf dem Rasen hinunter und gelangten auf den Pfad, der sich im Laufe von Genera­tionen am Fuße des Hügels gebildet hatte. Er war schmal, denn nur zu Pferd oder zu Fuß wurde er benutzt. Schnell liefen sie in ihr Dorf. Es lag am westlichen Ufer des Flusses Delbende, unweit der Mündung, wo der Fluss in den See Mulne trübes Wasser – floss. Dort waren ihre slawischen Hütten in loser Anordnung im Kreis aufgebaut. Hier wohnten die Polaben schon seit Jahrhunderten. Ihnen fehlte es hier an nichts. Ihre Felder hatten immer genug für die Ernte hervorgebracht. Die nahen Seen und die Flüsse Delbende im Süden und die Stecknetz im Norden boten genug Fische als Mahlzeit. Die vielen Wälder und Felder in der Umgebung ließen eine ertragreiche Jagd zu. Niemals hatten sie es je bereut, hier ihr Dasein zu fristen. Sie hatten sich wohlgefühlt, doch nun sollte alles anders werden.

Prabislaw lief neben seinem jüngeren Bruder Taomir zu der Hütte seines Vaters. Die Hütte war aus Buchenholz erbaut und mit Reet gedeckt worden. Um die Hütten herum waren Gärten angelegt, auf denen Erbsen, Bohnen, verschiedene Laucharten und vielerlei Gemüse, Gewürze und Heilpflanzen wuchsen.

Zum Glück fand er seinen Vater vor der Hütte stehend. Mistiwoi war ein bärtiger Mann von fast vierzig Jahren. Bei den Polaben galt dies schon als hohes Alter. Er war ein ruhiger Mann, den nichts so schnell aus der Ruhe brachte. Seine Söhne dagegen waren hitziger. Sie hatten das Temperament ihrer Mutter geerbt. Die Mutter war vor fünf Jahren bei der Geburt eines Mädchens im Kindbett mitsamt dem Säugling verstorben. Dies war bei den Polaben und den herrschenden medizinischen Verhältnissen keine Besonderheit. Mistiwoi, der gerade dabei war das Fischernetz zu flicken, schaute lächelnd hoch, als er seine aufgewühlten Söhne auf sich zulaufen sah.

„Was habt ihr denn nun wieder ausgefressen?“

„Nichts“, riefen sie im Verbund. „Im Gegenteil. Wir haben Wichtiges gesehen, was du unbedingt wissen musst!“

„Na dann schießt mal los.“

Prabislaw hatte inzwischen seinen Atem wieder gefunden und konnte es nicht erwarten, diese für ihn ungeheure Neuigkeit hinauszuposaunen. Seine Worte überschlugen sich beinahe.

„Sie sind da. Ich habe einen langen Treck mit Siedlern gesehen, die im Süden über die Furt der Delbende übersetzten. So viele Wagen und Menschen habe ich noch nie gesehen. Es sind weit mehr als in unserem Rundling wohnen.“

Die Polaben wohnten wie die meisten slawischen Stämme in Rundlingdörfern. Oft standen nur zehn Hütten im Kreis, wobei die geschlossene Seite in Wassernähe lag. Der Zuweg zum Dorf war an höherer und trockener Stelle gelegen.

„Das überrascht mich nicht. Ich habe schon lange mit ihnen gerechnet. Selbst im nicht so weit entfernten Bredenvelde haben sie sich schon vor Jahren niedergelassen und dort eines ihrer mächtigen Gotteshäuser erbaut. Von den Hufen im Süden habe ich am Rand der Felder schon das Haus der krastajanin erblicken können. Es hat einen spitzen hohen Turm. Jedenfalls wundert es mich nicht, dass sie jetzt auch hierher kommen.“

„Mich auch nicht.“ Die Stimme gehörte dem Starosta, dem Ältesten des Dorfes, und sein Name war Postwoi.

Der temperamentvolle Prabislaw hatte die Lösung für die Frage, die er selbst aussprach, auch gleich parat.

„Was machen wir jetzt? Sollen wir sie vertreiben? Ich bin dabei. Mit meinem Schwert werde ich sie wieder über den Limes zurück jagen.“

Mistiwoi ging zu seinem ältesten Sohn und legte ihm die Hände auf die Schulter. Ruhig sprach er zu Prabislaw.

„Wir werden keinen hier verjagen. Wir sind ein friedliebendes Volk und achten die Gesetze der Gastfreundschaft. Wir führen keinen Krieg mehr, sondern betreiben Ackerbau und Viehzucht. Wenn sie hier in der Nähe siedeln wollen, dann sollen sie es. Wir können alle hier zusammen leben. Es gibt für alle genug Äcker zu pflügen, und in den Wäldern ist genug Wild für alle. Hast du mich verstanden?“

„Aber …“

„Kein aber. Wir müssen in Frieden mit ihnen leben. Sonst kann es unser aller Untergang sein. Von welchem Stamm sind sie denn?“

„Das weiß ich nicht. Aber ich werde es herausfinden.“ Der fünfzehnjährige Prabislaw drehte sich sofort mit dem zwei Jahre jüngeren Taomir um und setzte mit dem familieneigenen Boot über die Delbende über, um an das andere Ufer zu gelangen. Bald war er aus den Augen der beiden Männer verschwunden, die einen Moment lang schwiegen und den Knaben nachdenklich nachgesehen hatten.

„Irgendwann musste es ja geschehen. Nördlich von hier, in Racisburg, und im Westen in Bredenvelde sind die Christen ja schon seit vielen Jahren. Aber bis hierhin hatten sie sich zum siedeln noch nie gewagt. Wir werden wohl mit ihnen leben müssen.“

Der Name Racisburg stammte vom Slawenfürsten Ratibor, kurz Ratse genannt, der die Feste vor über hundert Jahren gegründet hatte.

„Bleibt uns eine andere Wahl?“, fragte Mistiwoi.

„Entweder bleiben wir und versuchen mit ihnen auszukommen, oder wir ziehen weg. Nur wissen wir nicht ob wir dort, wo wir Land finden, ebenfalls willkommen sind, und ob dort ein guter Boden ist, der uns fortwährend ernähren kann. Was wir hier haben wissen wir jedoch. Oder sehe ich das falsch, Starosta?“

Postwoi schüttelte den Kopf. Resigniert sah er auf die Mulne, an deren hinterem rechten Rand sich der Werder erhob. Auf der linken Seite des Werders konnte er von seinem Standort aus die höchste Erhebung erkennen. Dort sah er schon die ersten Christen ankommen und mit der Rodung beginnen. Es gab mal einen Thingplatz dort. Einst hatten sich auch wenige Hütten darauf befunden. Die Polaben nutzen den Werder jedoch nicht mehr.

Seit einigen Jahren hatte sich ein Frachtweg von Süden nach Norden gebildet. Die Händler hatten zusehends den Werder als Rastplatz auserkoren, weil er mittig auf der Strecke zwischen Lubecke und Louwenburg lag. Immer mehr Händler und Kaufleute kamen.

Mistiwoi und Postwoi hatten sich schon öfters über die bevorstehende Besiedelung durch die deutschen Völker in der slawischen Gegend unterhalten. Es war ein Prozess, der schon lange eingesetzt hatte, und überraschte sie eigentlich wenig. Weit im Norden an der Ostsee waren die Wagrier, ebenfalls ein slawisches Volk, ansässig gewesen. Doch dann hatten vor einigen Jahrzehnten Besiedelung und Christianisierung im Verbund begonnen. Unter herzoglicher, gräflicher und später auch bischöflicher Leitung wurden Siedler aus dem ganzen Reich angeworben.

Postwoi hatte als Ältester erfahren, wie im Norden die Polaben und Wagrier durch die von Westen einströmenden Siedler vertrieben oder assimiliert wurden. Einst hatte im Jahr 1143 Graf Adolf von Holstein vom Geschlecht der Schauenburger Boten nach Flandern, Holland, Utrecht, Westfalen und Friesland gesandt, um die Siedler anzulocken. Dies tat er mit den verlockendsten Versprechungen, ihnen die schönsten, geräumigsten, fruchtbarsten und an Fisch und Wild überreichsten Gebiete nebst günstigen Weidegründen und Äckern zu überlassen. Daraufhin brachen die Männer mit ihren Familien und ihrem gesamten Hab und Gut auf, um das versprochene Land in Besitz zu nehmen. Das es noch teilweise mit Slawen bevölkert war störte sie dabei nicht. Der Prozess der Verdrängung war nicht aufzuhalten.

Als dann das Bistum Racisburg 1154 in der neuen Grafschaft Racisburg gegründet wurde, dauerte es nicht lange, bis sich Bischof und Graf gemeinsam nach einer ständigen Einnahmequelle umsahen. Denn das Geld war auch hier knapp. So führten der Graf in den rein slawischen Dörfern der neuen Grafschaft, die gemischt Viehzucht und Ackerbau betrieben, den sogenannten Slawenzins ein, um an Geld zu gelangen. Doch nun ließ der Graf auch hier die Besiedelung durchführen.

Was sollten aber nun die Polaben tun? Die Slawen waren an sich ein fleißiges Volk, welches fest an althergebrachten Traditionen hing. Leidenschaftlich, und weil sie es seit Generationen stets so getan hatten, betrieben sie ihren Ackerbau und die Viehzucht.

In den Wäldern und auf den Wiesen gab es zu damaliger Zeit noch den Bären, Luchs, Elch, Ur, Wisent und den Hirsch. Das Wildgeflügel, welches reichlich vorkam, wurde mit Pfeil und Bogen, Speer, Schlinge, Fallgrube und der Falle gejagt.

In den vielen Seen rund um Mulne gab es viele Fischarten zu fangen. Handel wurde zwar auch, aber nur in geringem Maße betrieben. Vielweiberei war den Männern gestattet, doch dieses Recht wurde fast nur von den Vornehmen in den Sippen ausgeübt. Ihre Rechtsprechung bei Streitfällen war demokratisch. Die slawischen Völker kannten keine Stände, und auch keine erbliche Fürstenwürde. Für solche kleinen polabischen Dörfer wie am Mulne war die Sippengemeinschaft das wichtigste, und der Starosta war nur der Verwalter des Gesamtvermögens der Sippe. Aber wenn die Besiedelung so weiterging, würde von dem kleinen slawischem Dorf, am trüben Wasser gelegen, in naher Zukunft nicht mehr viel übrig bleiben.

Postwoi und Mistiwoi stand schweigend zwischen ihren Hütten und sahen zerknirscht auf die Mulne. All dies war in großer Gefahr. Sie wussten es nur zu genau.

Ihr Weg führte sie geradewegs nach Osten. Prabislav kannte den Weg, und Taomir folgte ihm wie gewohnt. Er hatte hier schon oft mit seinem Bruder, oder seinen wenigen Freunden, spielend verweilt. Hier konnte er seine Phantasien ausleben. Über die wildwachsenden Wiesen liefen sie zum Crusekenberg hinauf. Von dort hatten sie eine hervorragende Sicht auf den tief im Tal gelegenen Werder. Ihnen bot sich ein imposantes Bild.

Der gesamte Werder war eigentlich bis vor einigen Jahrzehnten unbewohnt gewesen. Nur im Süden hatte er einst Landzugang gehabt. Im Osten war ein an einigen Stellen verschieden breiter Graben gelegen. Dieser Graben war nicht tief, und demnach nicht allzu schwer zu durchschreiten. Prabislav hatte es schon früher beim Herumtollen oft probiert. Der Werder hatte eine Länge von einem Kilometer und eine Breite von 500 Metern. Auf dem Werder hatten sich bisher Sträucher, Bäume und Wiesen befunden.

Aber jetzt sollte sich das ihm gewohnte Bild drastisch ändern. Es hatte schon vor einigen Jahrzehnten begonnen. Seitdem waren die mit Salz beladenen Karren vom südlichen Luniburc her über die an der Elbe gelegene Stadt Louwenburg kommend auf den Werder gelangt. Die günstige Lage nutzten sie zur Pause, um nach Lubecke weiterzureisen. Im Laufe der letzten Jahre hatte sich Mulne als Rastplatz einen Namen gemacht. Die vorbeiziehenden Händler und Kaufleute hatten selbst dafür gesorgt, dass am nördlichsten Punkt des Werders eine zweiundsechzig Meter lange Holzbrücke gebaut worden war. Diese verkürzte und erleichterte die Reise enorm.

Aber diesmal waren es keine Händler und Kaufleute, die vorbei zogen und wieder verschwanden. Diesmal waren es Siedler, die für immer bleiben wollten. Von der Landzunge her waren die von Ochsen gezogenen Karren auf den Werder gelangt. Sie standen verstreut auf den Wiesen herum. Sogleich hatten sich die Männer nach ihrer Ankunft an die Arbeit gemacht. Es waren über hundert, die sogleich anfingen den Eichberg abzuholzen. Von den Stämmen wurden die ersten behelfsmäßigen Hütten auf den Wiesen gebaut. So hatten die Siedler erst einmal eine Unterkunft für die Nacht und die kommende kalte Jahreszeit.

Als das geschehen war, ging die Rodung des Eichberges weiter. Die Baumstümpfe wurden mit Ketten und Seilen umschlungen, sodass sie mit vereinter Ochsenkraft aus dem Erdreich gezogen werden konnten.

An anderen Stellen, wo kein Baumbewuchs vorherrschte, wurde durch kontrollierte Brandrodung die Vegetation beseitigt.

Nach wenigen Wochen sah der Eichberg wie ein kahlgeschorener Kopf aus. Prabislav sah von seinem Platz fasziniert zu. Er kannte dies nicht. Deshalb war er täglich auf den Crusekenberg gekommen, um seine Neugierde zu befriedigen. Sein Bruder dagegen hatte nach nur wenigen Tagen das Interesse an den neuen Nachbarn verloren, und war im Dorf geblieben.

Prabislav verfolgte von seinem Platz aus, wie auf der Spitze des Eichbergs eine rechteckige Fläche begradigt wurde. Was darauf entstehen sollte, verstand Prabislav zu der Zeit noch nicht. Danach machten die Arbeiter sich daran, Straßen um den Berg herum anzulegen. Dabei gingen sie nach Plan vor. Die Fläche auf der Spitze nahmen sie als Ausgangspunkt. Da sie sich an die örtlichen Gegebenheiten halten mussten, konnte keine gänzlich kreisrunde Straße um den Mittelpunkt entstehen.

Nachdem die Straßen in groben Zügen angelegt waren, konnten die Männer daran gehen, die Häuser zu bauen. Langsam nahm dieses, in Prabislavs Augen, große Dorf Gestalt an.

Wie Prabislav sah, riss der Zustrom an Siedlern nicht ab. Fast täglich kamen neue Familien hinzu. Es schien beinahe so, als ob der Bau dieser Stadt geplant gewesen sei, denn es waren alle benötigten Berufe anwesend. Niemand war unnütz. Jeder wusste seine Aufgabe aufs beste auszuführen – Tischler, Steinmetze, Maurer, Zimmerleute, Bäcker, Schmiede. Er sah, wie im Norden des Werders eine neue Holzbrücke an der schmalsten Stelle zum Festland errichtet wurde. Dieser Holzbrückenbau ging in Prabislavs Augen sehr zügig voran. Für ihn war es ein Wunder.

Bald wurden von Norden her Waren und Materialien zum Bau der Stadt herangeführt. Ihm entgingen auch nicht die auf dem See heranfahrenden Boote, welche Materialien für die Häuser heranbrachten. Einige waren mit Steinen beladen und lagen äußerst tief im Wasser.

Häuser aus Stein kannte Prabislav nicht. Er sah deshalb täglich ungläubig zu, wie sie wuchsen. An irgend einem Tag konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Es trieb ihn einfach dichter heran, um es mit eigenen Augen aus der Nähe zu sehen. Er verließ seinen sicheren Beobachtungsposten und stieg den steilen Crusekenberg an der östlichen Seite hinab. An einer schmalen Stelle überwand er den Graben und versteckte sich danach hinter den Büschen der Wiese. Schließlich wartete er ab, ob ihn jemand gesehen hatte. Vor ihm grasten die mitgebrachten Tiere der Siedler frei. Dahinter sah er um den Berg herum die Häuser entstehen. Er entschloss sich noch dichter heranzugehen.

Dabei lief er durch die grasenden Schafe hindurch, seinen Blick stets nach vorne auf die unbekannten Häuser gerichtet. Dadurch gebannt, vergaß er alles um sich herum.

Plötzlich wurde Prabislav von hinten gestoßen, sodass er nach vorne strauchelte und fiel. Er landete auf dem Bauch, die Arme von sich gestreckt mit dem Gesicht im Gras, sodass er nicht sehen konnte, wer der Angreifer war. Aber umdrehen konnte er sich auch nicht mehr, denn sogleich hatten sich zwei Gestalten auf seinen Rücken geworfen und seine Arme auf diesem so verschränkt und festgehalten, dass er sich nicht mehr bewegen konnte.

Prabislav hörte Stimmen und laute Rufe in einer Sprache, die er nicht verstand. Dann kamen die Stimmen immer näher, während Ameisen aus dem Gras versuchten auf sein Gesicht zu krabbeln. Er vermochte nur zu pusten und den Kopf zu schütteln, so gut es eben ging.

Endlich löste sich der schmerzhafte Griff, und er konnte sich umdrehen und aufrichten. Schnell massierte er seine Arme, während er sich umsah.

Viele Menschen waren herbeigelaufen und gafften ihn an. So viele wie hier zusammen­standen, hatte er noch nie in seinem Leben auf einem Fleck gesehen. Es waren weit mehr, als in seinem Polabendorf lebten. Die Leute redeten alle durcheinander, aber er verstand kein Wort. Die Sprache klang so fremd und härter als die slawische. Verdutzt sah er sie an. Obwohl er sie nicht verstand, wusste er doch, dass sie ihn nicht gerade höflich begrüßten.

Ein Mann trat vor und ergriff das Wort. Alle verstummten und lauschten den Worten, die er an Prabislav in der fremden Sprache richtete. Prabislav verstand noch immer kein Wort. Also antwortete er dem Mann in seiner Sprache, dass er nicht wisse warum er hier festgehalten werde, und was die Menschen von ihm wollten.

Der Mann machte ein verstehendes Zeichen und winkte einen anderen älteren Mann zu sich. Sie sprachen ein paar Worte, worauf der Hinzugewinkte sich zu Prabislav bückte und ihn vorwurfsvoll in polabisch ansprach.

„Was tust du hier, und wer bist du?“

„Ich bin Prabislav, und will mir nur ansehen, wie ihr die steinernen Hütten baut.“

Der alte Mann glaubte ihm nicht. Verächtlich ließ er es Prabislav wissen.

„Das glauben wir dir nicht. Wie ein Dieb hast du dich angeschlichen. Du wurdest dabei gesehen, wie du unser Vieh stehlen wolltest.“

Als Prabislav das vernahm, fühlte er plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Er wäre nie auf die Idee gekommen, für einen Viehdieb gehalten zu werden. Was die Siedler gewöhnlich mit Viehdieben taten, sagten sie ihm gleich.

„Ich wollte kein Vieh stehlen.“

„Du lügst. Wir haben genau gesehen, wie du dich wie ein Dieb angeschlichen hast. Bei uns herrscht die Sitte, Viehdiebe am nächsten Baum aufzuknüpfen. Wegen deiner jungen Jahre werden wir nicht von unserer Tradition abweichen. Also steh auf, da hinten ist ein großer Baum mit einem kräftigen Ast. Der wird für dich ausreichen. Ein Seil wird schon geholt.“

Der Mann erhob sich und gab in seiner Sprache Anweisungen. Prabislav verstand die Welt nicht mehr. Was hatten diese fremden Menschen nur für Sitten? Er verstand nicht, dass sein junges Leben nun schon beendet sein sollte. Sein Vater würde sicherlich traurig und enttäuscht von ihm sein. Deshalb brachen bei ihm alle Dämme, und er zog den alten Mann mit feuchten Augen am Gewand.

„Ich schwöre beim obersten Gott Radegast, dass ich nicht beabsichtigte, Vieh zu stehlen. Hat jemand gesehen, wie ich auch nur ein Tier angefasst habe? Nein, denn ich wollte euch nur beim Bau der steinernen Hütten zusehen. Das war alles. Deshalb bin ich nähergekommen.“

Der alte Mann horchte auf, da er sich mit den slawischen Sitten auskannte.

Wenn ein Slawe schwor, dann war dies schon etwas Besonderes und Außergewöhnliches, und ehrlich gemeint. Denn für die Polaben, und auch für die anderen slawischen Völker, hieß schwören gleichzeitig sich verschwören gegen den rächenden Zorn der Götter. Wenn er dies tat, so musste dem Jungen also zu glauben sein. Aber sie glaubten ihm noch nicht gänzlich.

„Warum hast du dich denn angeschlichen wie ein Dieb? Wer sich so anschleicht wie du hat Böses im Sinn. So ist es nun mal. Warum bist du nicht wie ein ehrlicher junger Mann aufrecht durch unsere Straßen gegangen? Niemand hätte dich verjagt, oder dir Unrecht zugefügt.“

„Weil ich euch nicht kannte, und eure Sitten. Ich hatte Angst davor, von euch verjagt oder getötet zu werden. Ich wollte euch nur zusehen, wie ihr die steinernen Häuser baut.“

„Hm.“ Der alte Mann war verunsichert und strich seinen grauen Bart. Er wandte sich zu den anderen Männern um, und besprach sich mit ihnen in der fremden Sprache. Bald drehte er sich wieder um.

„Verschwinde. Aber sei gewarnt. Dein junges Alter hat dich zwar diesmal vor dem Strick gerettet. Aber wenn wir dich noch einmal bei unserem Vieh sehen, wirst du augenblicklich aufgehängt. Der Baum dahinten ist immer für dich da, und wird nicht gefällt. Jetzt hau ab.“

„Danke.“ Mehr sagte Prabislav nicht dazu und lief den gleichen Weg, den er gekommen war, so schnell zurück, als ob ihn eine Horde Feinde verfolgen würde. Er hatte einfach nur Angst und war überglücklich, den fremden Männern entkommen zu sein.

Eine ganze Woche lange traute sich Prabislav nicht mehr zum Werder. Seinem Vater hatte er nichts von dem Zwischenfall erzählt. Peinlichkeit war der Grund dafür gewesen.

Doch dann obsiegte seine Neugier. Aber diesmal schlich er sich nicht wie ein Viehdieb heran, sondern ging aufrechten Ganges mit erhobenem Haupt auf dem Weg über den schmalen Zugang zum Werder. Schon von weitem erkannte er, dass die Häuser immer mehr Gestalt annahmen. Haus für Haus entstand, eins nach dem anderen. Dies war möglich, weil jeder jedem half. Zuerst wurde ein hölzernes Gerüst auf der ebenen Erde gebaut. Dann wurden die Zwischenräume mit Steinen und Mörtel aufgefüllt. Als er auf der staubigen Straße zwischen den ersten Häuser ging, waren die Mauern bis in Höhe seines Kopfes errichtet. Prabislav kam aus dem Staunen nicht heraus. Mit offenem Mund ging er durch die Straßen.

Es wurde ihm zuerst gar nicht bewusst, dass sich niemand über seine Anwesenheit aufregte. Deshalb wurde sein Schritt immer sicherer, und das anfänglich unsichere Gefühl in der Magengegend verschwand alsbald. So stolzierte er durch die Straßen der für ihn ungewohnten im Bau befindlichen Stadt. Seine Augen saugten förmlich die wachsenden Gebäude auf.

Als er am nördlichsten Punkt des Werders angelangt war, sah er, wie fünfzehn Männer weiterhin damit beschäftigt waren, eine neue hölzerne Brücke bis ans nördlich gehende Ufer zu errichten. Stück für Stück versenkten sie angespitzte Pfähle in den Grund des Sees, um auf deren Enden Bretter und Balken quer zu befestigen. Auf beiden Seiten sollten hölzerne Geländer der drei Meter breiten Brücke folgen. Sie war so stabil gebaut, dass sie die mit Salz und anderen Gütern schwerbeladenen Fuhrwerke sicher tragen konnte.

Aufmerksam verfolgte Prabislav die Arbeitsweise der geschickten Handwerker. Sein Blick war deshalb so von der Tätigkeit gefangen, dass er nicht bemerkte, wie sich ihm von hinten jemand näherte. Eine breite knöcherige Hand legte sich plötzlich auf seine noch nicht gänzlich ausgebildete Schulter. Prabislav zuckte zusammen.

Dann drehte er sich um und sah in gütig dreinschauende Augen, die er sofort erkannte. Die Augen gehörten zu dem Mann, der mit ihm polabisch auf der Wiese gesprochen hatte.

„Es überrascht mich nicht, dich hier zu sehen. Obwohl ich dich eigentlich schon früher erwartet habe. Dir ist wohl der Schreck gehörig in die Glieder gefahren, oder war gar deine Hose gefüllt? Ha, ha. Na ja, jedenfalls hast du dich diesmal nicht wie ein gewöhnlicher Viehdieb herangeschlichen.“

Das Lachen überzog das Gesicht des alten Mannes, während Prabislav sofort errötete, als er an diese Peinlichkeit erinnert wurde.

„Ich wollte kein Vieh stehlen.“ Prabislav betonte noch einmal seine Unschuld.

„Ist schon gut, mein Junge. Wir hatten nicht vorgehabt, dich aufzuhängen. Wir wollten dir nur einen gehörigen Schrecken und eine Warnung verabreichen, damit du oder sonst jemand von deinen Leuten niemals auf den Gedanken kommt, sich an unserem Eigentum zu vergreifen.“

„Das war nicht nötig“, regte Prabislav sich auf. „Unser Volk ist kein räuberisches. Wir sind ein friedlich bäuerliches.“

„Da ist mir aber schon anderes zu Ohren gekommen. Die Slawen sind dafür bekannt, die westlichen Dörfer hinter dem Limes Saxoniae zu überfallen. Hamburg haben sie zweimal zerstört. Das und andere Überfälle waren ja auch die Gründe für die Entstehung des Limes. Aber das ist lange her, also reden wir nicht mehr darüber.“

„Nein alter Mann, das kann ich so nicht stehen lassen. Das ist nämlich gar nicht wahr. Wenn hier jemand klaut, dann ihr, und zwar unser slawisches Land, auf dem wir seit unendlichen Generationen leben.“

Der alte Mann sah diesem Gefühlsausbruch des jungen Polaben gelassen entgegen.

„Du brauchst dich nicht aufzuregen. Wir haben nicht vor, irgend jemandem hier Land wegzunehmen. Es ist genug Land für euch Slawen und uns da. Das Land auf dem wir jetzt stehen, wurde uns einst vom Grafen Heinrich von Racisburg versprochen, als seine Werber in unsere ehemalige Heimat kamen. Sein Enkel Bernhard III. von Racisburg hat uns selber unter Führung eines von ihm eingesetzten Lokators hierher geführt, und uns dieses Land, auf dem wir jetzt stehen, zugewiesen. Es ist also alles rechtens.“

„Nichts ist rechtens. Ihr gehört hier nicht hin und sollt gehen. Es ist unser slawisches Land.“

Der aufkommende Zorn ließ bei Prabislav jegliches Verständnis vermissen. Mit seinem jugendlichen Hitzkopf verurteilte er alle Siedler pauschal als Landräuber. Es erschien dem alten Mann sinnlos, Prabislav die Umstände der Besiedelung des Werders vernünftig zu erklären. Deshalb ließ der alte Mann Prabislav ohne ein weiteres Wort gehen. Dieser ging auf dem kürzesten Weg in sein slawisches Dorf zurück. Zorn verspürte er plötzlich auf alle Siedler. Sie hatten hier nichts zu suchen, und sollten wieder dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen waren, wo immer diese Land auch sein mochte.

Als er sein Dorf erreichte, sollte sich sein Zorn noch steigern.

Alle Männer des Dorfes standen im Inneren des Rundlings herum und redeten aufgebracht durcheinander. Das war nicht gewöhnlich, denn bei den Polaben war der Starosta der Wortführer bei Versammlungen. An diesem Tag war diese Regel wohl außer Kraft gesetzt worden. Ihre Aufgeregtheit war nur zu offensichtlich.

Prabislav, der immer noch nicht wusste worum es eigentlich ging, stellte sich unauffällig hinter die im Kreis stehenden Männer und folgte gespannt ihren lauten Einwürfen.

„Wie ich vorhin schon sagte, dürfen wir uns das nicht gefallen lassen. Jetzt nehmen sie uns den Slawenzins weg, und erhöhen uns die Abgaben. Aber dies ist nur der Anfang. Wer weiß, was dann noch alles kommt. Deshalb sage ich euch: wir müssen uns wehren. Ab heute wird gar keine Steuer mehr bezahlt. Ich werde niemals ihren Zehnten entrichten. Den Slawenzins habe ich schon unter Magenknurren und mit anschließendem Hunger entrichtet. Aber nun ist Schluss. Ich sage euch, Männer von Mulne, wir müssen kämpfen für unser Recht.“

Der dreißigjährige Zwentepolch mit dem narbigem Gesicht war außer sich. Seine Augen standen vor Wut weit hervor. Seiner Meinung nach wurde sein Volk von dem Grafen Bern­hard III. und seinen Schergen nur ausgesaugt. Und er stand mit seiner aufrührerischen Meinung nicht alleine da. Ungefähr die Hälfte der Männer war für einen Widerstand gegen die Einführung des Zehnten, und die andere Hälfte hatte unter Berücksichtigung des friedlichen Zusammenlebens die erschwerten Bedingungen notwendigerweise geschluckt.

Nun war endlich eine Pause eingetreten. Die Männer der Polaben mussten erst einmal die bis dahin gehörten Worte verdauen, bevor sie weitersprachen.

Dann ergriff Postwoi beschwichtigend das Wort, wobei er fast beschwörend beide Arme mit offenen Handflächen nach vorne haltend, erhob.

Clawak, Menschen von Mulne. Hört mir zu. Was Zwentepolch anführt entspricht nicht der Wahrheit. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wir werden letztlich nicht mehr, sondern weniger Abgaben zahlen. Die Abschaffung des Slawenzinses ist kein Nachteil, wie er so unwissend behauptet, sondern eine zukünftige Verbesserung für uns. Ich werde es euch beweisen.

Heinrich der Löwe hatte vor vielen Jahren den Slawenzins für uns bestimmt. Danach sollte als Zins für jeden polabischen Pflug, der mit zwei Ochsen oder zwei Pferden bespannt war, drei Scheffel1 Weizen und zwölf Stück gangbarer Münzen bezahlt werden. Zusätzlich hatten wir noch einen Top Flachs zur Leinenherstellung und ein Huhn zu entrichten. Dies ist schon eine ganze Menge, was wir bisher entrichtet haben. Da gebe ich Zwentepolch recht. Aber jetzt stelle ich euch einmal die neue Steuer, die als Zehntabgabe deklariert ist, gegenüber. Der Graf zu Racisburg stellte fest, dass wir Slawen nicht im Besitz von Silberpfennigen sind. Woher sollten wir sie auch nehmen? Unsere einzige Möglichkeit an gangbaren Münzen zu gelangen ist der Verkauf unseres Viehes. Aber dann ständen wir ja irgendwann ohne Vieh da. Deshalb wollte er nun von uns je Pflug vier Scheffel Roggen haben. Ich sage euch: Ein Scheffel – oder Kuritze wie wir Polaben sagen – an Roggen mehr abzugeben, ist kein gleichgroßer Wert wie zwölf Silberpfennige, ein Top Flachs und ein Huhn zusammen. Wir stellen uns also insgesamt besser. Ich möchte deshalb, dass ihr noch einmal mit klarem Kopf darüber nachdenkt. Hat noch jemand dazu etwas zu sagen?“

„Ja, ich.“ Tolmir mit seinem dicken Bauch fiel es sichtlich schwer, sich schnell zu erheben.

„Wie kannst du den Worten dieser Eindringlinge glauben? Heute versprechen sie uns den Himmel, wie es die krastajanin gewöhnlich tun, und morgen rauben sie uns unser letztes Vieh. Das genau ist die Befürchtung, die ich eigentlich habe.“

Postwoi verstand diese Einwände. Im Innersten teilte er sie auch. Aber als Ältester des Dorfes war es seine Pflicht, beschwichtigend auf seine Untertanen einzuwirken, damit es zu keiner blutigen Auseinandersetzung käme. Denn dies, so war er sich bei den Göttern sicher, wäre der Untergang der polabischen Siedlung am trüben Wasser. Dies musste verhindert werden. Aber da kam ihm auch gleich der rettende Einfall.

„Männer, hört mir zu. Wie ihr sicher noch wisst, war ich vor wenigen Monaten auf einer Rundreise in den Dörfern unserer polabischen brots2 unterwegs. Dabei gelangte ich nach Linowe3 im Westen. Dort wo es Schleie gibt. Ich ging nach Climpowe4 im Norden. Meine Reise führte mich auch nach Wutsetse5 – das Umgehauene – im Süden. Überall dort leben schon seit Generationen unsere Brüder. Sie haben schon viel früher als wir Kontakt mit den Sachsen und Germanen gehabt. Die Starostas der Dörfer erzählten mir alle übereinstimmend, dass sie den Zehnten entrichteten. Und dies schon seit langer Zeit. Sie sind trotz des üblichen Stöhnens – welches jeder Steuerpflichtige von sich gibt – mit der Zinslast durch den Zehnten zufrieden. Denn dadurch zahlen sie letztendlich weniger als beim früheren Slawenzins. Ich bitte euch, meine Brüder. Bedenkt, dass unsere brots westlich, nördlich und südlich von hier schon länger mit Sachsen zu tun hatten. Anscheinend halten sie ihr Wort.“

Sein Blick wanderte umher. Die meisten Köpfe waren nachdenklich gesenkt. Vor allem die der sich vorher Widersetzenden. Postwois Worte hatten letztlich ihre Wirkung nicht verfehlt.

Nachdem ein Räuspern zu vernehmen war, erhob sich Zwentepolch erneut, und sprach mit klarer Stimme.

„Wer sagt uns, dass das stimmt was du uns erzählst?“ Zwentepolchs Misstrauen war hörbar.

„Ihr kennt mich, seit ihr alle hier lebt. Bin ich etwas als Lügner verschrien?“

Schweigen machte sich breit.

„Wenn das stimmt was du sagst, dann würden wir uns wahrlich nicht verschlechtern. Ich traue allerdings dem Grafen von Racisburg und den feudalen Herrschergeschlechtern im Allge­meinen nicht über den Weg. Deshalb schlage ich vor, dass wir in Ruhe alles noch einmal bedenken. Wir sollten uns morgen noch einmal hier treffen. Dann können wir eine endgültige Entscheidung beschließen.“

Postwoi nickte zustimmend. Er hatte nicht gehofft, die aggressive Stimmung seiner Männer bändigen zu können. Aber die Aussicht auf geringere Steuern ließ anscheinend ihr hitziges Blut abkühlen. Die Versammlung löste sich rasch auf.

Prabislav folgte seinem Vater vor ihre Hütte. Dieser war nachdenklich.

„Vater, was ist genau geschehen, als ich weg war?“

Mistiwoi sah seinen Sohn erst still an. Ein sorgender Blick war nicht zu übersehen.

„Als du fort warst, kam der Steuereintreiber des Grafen mit seinen Schergen angeritten. Er ließ die anwesenden Männer des Dorfes zusammenrufen und las in unserer Sprache vor, das wir ab sofort den Zehnten an Graf und Bischof zu entrichten haben. Es gab Unruhe, und der Steuereintreiber konnte nur mit Gewalt sein Pferd im Zaum halten. Dann ritt er schnell mit seinen Gefolgsleuten davon. Sie hatten sichtlich Angst um ihr Leben. Einige unserer Männer waren so außer sich vor Wut, dass sie ihre Schwerter drohend in die Luft hielten. Du weißt ja was für Hitzköpfe Zwentepolch und ein paar andere sein können. Als daraufhin die Versammlung einberufen wurde, bist du auch gekommen. Den Rest weißt du ja.“

„Genau, ich habe Zwentepolchs Befürchtungen vernommen, und teile sie. Die Siedler sind alle nur Landräuber. Wir müssen sie vertreiben.“

„Nur nicht so hitzig, mein Sohn. Denke weiter. Was würde geschehen, wenn wir die Siedler vertrieben? Andere würden kommen, und ihren Platz einnehmen. Oder noch schlimmer. Es würden Krieger gesandt, um uns zu bestrafen. Das wäre unser Untergang. Ist es das was du willst?“

Prabislav schwieg. Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Sein Hass hatte bisher die wahrscheinlichen Folgen wie eine Decke eingehüllt.

Zwei Tage später half Prabislav seinem Vater auf dem Acker bei der mühsamen Arbeit. Mistiwoi hatte einen Ochsen im Joch vor den Hakenpflug gespannt. Andere taten dies mit Gäulen, doch besaß er keine. Unter einem Pflug Landes verstanden die Slawen diejenige Ackerfläche, die ein Ochsenpaar oder ein Pferd am Tag zu pflügen vermochte.

Ihr Feld lag am Hang eines Hügels und hatte die Größe einer Hufe.6 Früher hatte Mistiwoi Weizen angebaut. Aber jetzt pflügte er für Roggen. Die Zehntabgabe verlangte es. Innerlich war er unsicher, ob die Ernte dieses Jahr genug bringen würde, um den geforderten Zehnten an den Bischof und Grafen entrichten zu können, und noch genügend für die Familie blieb.

Nachdem die Arbeit verrichtet war, führte er den Ochsen zurück ins Dorf. Prabislav begleitete ihn. Er drehte seinen Kopf, als er Hufgetrappel von Süden her vernahm. Er erkannte fünf Reiter, die eine Staubwolke hinter sich herzogen. Sein Vater blieb ebenfalls stehen, den Ochsen immer noch am Zügel haltend.

Bald erkannte Prabislaw zwei der Männer, die unmittelbar vor ihm anhielten. Die Pferde schnaubten. Die beiden alten Männer waren diejenigen, die mit ihm auf dem Werder gesprochen hatten. Derjenige, der seine Sprache sprechen konnte, ergriff auch nun das Wort. Die anderen vier Männer hielten sich still zurück.

„So sehen wir uns wieder.“

Die Stimme des alten Mannes klang freundlich, und war mit einem erkennbaren Lächeln an Prabislav gerichtet. Für ihn antwortete in einem keineswegs freundlichen Ton sein Vater. „Was wollt ihr?“

„Wir haben mit euch zu reden, doch gestattet, dass wir uns zuvor vorstellen. Mein Name ist Reinold. Dies ist mein Herr Konrad Wackerbart, der als Lokator vom Grafen eingesetzt ist. Wir haben mit euch zu reden.“

„Was ist ein Lokator?“

„Graf Bernhard III. aus Racisburg hat den Herrn Konrad beauftragt, Siedler für das südliche Land anzuwerben. Dafür wird er nach einer erfolgreichen Stadtgründung mit Land und Ehren entlohnt werden. Er kam und führte uns hierher, wo nun unsere neue Heimat sein soll.“

„Von wo kommt ihr denn her?“ Bisher hatte Prabislav die Herkunft der Siedler noch nicht herausfinden können. Diese Frage interessierte ihn ebenfalls.

„Wir sind Westfalen. Unser früheres Land lag zwischen den Flüssen Ems, Lippe und Hunte.“

„Dann wisst ihr ja noch, wo ihr hin gehört, und wo der Weg dorthin lang geht. Folgt also einfach eurer eigenen Fährte zurück. Macht euch auf dem Weg nach Westfalen von dannen.“

„Ihr müsst meinen aufgebrachten Sohn entschuldigen. Er ist nicht sehr erfreut über die vielen fremden Menschen.“ Mistiwoi war wie gewöhnlich um ein friedliches Verhältnis bemüht.

„Von Westfalen habe ich schon einmal gehört, doch kann ich mir von den Flüssen und deren Lage kein Bild machen. Wie weit von hier ist den eure westfälische Heimat gelegen?“

„Mit einem Pferd benötigt ein guter und schneller Reiter vier bis fünf Tagesreisen. Mit den Wagen waren wir Wochen unterwegs.“ Reinolds Rücken schmerzte während er sprach.

„Und warum seid ihr nicht dageblieben, sondern dem gräflichem Werber gefolgt, um uns unser Land zu rauben?“ Prabislav konnte nicht davon ablassen, seinen Unwillen über die neuen Nachbarn zu äußern. Mistiwoi wollte deshalb gerade seinen leicht erregbaren Sohn zurechtweisen, als Reinold beschwichtigend die Hand hob.

„Lass ihn ruhig, guter Mann. Uns kann er damit nicht herausfordern. Aber wenn es ihn interessiert, kann ich ihm die Gründe erklären, die uns bewegten in ein neues Land aufzubrechen, und unser alte liebgewordene Heimat zu verlassen.

Seht, dass uns hier das Paradies auf Erden begegnen wird, hat sicherlich niemand von uns erwartet. Sicherlich waren die vielen Menschen in Westfalen ein Grund dafür. Es gab halt nicht mehr genug Grund und Boden, um alle zu ernähren. Aber der wichtigste Grund war, dass es hier genug fruchtbares Land gibt. Wir wollten einfach eine neue Heimat aufbauen. Nennt es Sehnsucht, oder die Suche nach einer besseren Zukunft. Und da kam es uns zugute, dass uns dieses große unbesiedelte Gebiet mit dem fruchtbaren Boden angeboten wurde.“

Vater und Sohn sahen sich darauf wortlos an. Dann fand Mistiwoi die Worte wieder.

„Das hört sich ja gut an aus eurer Sicht, doch sagtet ihr noch nicht, was ihr hier wollt?“

Reinold räusperte sich, und warf einen schnellen Blick auf den Lokator Konrad. Der nickte fast unbemerkt.

„Wir sind gekommen, um euch und eurem ganzen Dorf ein Angebot zu machen, welches ihr nicht ausschlagen könnt.“

„Dann lasst mal hören!“ Mistiwoi wurde neugierig.

„Nicht hier. Ich werde es euch allen im Beisein eures Starosta unterbreiten. Bis dahin übt euch in Geduld.“

„Dann lasst uns in unser Dorf gehen. Ich bin gespannt.“

Die fünf Reiter folgten den beiden Polaben den kurzen Weg ins Dorf. Die friedlichen Bewohner musterten die Westfalen aufmerksam. In ihren Augen war nicht nur Neugierde, sondern auch Misstrauen und eine Spur Furcht zu lesen.

Zwentepolch reagierte mit seinen Mannen jedoch anders. Augenblicklich stürmten sie in ihre Hütten und holten ihre Waffen, die aus Schwertern, Pfeil und Bogen, Äxten, Speeren und Dolchen bestand. Zügig waren sie wieder zur Stelle und drängten sich nach vorne. Sie standen den Reitern gegenüber. Unschlüssig saßen diese auf ihren Pferden. Ihnen war nicht wohl zu Mute. Das änderte sich, als Postwoi in würdevoller Haltung erschien und seiner Pflicht als Starosta nachkam. Mit lauter Stimme übertönte er das Gemurmel und rief zur Ruhe auf.

Brots, senkt die Waffen. Wir wollen unseren Gästen unsere Gastfreundschaft zuteil werden lassen, die sie verdienen. Sie sind in friedlicher Absicht gekommen. Es ziemt sich nicht, so ehrbare Männer ,die uns mit ihrem Besuch beehren, mit Waffen zu empfangen.“

Er wandte sich an die Westfalen und bat sie, von den Pferden zu steigen, um sich an dem kühlen Wasser zu erfrischen, welches ihnen gereicht wurde.

„Nun, was führt euch zu uns?“

Reinold, der als einziger die Sprache der Polaben beherrschte, führte auch hier das Wort. Konrad Wackerbart hielt sich zurück. Er hatte Vertrauen in dessen Verhandlungsgeschick.

„Wir sind vom Werder hergekommen, um euch ein Angebot zu machen, welches ihr nicht ausschlagen könnt. Es ist eine großzügiges Geste unseres Grafen Bernhard, und seines Lokators Konrad Wackerbart, den ihr hier an meiner Seite seht.“

Ein verschmitztes wissendes Lächeln, welches den linken Mundwinkel für den Bruchteil einer Sekunde dem Ohransatz näherbrachte, huschte über Postwois Gesicht. Er war sich sicher, dass er das Angebot schon kannte. Jedoch schien er der Einzige zu sein, denn alle Einwohner des slawischen Dorfes hatten sich derweil versammelt und hingen mit neugierigem und misstrauischem Blick an den Lippen des westfälischen Sprechers.

„Dann sprecht. Euch wird nichts geschehen.“ Dies sagte Postwoi wohlwissend in Hinsicht auf Zwentepolchs Gesellen, die sich in waffenstarrender Haltung unter das Volk gemischt hatten.

„Wir Westfalen sind aus einem fernen Land gekommen, um uns hier niederzulassen und in Frieden mit euch Slawen zu leben. Uns ist wohl bekannt, dass ihr hier schon lange eure Hüten aufgebaut hat. Aber das Land ist fruchtbar und groß genug, um für alle eine gute Ernte abfallen zu lassen. Deshalb liegt es uns am Herzen, mit euch friedlich zusammenzuleben.

Nun sind wir dabei, die Häuser zu errichten. Doch sie sind noch lange nicht fertig. Wir beabsichtigen zu Gottes Ehren ein großes Gotteshaus zu bauen. Dafür benötigen wir starke Männer, die Steine heranschleppen können und handwerklich geschickt sind. Wenn eure slawischen Männer gewillt sind, mit uns unser Gotteshaus und weitere Häuser zu errichten, so wird es euer Schaden nicht sein.“

Postwoi hatte aufmerksam zugehört. Ihn schien das Angebot wahrlich nicht zu überraschen.

„Warum sollten wir mithelfen? Sagt mir und meinem Stamm, welchen Nutzen wir davon hätten? Denn bedenkt, dass euer Gott nicht unser Gott ist.“

Reinold hatte diesen Einwurf erwartet. An alle Einwohner sprach er mit klarer Stimme:

„Einen großen Nutzen werdet ihr haben. Zum Einen bekommt ihr Lohn, zum Anderen erwerbt ihr das Recht in einigen von den errichteten Häusern wohnen zu dürfen. Und zum Dritten erlässt der Graf euch für drei Jahre lang die Zehntlast. Ihr könnt nicht nein sagen.“

Ein lautes Gemurmel ertönte bei den Umherstehenden. Der Dorfälteste hob beschwichtigend die Arme, um zu antworten. Doch sollte er nicht dazu kommen, denn unverhofft hatte sich Zwentepolch aus dem Pulk gelöst und war in die Mitte getreten, dem Lokator und seinem Sprecher genau vor die Augen. Dabei blieb seine Hand bereit, um sein Schwert schnell greifen zu können. Wie selbstverständlich ergriff er mit lauter Stimme das Wort.

„Ich glaubte mich verhört zu haben. Glaubt den krastajanin kein Wort. Jetzt versprechen sie uns alles, nur um billige Arbeitskräfte zu haben. Aber sie erfüllen nicht eins ihrer Versprechen.“

„Das ist nicht wahr. Wir Christen stehen zu unserem Wort. Wir können ein Bündnis schriftlich niederlegen, wenn es euch beruhigen sollte.“

Wutentbrannt stellte Zwentepolch sich genau vor Reinold auf, nahezu Kopf an Kopf. Seine Faust hatte dabei den Griff des Schwertes vollständig umfasst.

„Was ist wohl ein Vertrag mit den krastajanin wert? Ich sage euch, Volk der Polaben. Nichts. Es ist nur ihre Absicht unser Dorf zu zerstören. Seid nicht so dumm, darauf hereinzufallen. Ich warne euch. Seid keine lelek, Weichlinge, sondern erhebt euch, und schüttelt diese Fesseln ab, bevor sie uns allesamt vernichten. Am besten ist es, wir erledigen es gleich hier. Dann sind die anderen ohne vod, führerlos, und irren umher, wie ein kur, Huhn ohne Kopf.“

Mordlüstern funkelten seine Augen. Mit einem Ruck zog er sein Schwert aus der Scheide.

„Molc, schweig.

Aufgebracht, wie man Postwoi gar nicht kannte, gebot er mit einem einzigen Wort Zwentepolch, augenblicklich zu schweigen.

„Zwentepolch, du bringst Schande über uns Polaben. Das Gesetz der Gastfreundschaft verbietet auch dir, unsere Gäste mit dem Schwerte zu bedrohen, geschweige ihnen den Tod angedeihen zu lassen. Stecke sofort dein Schwert zurück, und entschuldige dich beim Lokator für deine Worte, sonst …“

„Was sonst?“ Zwentepolch war außer sich, seinen Augen glühten vor Hass, und es stand nicht mehr in der Macht des Starosta ihn bändigen zu können.

„Willst du mich aus der Dorfgemeinschaft ausschließen?“

„Nach den Gesetzen der Gastfreundschaft, die du soeben gebrochen hast, bleibt uns keine andere Wahl.“

Ein verächtliches Lächeln entrang sich Zwentepolch. „Pah, mit solchen lelek wie euch will ich nicht mehr in einem Dorf leben. Ich gehe freiwillig, und schwöre feierlich, dass ich von nun an gegen die krastajanin kämpfen werde.“

Mit erhobenem Schwert drehte er sich zu dem im Kreis stehenden Volk von Mulne um, und rief alle kampffähigen Männer zum Widerstand auf.

Brots, hört mir zu. Fallt nicht auf die Lügen und leeren Versprechungen der krastajanin herein. Sie wollen nur unser Dorf zerstören und uns entzweien. Kommt deshalb alle mit mir. Wir kämpfen um unsere slawische Freiheit und Ehre. Wer folgt mir?“

Aufmerksam verfolgten alle Anwesenden, wie Zwentepolchs offener Aufruf zur Rebellion aufgenommen wurde. Er hatte zwar nicht den erwünschten Erfolg, aber dennoch traten elf Männer aus dem Kreis heraus und stellten sich demonstrativ an Zwentepolchs Seite. Damit zeigten sie an, dass sie eher gewillt waren als Ausgestoßene zu leben, als sich unter die Fittiche des Grafen und seiner Lakaien zu begeben. Somit war fast die Hälfte aller wehr- und arbeitsfähigen Männer des Dorfes bereit, ihr Dorf und ihre Heimat zu verlassen.

Was Zwentepolch dem Lokator vorgeworfen hatte, und zwar, die Entzweiung des Dorfes im Sinn zu haben, war nun Zwentepolch letztendlich mit seinem Aufruf zur offenen Rebellion innerhalb weniger Minuten selbst gelungen. Somit hörte praktisch in dieser Stunde das slawische Dorf Mulne auf zu existieren. Dies war sicherlich nicht in seiner ursprünglichen Absicht gewesen.

Aber es standen nicht nur elf kampffähige Polaben auf der Seite der Rebellen. Von allen Menschen beobachtet, und sogleich von seinem Vater mit einem missbilligenden Blick begleitet, hatte sich nämlich ein fünfzehnjähriger Jüngling auch auf die Seite der Ausge­stoßenen gestellt. Prabislav stand entschlossen an der Seite Zwentepolchs.

Der Starosta trat einen Schritt vor und sprach laut zu den Aufständischen, sodass jeder seine Stimme vernehmen konnte.

„Von nun an gehört ihr nicht mehr zu dem Volk der Polaben. Dies habt ihr durch euren eigenen Entschluss zu verantworten. Eurer Eigentum gehört von nun an dem Dorf Mulne. Doch nun verschwindet. Ihr seid hier nicht mehr erwünscht und habt hier nichts mehr verloren.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließen die zwölf ausgestoßenen Mulne und trotteten stolz erhobenen Hauptes von dannen. Prabislav hatte nichts Eigenes dabei, außer der aus Hanf gewobenen leinenen Bekleidung, die er am Leibe trug.

Mistiwoi sah mit feuchten Augen seinem Sohn hinterher. Er spürte nicht, wie ihm Postwoi tröstend seine Hand von hinten auf die Schulter legte.

„Verzeih ihm, denn er ist noch ein Kind und weiß nicht, was er tut.“

Mistiwoi nickte und drehte sich zu Postwoi um. „Und nun?“

Der Starosta sah in die Gesichter der umherstehenden Männer und Frauen, und erkannte das ihnen schwerfallende, aber doch deutliche Nicken der Menschen.

Daraufhin wandte er sich an Reinold und den dahinterstehenden Konrad Wackerbart.

„Steht ihr zu eurem Wort?“

„Jedes Wort ist wahr. Der Graf hat sich dafür verbürgt. Uns ist nicht daran gelegen euch als Feinde in unserer Nähe zu haben. Wir brauchen jede helfende Hand.“

Die folgendem Worte fielen Postwoi sichtlich schwer, denn ihm war nur allzu verständlich, dass sich damit das slawische Dorf Mulne praktisch aufgelöst hatte.

„Wir nehmen euer Angebot an und werden für euch arbeiten.“

„Hier bleiben wir.“ Zwentepolchs Männer blieben stehen und warteten auf die nächsten Befehle des selbsternannten Anführers.

Die Männer sahen sich verwundert um, denn weit hatte sie Zwentepolch noch nicht geführt. Sie waren auf der Höhe der Furt, die durch den Fluss Delbende geht, stehen geblieben. Diese war gerade mal so weit von Mulne entfernt, dass sie aus dem Blickfeld des Dorfes entschwunden waren. Der ewig grantige Slaomir rümpfte missmutig die Nase.

„Was sollen wir hier? Wenn wir Westfalen überfallen wollen, sollten wir schon zum Werder gehen, oder uns auf dem Frachtweg auf die Lauer legen. Dort werden wir Beute machen und genügend Westfalen den Kopf einschlagen können. Also was ist?“

Ein Nicken der anderen Männer bestätigte Slaomirs Meinung. Die anderen dachten ebenso.

„Später, Männer. Doch vorher haben wir hier noch eine wichtigere Aufgabe. Wir werden uns hier hinter den Büschen und Bäumen auf die Lauer legen und den Lokator und seine Männer abfangen. Denn er ist ein wichtiger Mann, und es würde uns schon ein Stück voranbringen, wenn er nicht mehr lebte. Lasst aber die Pferde unverletzt und zielt ausschließlich auf die Männer. Es soll keiner am Leben bleiben. Die Pferde dagegen können uns noch von ungeheurem Nutzen sein. In den nächsten Tagen werden wir zum Frachtweg gehen und dort auf weitere Beute warten. Dort werden uns genügend ahnungslose Siedler in die Falle gehen, die wir mit dem Schwert richten können.“

Slaomir und die Übrigen waren mit dem Plan einverstanden. Zufrieden suchten sie sich ein Gebüsch oder einen Baum aus, hinter dem sie sich niederließen. Der verhasste Lokator sollte ruhig mit seinem Gefolge kommen. Sie würden sie schon gebührend empfangen. Der junge Prabislav war stolz darauf, bei diesen Männern sein zu dürfen. Gemeinsam würden sie die Siedler verjagen. Er hatte zwar keine Waffe dabei, hoffte aber sich eine erbeuten zu können.

Die Sonne stand nur noch eine Handbreit über dem Horizont, als die fünf Reiter von Norden herannahten. Sie zogen eine hoch aufgewirbelte Staubwolke hinter sich her, denn sie ritten im Galopp, um noch vor Sonnenuntergang zum Werder zu gelangen. An der Spitze ritten zwei Helme, wie die Soldaten genannt wurden. Dahinter folgten Konrad Wackerbart und Reinold. Zum Schluss ritt der letzte Helm.

Die Reiter zügelten kurz vor der Furt ihre Pferde. Das war der Moment, als Zwentepolch seine rechte Hand, mit der er den Griff des Schwertes umklammerte, in die Höhe streckte.

„Vorwärts.“

Die Polaben stürmten aus ihren natürlichen Verstecken hervor. Vier von ihnen schossen ihre Pfeile ab. Die vorderen Helme stürzten sogleich getroffen von ihren Pferden.

Der Lokator und Reinhold nutzten den Moment ohne innezuhalten und trieben ihre Pferde durch die Furt voran. Der hintere Helm hatte nicht das gleiche Glück. Er war so weit zurück, dass inzwischen die zu Fuß herbeigeeilten Polaben ihn eingekreist hatten. Das Pferd spürte instinktiv die Gefahr und bäumte sich dementsprechend auf. Es stellte sich auf die Hinterbeine und ließ die Vorderbeine kreisen. Der Helm konnte sich bald nicht mehr im Sattel halten und fiel wie eine überreife Frucht herunter. Die Polaben tauchten daraufhin ihre Schwerter in den am Boden liegenden Körper hinein.

Währenddessen schossen die vier Bogenschützen ihre Pfeile auf die durch die Furt flüchtenden zwei Männer ab. Teilweise trafen sie ihr Ziel.

Reinold stürzte an der Schulter getroffen vom Pferd. Der alte Mann fiel augenblicklich ins Wasser. Konrad dagegen hatte mehr Glück. Das Pferd des Lokators wurde im hinteren Teil getroffen, was es nicht sonderlich in der Bewegung hinderte. Die übrigen Pfeile schwirrten an seinem Kopf vorbei. Ohne zurückzusehen, trieb der Lokator sein Pferd durch die Delbende, um das Ufer schnell zu erklimmen. Bald war er zwischen den vielen Bäumen und Sträuchern verschwunden und setzte alleine seinen Ritt zum Werder eilig fort.

Mit keinem Blick sah der Lokator zurück.

Prabislav gewahrte, am Wasser stehend, dass doch noch Leben in Reinold war. Dieser richtete sich triefend mit dem Pfeil in der Schulter auf und stolperte durch den Fluss, bis er am anderen Ufer erschöpft liegen blieb.

Sein Pferd stand wartend in der Mitte des Flusses. Eilig holte Prabislav das Pferd und brachte es Zwentepolch, der stolz über den Erfolg seines ersten von ihm geführten Angriffes war. Seine Männer sammelten sich um ihn.

„Das war sehr gut, wie ihr euch verhalten habt. Wir haben die Westfalen getötet, haben ihre Pferde und ihre Waffen. Schade nur, dass einer entkommen konnte.

„Wollen wir ihm nach?“ Slaomir dürstete nach mehr.

„Nein, wir werden ihn nicht mehr einholen können, dafür ist der Weg zum Werder von hier aus zu kurz. Aber wir müssen dennoch fort von hier. Bald geht die Sonne unter, und wir brauchen noch einen sicheren Unterschlupf für die Nacht. Morgen werden wir ebenfalls über die Furt gehen und den Frachtweg überfallen. Die Beute wartet da auf uns. Also vorwärts.“

Strahlend ergriffen die Männer die Zügel der erbeuteten Pferde und wollten losgehen, als sie die Stimme eines jungen Mannes vernahmen.

„Ich komme nicht mit.“

Zwentepolch drehte sich mit einem verächtlichem Lächeln herum und musterte Prabislav von oben bis unten.

„Was ist mit dir? Ist dir das bisschen Blut auf den Magen geschlagen?“

„Nein, aber ich habe gesehen, dass es unrecht ist, was wir hier tun. Ich will meine Hände nicht mit unschuldigem Blut beschmutzen und dafür gehängt werden.“

„Unrecht sagst du? Was uns geschieht, ist wahres Unrecht. Wir verteidigen uns nur. Also reiß dich zusammen und folge uns.“

„Das werde ich nicht. Mein Vater hat Recht. Wenn wir zu den Waffen greifen, werden wir alle sterben. Wir fordern unseren Untergang heraus.“

„Dein Vater ist ein elender Feigling. Er hat den Mut eines Weibes.“

„Das ist nicht wahr. Nimm das sofort zurück. Mein Vater ist ein schlauer und mutiger Mann. Er hat mehr Verstand als ihr alle zusammen, denn ihr wisst nicht was ihr tut.“

Lachend drehte Zwentepolch sich zu seinen Männern um, deren Verachtung für Prabislav ebenfalls in ihren Gesichtern geschrieben stand.

„Du bist genauso ein lelek wie dein Vater. Ich hätte es wissen müssen, dass du nichts taugst. Beim ersten Anzeichen von Blut fängst du an zu heulen wie ein kleines Mädchen. Komm, verschwinde schon und weine dich am Rock deiner Mutter aus. Ach nein, ich habe vergessen, dass du keine mehr hast. Dann gehe zu einem anderen Weib und heule dich aus. Das hier ist was für Männer, und nicht für Feiglinge.“

Lachend drehten sich die Männer erneut um und gingen gutgelaunt fort. Zwentepolch hatte sich seiner Stellung entsprechend auf ein Pferd gesetzt und ritt hochtrabend voran. Die Polaben folgten ihm.

Als sie sich entfernten, durchschritt Prabislav die Furt des Flusses und ging zu der regungslos daliegenden Gestalt von Reinold. Er wollte den alten Mann hier nicht liegen lassen. Wenigstens beerdigen konnte er ihn. Das war er ihm schuldig.

Um ihn besser ins Waldesinnere schleifen zu können, zog er den Pfeil mit einem Ruck heraus. Ein paar kleine Fleischfetzen blieben an der Spitze hängen, aber das war nicht das, was Prabislav plötzlich zurückweichen ließ. Es war das Zucken des Körpers in Begleitung eines schmerzhaften Stöhnens, welches Reinold entfuhr. Damit hatte Prabislav gar nicht mehr gerechnet. Anscheinend war Reinold doch noch nicht tot.

Mühsam schleifte er Reinolds Körper zum Werder. Der Schweiß lief ihm in die Augen. Mit dem Arm wischte er ihn ab, aber wenige Minuten später musste er erneut anhalten.

Die Sonne hatte inzwischen den Horizont berührt, und das dämmrige Licht übertünchte alles. Bald würde es ganz dunkel sein. Nur ein fahles Mondlicht würde dafür sorgen, dass man die Umrisse der Hand noch vor Augen erkennen konnte. Alle rechtschaffenen Bürger würden dann in ihren Häusern bei Kerzenlicht verweilen. Doch Reinolds Schicksal ließ Prabislav nicht aufgeben. Immer weiter zog er den schweren Mann.

„Halte an, oder du bist des Todes.“

Prabislav verstand nicht die Worte, aber deren Sinn. Er verharrte. Aus der um sich greifenden Dunkelheit schälte sich ein imposanter Reiter auf einem braunen Hengst hervor. Der Reiter war nicht alleine. Kriegsleute folgten ihm in gebührendem Abstand. Prabislav verstand gleich, dass sein Leben in Gefahr war. Ein falsches Zucken, und er würde mit den Pfeilen durchbohrt werden, welche die Helme auf ihn gerichtet hatten.

Da Prabislav unbewaffnet war, hoffte er, dass die Männer seine helfende Absicht erkennen würden. Aber als er in ihre finsteren Gesichter blickte, war er sich nicht mehr so sicher. Zwei Helme nahmen sich Reinolds Körper an und sprachen zu ihrem Herrn in ihrer fremden Sprache. Sein Gesicht hellte sich auf. Obwohl Prabislav noch niemals eines Ritters ansichtig geworden war, wusste er gleich, dass er einen leibhaftigen vor sich hatte. Von Rittern hatte er vernommen, dass diese in das weit entfernte Muselmanenreich geritten waren, um das heilige Land der krastajanin zu befreien. Ein wenig Ehrfurcht ergriff ihn. Aber das nützte ihm wenig, da seine Helfer ihm schleunigst mit einem Band die Arme auf dem Rücken verschnürten. Wie einen Dieb führten sie ihn zum Werder. Von dem Gerede der Rittersleute hatte er zwar kein Wort verstanden. Dennoch fühlte er sich wie ein zum Schafott geführter Mörder. Aber er war keiner. Niemand verstand seine Worte. Nur Reinold vermochte dies, und ob er überhaupt diese Nacht überleben würde, war wahrlich nicht gewiss.

Drei Tage brachte Prabislav nun schon in dem halbfertigen Haus zu, welches in der Nähe der Holzbrücke, die nach Norden führte, lag. Drei Tage folgten, in denen er wie ein Räuber bewacht wurde. Nur ein schleimiger Brei, der in einer Holzschüssel dargebracht wurde, war die einzige Abwechslung, die er in dem dunklen Raum hatte.

Es war der vierte Tag, als ein ihm bekanntes Gesicht in der Türöffnung stand. Zuerst vermochte er den Mann nicht zu erkennen, weil nach den Tagen der Finsternis sich seine Augen erst wieder an das grelle Licht gewöhnen mussten. Doch dann erkannte er ihn wieder. Es war Konrad Wackerbart.

Der Lokator ließ ihn mit einer Geste wissen, er solle ihm folgen. Zuerst war er wackelig auf den Beinen, doch der Weg war nicht weit. Er wurde in ein Gebäude geführt, welches ihm sogleich als ein Haus eines mächtigen Menschen vorkam. Obwohl es noch lange nicht fertig war, dachte sich Prabislav sofort, dass es das Haus des Lokators, oder einer noch höheren Persönlichkeit sein musste. Der Lokator führte ihn in einen hinteren Raum, der nur spärlich eingerichtet war. In diesem Raum lag eine Pritsche, die mit frischem Heu ausgelegt war. Auf ihr ruhte Reinold. Seine Hände lagen gefaltet auf seinem Bauch. War er tot?

Unbeweglich lag er da, und seine Augen waren geschlossen Dennoch machte Prabislaw in dem schummrigem Licht des Raumes so etwas wie Frieden auf dem Antlitz aus. Frieden, den er ihm gönnte. Es war ein komisches Gefühl. Immer, wenn er Reinold getroffen hatte, war es kein erfreulicher Anlass gewesen, oder sie waren im Streit auseinandergegangen. Aber dennoch hatte Prabislav ein seltsames Vertrauen zu dem alten Mann, welches nicht mit Ver­nunft zu erklären war. Deshalb hatte er ihn an der Furt nicht zum Sterben zurück gelassen.

„Komm näher. Wie ich hörte, hast du mir das Leben gerettet. Dafür will ich dir danken.“

Prabislav folgte der Aufforderung. Ein Schleier der Erschöpfung lag noch über Reinold.

„Es ist nicht so, wie du denkst. Ich habe dir nur später geholfen. Zuerst hatte ich finstere Absichten und wollte deinen Tod.“

Reinold richtete sich auf und sah dem jungen Mann direkt in die Augen.

„Ich weiß alles. Und gerade deshalb gilt mein Dank dir ganz besonders. Was du getan hast ist mehr wert und viel schwerer zu tun. In deinem jugendlichen Hass hast du dich von Zwentepolch einlullen lassen. Du warst bereit zu töten. Doch dann, als du den Irrsinn gesehen hattest, hast du dich eines Besseren besinnt, und wolltest aussteigen. Dazu gehört viel Mut, und vor allem der Mut, es den ausgewachsenen Männern zu sagen. Dir war ja bewusst, dass sie dich dafür verachten würden. Und anschließend hast du die Qual auf dich genommen, mich fast bis zum Werder zu schleppen, obwohl du wusstest, dass ich bald hätte tot sein können.“

„Das hätte jeder getan.“

„Sei nicht so bescheiden. Das sehe ich anders.“

„Aber als dann der Ritter mit seinen Mannen auftauchte und mich für vier Tage in das Haus einsperrte, dachte ich daran, sterben zu müssen Was war geschehen?“

„Ha“, der Gedanke daran schien Reinold zu belustigen. „Du bist an den Ritter Detlef geraten. Er war seit Tagen hier, um am Mulne Rast einzulegen, als Konrad mit seinem verwundeten Pferd zurückkam. Schnell verbreitete sich die Nachricht, dass Polaben ihn und seinen Trupp überfallen hatten. Wie es um mich stand, wusste der Lokator nicht zu berichten. Er dankte Gott, dass er auf den Ritter Detlef gestoßen war, und bat ihn, sich meiner anzunehmen und die Polaben zu bestrafen. Sie waren noch nicht weit gekommen, als du ihnen in die Hände fielst. Natürlich dachten sie, dass du für meinen Tod verantwortlich wärst und wollten dich der Gerichtsbarkeit übergeben. Hängen wäre die Folge gewesen. Klugerweise warteten sie jedoch zuerst meine Genesung ab. Als ich wieder zu mir kam, klärte sich die Angelegenheit soweit auf, dass du mich hierher bringen wolltest, um mich zu retten, weil du noch Leben in mir gespürt hattest. Ist es so gewesen?“

Prabislav nickte.

„Es war für mich schrecklich dich tot zu sehen. Erst wollte ich dir ein Begräbnis zukommen lassen, damit du nicht von Wölfen und anderem Getier gefressen wirst. Doch dann erkannte ich, dass noch Leben in dir war und wollte dich retten. Aber plötzlich stand dieser Ritter vor mir. Ein beeindruckender Mann. Erzähle mir von ihm. War er auch auf einem von diesen Kreuzzügen von denen ich hörte, dass dies die Ritter tun?“

„Oh ja. Detlef ist ein edler Ritter, der einen Kreuzzug mitgemacht hat.“

Reinold schmunzelte selbst angesichts seiner Worte.

„Was ist denn Detlef für ein Mensch?“

„Weißt du, von einem edlen Ritter werden viele Eigenschaften erwartet: ein maßvolles Leben, ritterliches Ansehen und Würde, Treue, Demut, Freigiebigkeit, Würde, Freundlichkeit und Tapferkeit. All diese Eigenschaften vereinbart Detlev in sich. Durch solche Ritter wie ihn ist der Ritterstand zu dem geworden, den er heute darstellt.“

„Ich möchte auch ein Ritter sein. Ritter Prabislav, hört sich doch gut an, oder nicht?“

Prabislavs Naivität belustigte Reinold.

„Dein Wunsch ehrt dich. Erlerne du erst einmal unsere Sprache, damit du fähig bist hier dein Brot verdienen zu können. Das ist erst einmal das Wichtigste. Dann kannst du dir immer noch die Sporen als Knappe eines Ritters verdienen. Aber bis dahin solltest du einem Handwerk nachgehen, welches dir dein tägliches Brot gibt.“

„Warum kann ich jetzt nicht ein Schildknappe Detlefs sein? Eure seltsame Sprache lerne ich schon dabei.“

„Ganz so einfach wie du denkst ist es nicht, ein Schildknappe zu werden. Normalerweise beginnen sie ihre Lehrzeit schon mit dem siebten Lebensjahr als Page. Mit vierzehn Jahren gar werden sie unter feierlichem Zeremoniell und Überreichung eines geweihten Kurz­schwertes durch einen Priester vor dem Altar zum Knappen ernannt. Über dieses Alter bist du schon hinweg, und ein getaufter Christ bist du auch nicht. Der Knappe muss seinem Herrn beim Anlegen der Rüstung behilflich sein, die Waffen instand halten und die Pferde pflegen. Auf Kriegszügen und zu Turnieren hat er ihn zu begleiten, ihm die Waffen zu reichen und in jeder Beziehung für ihn zu sorgen. Wenn ein Schildknappe mit einundzwanzig Jahren sich durch Mut und Treue ausgezeichnet hat, empfängt er die Schwertleite oder den Ritterschlag. Aber selbst das ist nicht gewiss, da ein Ritter aus gutem Hause, wenn nicht sogar adelig, sein muss. Doch ein Ritter muss auch die Rüstung, Pferde, Waffen und jegliches aus eigenem Beutel bezahlen. Viele Gold- und Silberstücke sind daher vonnöten. Und ich glaube nicht, dass du eine Truhe voll Goldstücke dein Eigen nennst.“

Die Enttäuschung erfasste Prabislav. Ein soeben erwachter Traum zerplatzte.

„Meinst du nicht, dass Detlef mit sich reden lässt?“

Reinold schüttelte den Kopf. „Erstens hat Ritter Detlev schon einen Knappen. Und zum anderen reist er bald wieder ab.“

„Wie, er reist ab? Wohin? Wieder auf einen Kreuzzug?“

„Diesmal hast du richtig geraten. Detlef hat vernommen, dass der Kaiser Heinrich VI, Sohn des legendären Barbarossa aus der Familie der Staufer, einen Kreuzzug plant. Er selbst befindet sich schon auf dem Weg nach Sizilien, wo die Ritter sich sammeln, um gemeinsam nach Jerusalem zu ziehen. Ritter Detlef wird baldigst nach Messina aufbrechen.“

Der gesenkte Kopf Prabislavs sprach Bände.

„Kopf hoch, mein Junge. Du wirst schon deinen Weg auch ohne Schwertleite und Ritterschlag gehen. Helfe uns hier in Mulne. Hier ist dein Zuhause.“

„Das heißt, dass ich hier bleiben kann?“

„Der Lokator und ich hatten in eurem Dorf doch verkündet, dass bei uns Platz für euch ist. Das war nicht gelogen. Willkommen im neuen Mulne.

Das Klopfen an der Tür klang eilig. Da sein Bruder Taomir sich nicht im großen Haus befand, ging Prabislaw selbst zur Tür und öffnete sie.

„Hallo Johannes. Ich bin bereit.“

Prabislaw verschloss seine Haustür in der Seestrate und ging mit seinem Freund von dannen. Der Abend war kühl, deshalb hatte er seinen Heuke, einen aus Wolle bestehenden mantel­artigen Umhang ohne Ärmel, übergehängt. Sie hatten beschlossen, den Abend im Krug in der Pinnowerstrate zu verbringen.

Als sie am Haus des Bäckers Gottfried vorbeigingen, verlangsamte Prabislaw für einen Moment seinen Schritt. Fast unbemerkt warf er einen Blick auf das Haus des Bäckers Gottfried, an dessen brauner Tür sie gerade vorbeigingen. Aber nur fast unbemerkt. Johannes war Prabislavs bester Freund und kannte ihn daher genau. Deshalb war ihm der verstohlene Blick zum Haus des Bäckers nicht entgangen.

„Wann willst du deine Angebetete denn nun heiraten?“

„Wenn ihr Vater, der geldgierige Strolch, nicht solche hohen Forderungen als Morgengabe verlangen würde, wären wir schon längst verheiratet. Er rückt keinen Witten7 von seiner horrenden Forderung ab. Was er verlangt, kann nur ein reicher Edelmann aufbringen. Mir sind deshalb die Hände gebunden.“

Als Prabislav daran erinnert wurde, wie der Bäcker um seine Tochter schacherte, verfinsterte sich sogleich sein Gesicht, und seine Faust ballte sich. Die Morgengabe, die der pistor, wie der Bäcker genannt wurde, von dem Freier seiner Tochter forderte, war das Geschenk des Mannes an die Ehefrau am Morgen nach der Hochzeitsnacht. Sie wurde vor der Toslach, der Verlobung, die vor hohen Zeugen wie Ratsmitgliedern eingegangen wurde, wie ein Kauf­manns­geschäft ausgehandelt. Die Morgengabe war eigentlich dazu gedacht, zur freien Verfügung der Frau zu stehen, sollte der Ehemann vorzeitig verscheiden, und somit ihrer Versorgung als Witwe dienen.

Prabislavs Verdienst war nicht gering. Dennoch würde er noch Jahre brauchen, um die siebenhundert Mark zusammenzubekommen, die Gottfried, der pistor, von ihm verlangte.

Ja, eigentlich ging es Prabislav nicht schlecht. Er war Schreiber des Lokators Konrad Wackerbart und der führenden Patriarchen des Ortes Mulne geworden. Stadträte konnten sich die hohen Bürger noch nicht nennen, weil Mulne keine Stadtrechte besaß, aber dies sollte sich nach ihrem Wunsche bald ändern. Einst hatte man gehofft, das vom Grafen Adolf von Dassel, oder vom König Otto IV., die lübischen Stadtrechte verliehen werden würden. Doch diese Möglichkeit bestand nun nicht mehr nach der Flucht des Grafen Adolf von Dassel.

Von Reinold angetrieben hatte Prabislav, nachdem er die deutsche Sprache beherrschte, zuerst zögerlich aber dann intensiv Lesen und Schreiben gelernt. Schnell hatte Reinold das schlummernde Talent des Slawen ausgemacht. Er förderte die bald perfekte Schreibkunst des jungen Mannes und verschaffte ihm Arbeit beim Lokator. Für die bildliche Ausschmückung der Buchstaben entwickelte Prabislav ein solches Geschick, wie es ansonsten nur die für diese Kunst berühmten Mönche in den Klöstern hatten, dass Konrad Wackerbart gar vor Staunen die Augenbraue hochzog. Ihn verwunderte stets, in welch kurzer Zeit von nur drei Jahren Prabislav seine Schreibkunst erlernte hatte.

„Lass dich davon nicht unterkriegen. Wenn Gottfried sieht, was du für ein fleißiger Mann bist, wird er dir seine Tochter schon geben und mit dem Preis herunter gehen. Nicht aufgeben.“

„Das ist leicht gesagt. Wie ich Gottfried einschätze, wird er keinen Witten weniger an Morgengabe verlangen.“

„Dann musst du eben mehr Wachstafeln und Pergamente beschreiben, um das Geld zusammenzubekommen. Oder willst du ewig ohne Weib in dem Haus wohnen? Bald wirst du ganz alleine in deinem Haus sein.“

Johannes war sein bester Freund, und das nicht zu Unrecht. Er lag nicht daneben mit der Behauptung, dass Prabislav bald alleine sein würde. Unwillkürlich wurde er an den schmerzvollen Augenblick erinnert, als er von der Todesnachricht erfahren hatte. Sein Vater war plötzlich erstickt. Einfach so. Dieser herzensgute Mensch hatte keine Luft mehr bekommen. Es war nicht das erste Mal, das ging schon einige Monde so. Aber es war niemals so heftig gewesen. Vereinzelt klagte Mistiwoi über Luftknappheit, hechelte nach ihr und fasste sich dabei an die Kehle. Der Bader, den er aufgesucht hatte, verfügte auch nur über beschränkte Kenntnisse. So einen Fall hatte er noch nie behandelt.

Aber wer hätte geahnt, dass er davon so schnell sterben würde. Der überraschende Tod war jetzt ein Jahr her gewesen. Seitdem hatte sich Taomir langsam, aber erkennbar von ihm gelöst. Taomir war ein junger Mann geworden, der seinen eigenen Weg gehen wollte. Den großen Bruder brauchte er nicht mehr dafür. Nur noch zum Schlafen kam Taomir in das Haus, wenn überhaupt. Taomir befand sich in der Lehre bei einem Kaufmann. Es war Taomirs Traum, ein angesehener Kaufmann der Hanse zu werden. Es war daher nur noch eine Frage der Zeit, bis die Entfremdung zu seinem Bruder so weit fortgeschritten war, dass er auch nicht mehr zum Schlafen kam und in die Hansestädte wechselte. Johannes hatte Recht. Bald würde er ganz alleine sein. Es war an der Zeit eine Familie zu gründen. Als gestandener Mann mit ausreichendem Lohn war Helene die richtige Frau für ihn. Er würde um sie kämpfen und diesem Bäcker zeigen, dass er seine Tochter verdient hatte.

„Ich werde Helene bekommen.“

Johannes hielt kurz an, hielt seinen Freund am Arm fest und drehte Prabislav zu sich, sodass sie sich trotz der geringen Beleuchtung in der Seestraße genau in die Augen sehen konnten.

„Ich liebe sie über alles,“ setze Prabislav voller Überzeugung noch hinzu.

„Dann beeil dich, bevor dir jemand zuvorkommt. Du bist nicht der einzige Mann in Mulne, der ein Auge auf Helene geworfen hat. Ein gutgemeinter Rat von mir.“

Prabislav stockte. Ein Gefühl der Angst auf einen bevorstehenden Verlust ergriff ihn. Er verstand den wohlgemeinten Rat und nickte.

Ach, wie einfach war früher das Leben als Kind gewesen. Aber heute? Probleme, Arbeiten und Pflichten. Der Kampf um das tägliche Brot. Gab es denn in der Welt der Erwachsenen nichts anderes? Seine Gedanken schweiften ab.

Die Erinnerungen schweiften in die Zeit seiner Kindheit zurück, als er noch in dem pola­bischen Dorf wohnte. Es war für ihn eine schöne Zeit gewesen. Doch dieses Dorf gab es nicht mehr. Vor wenigen Wochen hatte es ihn noch einmal dorthin gezogen, doch er hätte es lieber lassen sollen. Außer verfallenen Hütten fand er nichts mehr vor. Alle Polaben waren in die Stadt gezogen, oder einige wenige auch weiter nach Osten.

Als er weiter in seinen Erinnerungen schwelgte, dachte er auch wieder an Zwentepolch. Kein Ritter Detlev, kein anderer Mann des Rechtes hatte es verstanden, Zwentepolch und seiner Räuberbande inzwischen habhaft zu werden. Er hatte noch von einigen Raubüberfällen entlang der Via Regia gehört, doch dann verebbten die Nachrichten über die Vogelfreien. Er wusste nicht, was aus ihnen geworden war.

Doch jetzt war er hier mit seinem Freund. Durch einen leichten Schubser holte Johannes ihn aus seiner Traumwelt zurück.

„Was ist, Prabislaw? Warst du wieder in Gedanken versunken?“

„Nein, nein. Nichts ist.“

Bald betraten sie den Krug in der Pinnowerstrate. Da es nur zwei Krüge in dem noch recht jungen Ort Mulne gab, war dieser zu der abendlichen Zeit gut besucht. Andere Ablenkungen und Zerstreuungen als in Gemeinschaft einen Humpen Bier hinunterzustürzen gab es nicht. Hier trafen sich mehr oder weniger aus Langeweile und aus Neugier die Bürger des Ortes. Wenn es eine Neuigkeit gab – und mochte sie noch so banal sein – so wurde sie hier verkündet und verbreitete sich rasch.

Johannes und sein Freund setzen sich an einen Tisch in der hinteren Ecke des Saales, wo sie noch Platz fanden. Das Gegröle der Männer waren sie gewohnt. Der Wirt brachte ihnen zwei Humpen, deren Inhalt sie sogleich in ihre durstigen Kehlen schütteten.

„Ob Thiedardus bald kommt?“ Prabislav setzte eine sorgenvolle Miene auf.

„Wenn er überhaupt kommt. In diesen unruhigen Zeiten, in denen der Krieg auch in die Gassen Mulnes getragen werden kann, ist alles möglich. Vielleicht ist er mit seiner Abordnung zwischen die Fronten der Lubecker und der Dänen geraten.“

„Sieh es mal nicht so pessimistisch. Soviel ich weiß, wollen die Lubecker ihre Stadt den Dänen freiwillig übergeben. Ich glaube nicht, dass es zur Schlacht kommt.“

„Wenn du meinst? Freiwillig übergeben die Lubecker ihre Stadt bestimmt nicht. Sie haben nur Angst, dass ihre Schiffe nicht mehr aus der Trave herauskommen, oder von den Dänen auf See aufgebracht werden. Schließlich würde ihnen unter anderem der lukrative Heringsmarkt in Schonen wegbrechen. Das Geschäft um das lukrative Salz, welches die Schonen benötigen, würde an ihnen vorbeiziehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Ratsherren aus Lubecke ihre Treue ausschließlich nach dem Wind des lukrativsten Geschäftes richteten.“

„Du hast Recht, doch geht es bei unserer Abordnung Werdagos nicht um die Lubecker. Wir haben unsere eigenen Interessen. Meinst du, sie hatten beim dänischen Herzog Erfolg?“

„Ich weiß es nicht, doch werden wir alles von Thiedardus erfahren. Er war schließlich beim Treffen dabei und ist gerade durch die Tür eingetreten.“

Voller Erwartung sahen beide zum Eingang, wo sich in diesem Moment die Tür schloss, nachdem ein junger Mann hereingetreten war.

Thiedardus war wenige Jahre älter als Johannes und Prabislav. Diese drei waren die besten Freunde und verbrachten ihre freie Zeit meist miteinander. Thiedardus erblickte sogleich seine Freunde. Als er den Tisch erreicht hatte, streifte er seine Gugel, eine Kapuze mit angesetztem Kragen, vom Kopf ab. Es erschienen seine langen blonden Haare, die hinten auf dem Kragen auflagen. Seine Augen blickten müde die Freunde an. Doch war in den erschöpften Augen nicht zu erkennen, ob die Mission der Männer von Mulne erfolgreich gewesen war.

„Was kannst du uns verkünden, Freund?“

Dum spiro spero.

Prabislav verstand sofort. Thiedardus hatte nämlich die manchmal für Johannes störende Angewohnheit, seine Kommentare in lateinische Wörter zu verkleiden. Prabislav hatte in seiner umfassenden Ausbildung Latein in Wort und Schrift erlernt und beherrschte diese Sprache. Johannes dagegen verstand sie nicht und sah unwissend sein Gegenüber an.

„Was hat er gemeint?“

Solange ich atme, hoffe ich.“ Prabislav klärte seinen Freund auf und wies Thiedardus an, am Tisch Platz zu nehmen. Darauf winkte er dem Wirt zu, dem Neuankömmling einen Humpen Bier zu bringen.

„Es war also nicht erfolgreich. Was ist geschehen?“ Johannes konnte es nicht erwarten, den Bericht zu hören.

„Um es vorweg zu nehmen, wir werden vorerst keine Stadtrechte haben.“

„Aber warum? Mulne ist in den letzten Jahren dermaßen gewachsen, dass es berechtigt ist endlich die Stadtrechte zu erhalten.“ Johannes war aufgebracht.

Referat“, forderte Prabislaw den blonden Thiedardus auf.

Relata refero.“ Dieser folgte der Aufforderung, seinen Bericht abzuliefern.

„Werdago und ich, sowie acht andere Patriarchen, welche die ersten Ratsmitglieder von Mulne werden wollen, sind in den ersten Morgenstunden aufgebrochen. Als wir Bredenvelde erreicht hatten, waren wir nicht einmal die Ersten. Die nominatiores Lubeckes, welche die angesehensten Bürger der Stadt waren, hatten sich mit einem großen Gefolge versammelt. Sie trugen ihre besten Gewänder und brachten Geschenke für den dänischen Herzog Waldemar mit. Dann kam endlich Waldemar mit einem eindrucksvollen Heer von einigen Tausend Reitern und vom Fußvolk begleitet herbei. Von weitem sah man die Banner und Wimpel seines Heeres im Wind flattern. Nachdem er Racisburg nach der Flucht des Grafen Adolf von Dassels ohne Gegenwehr eingenommen hatte, gehört ihm die gesamte Grafschaft Racisburg.

Die Situation der Grafschaft Racisburg war allen ausreichend zu diesem Zeitpunkt im November Anno Domini 1201 bekannt. Einst gehörte sie dem Grafen Bernhard II. von Ratzeburg, der vor sechs Jahren verstorben war. Er hinterließ die Grafschaft seinem einzigen Sohn, Bernhard III. Doch als dieser ein Jahr später verstarb, erlosch das Geschlecht der Badwide. Der kriegerische Graf Adolf von Dassel vermählte sich nun mit der Mutter Bernhards III., der Gräfin Adelheid. Somit erhielt er die Grafschaft Racisburg.

Zusammen mit seinem Verwandten und Vertrauten, dem verhassten Grafen Adolf III. von Schauenburg und Holstein, versuchten sie ihre Gebiete vor den heranstürmenden Dänen zu schützen. Graf Adolf III. hatte den Ruf eines Tyrannen. Aus diesem Grund waren auch viele Verbündete wie die Dithmarscher offen gegen ihn zu Felde gezogen, und hatten sich mit den nach Süden drängenden Dänen verbündet. Der Siegeszug der Dänen war nicht mehr aufzuhalten, und er wollte mit seiner Flucht einem Verrat seiner Untertanen zuvorkommen.

Die Racisburger zogen erst zur Louwenburg, dann aber zogen sie aus Furcht vor einem dänischen Angriff dem Herzog Waldemar entgegen und ergaben sich.

Froh darüber zog Waldemar an Mulne vorbei nach Racisburg. Als er die Hauptstadt der Grafschaft eingenommen hatte, fielen ihm auch die Ortschaften Gadebusch und Wittenburg zu. Von der Racisburg aus zog der dann wohlgelaunt zu dem Treffen mit den Abgesandten der Stadt Lubecke nach Bredenvelde.

„Was geschah dann?“

Johannes wurde ungeduldig. Er sehnte sich danach, seine unendliche Neugier endlich befriedigen zu können. Unruhig spielte er mit den Fingern seiner Hand. Thiedardus sah seinen Freund nachsichtig an und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen.

Mundus vult decipi, ergo decipiatur.“

“Was meint er denn nun wieder damit? Prabislav, er weiß genau, dass ich der lateinischen Sprache nicht mächtig bin. Sag ihm, er soll gefälligst deutsch mit mir reden.“

Prabislav lächelte, und klärte den ungeduldigen Freund auf.

„Er sagte, die Welt will betrogen werden, also soll sie betrogen werden.“

„Und wie soll ich das nun wieder verstehen?“

Thiedardus sah von seinem Bier auf, und Johannes genau in die Augen. Sein Blick war müde, und wenig Hoffnung sowie eine gewisse Enttäuschung waren darin zu lesen.

„Wenn ihr dabei gewesen wärt, wüsstet ihr, wovon ich spreche. Die Lubecker haben sich wie die Speichellecker aufgeführt. Aber auch wenn dies nicht gerade einem starkem Charakter entspricht, so muss ich ihnen letztendlich doch Respekt zollen, denn ihre Rechnung ging letztendlich auf. Herzog Waldemar sprach von der civitatem famosam Lubeke, sciens nomen suum dilatari, si tante civitati dominaretur. Die Lubecker übergaben ihm Lubecke, und erhielten daraufhin zugleich die Zusage, dass die an den Küsten Schonens festgehaltenen lubekischen Schiffe und Seeleute wieder nach Lubecke zurückreisen dürfen.“

Diese Nachricht war eigentlich keine Überraschung. Johannes verstand sofort. Das war auch schon vorher seine Ansicht gewesen.

„Ja, das ist kein Wunder. Die Lubecker Bürgerschaft hatte nämlich beraten, wie sie sich den angreifenden Dänen gegenüber verhalten sollte. Ein Krieg wäre für sie verheerend gewesen. Deshalb einigten sie sich darauf, ihre Stadt den Dänen ohne Kampf zu übergeben. König Knud VI. kontrolliert ja alle für Lubecke wichtigen Handelsstraßen zu Wasser und zu Lande. Er braucht nur mit den Fingern zu schnippen, und in Lubecke wird kein Witten mehr verdient. Der gesamte Handel würde zum Erliegen kommen. Die Staufer und Welfen sind mit sich selber so beschäftigt, dass sie keine wahre Hilfe sein können.“

„Richtig,“ gab Thiedardus kund. „Jetzt hoffen sie, dass sie durch den Herrschaftswechsel sogar noch größere Vorteile haben, und dass Knud nun den Handel ihrer Stadt noch fördern wird.“

„Davon ist wohl auszugehen. Die Lubecker Bürgerschaft hat viel unternommen, um ihre Gewinne zu erhöhen. Sie hat sogar dieses Jahr den Titel eines Consuls eingeführt, der sich ausschließlich um die Marktgerichtsbarkeit der Bürgerschaft kümmern soll. Sie handeln jetzt vollkommen selbstständig. Den Vogt haben sie dabei völlig übergangen. Selbst heute in Bredenvelde war kein Vogt anwesend.“

„Thiedardus“, meldete sich nun Prabislav. Er gab seine Ansicht zu bedenken „Du sagtest vorhin, dass die Welt betrogen werden will. Aber aus ihrer Sicht, ist ihr Handeln meiner Meinung nach nachvollziehbar. Hätten wir nicht auch so gehandelt? Was wäre, wenn der Krieg auch in unsere Straßen getragen würde? Bevor dies geschähe, würden wir doch alles daransetzten, mit den vermeintlich stärkeren Feinden überein zu kommen. Hätten wir nicht auch alles daran gesetzt, Schaden von Mulne abzuwenden? Was meint ihr?“

Seine Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Nachdenklichkeit hatte die drei ergriffen. Thiedardus beendete das Schweigen.

„Wenn man es aus der Sichtweise der Hansestadt Lubecke sieht, ist ihr Handeln nicht ganz unverständlich. Du fragst, ob wir nicht ebenso handeln würden? Seht doch nur unser heutiges Mulne an. Waldemar ist mit seinem dänischen Heer an uns vorbeigezogen. Aber das heißt nicht, dass es immer so bleibt. Er sah in uns keine Gefahr. Was geschieht, wenn der Krieg noch einmal aufbricht? Können wir uns verteidigen? Haben wir eine Festungsmauer?

Wo sind die Wälle und die wehrhaften Türme? Freunde, ich sage euch, ich sehe keines davon in Mulne. Wir sind in den letzten Jahren zwar durch die durchreisenden Salzwagen und die umliegenden Bauern als Marktort wohlhabend geworden. Dennoch haben wir keinerlei Schutzwälle. Wir sind jedem Angriff wehrlos ausgeliefert. Ein Heer von dreihundert Helmen würde schon ausreichen, um Mulne zu erobern.“

„Deshalb ist es ja so wichtig, dass Mulne endlich das Stadtrecht erhält. Nur so haben wir das Recht, unsere Stadt zu befestigen. Dann müssen wir zusehen, dass wir Gräben, Wälle und Festungsmauern um die Stadt herum ziehen können.“

„Wahr gesprochen, Johannes, und genau aus diesem Grund waren Werdago und ich heute in Bredenvelde.“

„Genau, Thiedardus. Da sind wir tatsächlich zum Handeln gezwungen. Entschuldige, wir sind ein wenig vom Thema abgekommen. Jetzt erzähle mal, was nun in Bredenvelde geschah.“

Thiedardus nahm einen kräftigen Schluck Bieres zu sich. Da der Humpen schon geleert war, winkte er den Wirt zu sich heran und bestellte eine neue Runde Bier für sich und seine Freunde. Seine Müdigkeit schien von dem ersten Bier wie weggefegt zu sein.

„Wie ich schon bemerkte, waren wir nicht die Ersten dort. Wir trafen uns in der Senke, wo die Kirche zu Bredenvelde steht, wie ihr wisst. Bredenvelde an sich ist nicht sehr groß. Nur wenige Höfe von Bauern und Handwerkern gibt es dort. Aber sie haben dennoch sogar ein Kirchspiel mit einem Priester, was uns noch fehlt.

Wie gesagt warteten wir mit den Lubeckern gemeinsam auf den dänischen Herzog. Endlich kam er mit seinem imposanten Heer angeritten. Ein endloser Tross von Helmen und Fußvolk folgte ihnen. Die Karren, die die Verpflegung transportierten, waren am Ende. Sogar ein Wagen voll mit Hübschlerinnen, die eigens für das Vergnügen der Soldaten mitgeführt wurden, fuhr am Trossende mit.

Herzog Waldemar ließ eiligst ein Zelt aufbauen. Er ist ein pragmatischer Mensch, der auf vielerlei Firlefanz verzichtet, die dem Bruder des Königs sicherlich zustehen würden. Sein lockiges Haar war prächtig und wehte wie eine Fahne über seiner imposanten kräftigen Gestalt, als er an uns vorbeiritt.

Es dauerte nicht lange, bis er seine Audienz abhielt. Wie ich schon vorhin erwähnte, demütigten sich die Lubecker selbst. Aber anscheinend gefiel es Waldemar. So etwas sieht er wohl gern. Das Ergebnis ist bekannt. Unsere Abordnung wartete währenddessen brav abseits. Als die Lubecker gegangen waren, dachten wir, das nun unsere Zeit gekommen sei. Wir richteten unsere Kleider und warteten auf den Aufruf, dem Herold zu folgen.

Doch Herzog Waldemar dachte offensichtlich gar nicht daran uns zu empfangen. Als wir uns nach zwei Stunden des langweiligen Herumstehens bemerkbar machten, hieß es lapidar von seinen Mannen, dass der Herzog niemand mehr empfangen würde. Wir sollten uns von dannen schleichen, da der Herzog seine Ruhe bräuchte. Was sollten wir tun? Ein Aufbegehren wäre sofort mit den Speeren unterdrückt worden. Also trotten wir nach Mulne zurück. Hier sind wir und fühlen uns übergangen. Das meinte ich damit, das die Welt betrogen sein will.“

„Und was tun wir nun? Was wird Werdago als nNächstes unternehmen?“

Prabislav sah erwartungsvoll zu Johannes. Dieser wartete einen Moment, bis er mit einer leicht resignierten Stimme antwortete.

„Abwarten, was sonst. Einfach abwarten.“

Das Warten dauerte den ganzen langen harten Winter. Immer wieder gelangten aufregende Nachrichten aus den entfernten Hansestädten nach Mulne. In diesen unruhigen Zeiten wurden sie von allen begierig aufgesogen. So blieb es nicht verborgen, dass der verhasste Graf Adolf III. von Schauenburg nicht aufgab. Am 30. November war er mit seinem letzten Aufgebot an kriegerischem Gefolge vor den Toren Hamburgs erschienen und nahm die Stadt ohne Gegenwehr ein. Der erste Schritt zur Wiedererlangung seiner ehemaligen Ländereien war demnach gelungen, weil der von den Dänen eingesetzte Vogt Radulf feige floh. Adolf III. rechnete damit, dass die Dänen erst im nächsten Jahr versuchen würden, Hamburg zurück­zuerobern, denn schließlich stand das Weihnachtsfest vor der Tür.

Seine Augen sahen jedoch verwundert am Weihnachtsabend 1201 die Dänen heran­marschieren. Dies überraschte ihn vollends.

Sogleich erkannte er die Überlegenheit des dänischen Heeres. Der strenge Winter hatte die Alster und die Elbe gefrieren lassen, sodass die Stadt mühelos von allen Seiten eingeschlossen werden konnte. Graf Adolf III. war sich seiner misslichen Lage durchaus bewusst. Eine Flucht, wie es vorher dem Vogt Radulf gelungen war, entzog sich seinen Möglichkeiten. Er war zu Verhandlungen gezwungen. Am zweiten Weihnachtstag wurde Adolf III. der freie Abzug zugesichert, wenn er im Gegenzug die Louwenburg an der Elbe übergeben würde.

Im Lager Gunzelins von Schwerin, der Adolf zur Louwenburg geleiten sollte, verlor Adolf III. fast sein Leben. Denn als die aufgebrachten Dithmarscher erfuhren, dass ihr verhasster ehemaliger Graf sich bei Gunzelin befand, scherten sie sich einen Teufel um den Vertrag und wurden durch ihre Wut dazu gebracht, den Frieden zu brechen.

Gunzelins Männer hielten die Dithmarscher so lange auf, bis die Dänen zu Hilfe kamen, um ihren eigentlichen Feind Adolf aus der lebensbedrohlichen Lage zu retten. Graf Adolf entging also nur knapp dem Attentat.

Aber dann sollte sich das Schicksal Graf Adolfs III. doch erfüllen. Er konnte seinen Teil des Vertrages nicht erfüllen. Die Besatzung der Louwenburg weigerte sich nämlich hartnäckig, die Burg dem dänischem Feinde zu übergeben. Angesichts dieses Vertragsbruches wurde Graf Adolf III. mit Ketten gefesselt und als Gefangener nach Dänemark deportiert.

Das war die Situation Anfang des Jahres 1202. Der Krieg schien demnach erst einmal zugunsten der Dänen gelaufen zu sein. Aber König Knud VI. hatte sich noch nicht persönlich um den Ort Mulne gekümmert. Solange die Lage des Ortes ungewiss war, herrschte bei den Bürgern und Händlern eine unsichere Stimmung. Niemand wusste genau, wie es weitergehen sollte.

Warten, einfach nur warten – wie es Thiedardus lapidar ausgedrückt hatte – war anscheinend die einzige Wahl, die den Einwohnern Mulnes blieb.

Der Winter war kälter und strenger als die vergangenen gewesen. Lange Eiszapfen hingen von den Rändern der Dächer herab. Die Sonne strahlte und der Schnee glitzerte romantisch, wenn sich das Licht darin reflektierte. In dieser eigentlich schönen winterlichen Atmosphäre stand Prabislaw, leicht vor Kälte zitternd, vor der Tür des Bäckers Gottfried. Er hatte geklopft und wartete darauf, dass der Bäcker seine Tür öffnete.

Schließlich wurde sie, von einem Quietschen begleitet, auch geöffnet, doch nicht der Bäcker selber, sondern seine schöne Tochter Helene öffnete. Ein freudiges Lächeln des Erkennens zeichnete sich auf beiden Gesichtern ab. Noch bevor Prabislav das Wort ergreifen konnte, sah Helene über ihre Schulter zurück. Als sie erkannte, dass ihre Mutter sie nicht beobachtete sondern in der Küche verweilte, warf sie sich gleich ihrem Geliebten an den Hals. Innige Küsse folgten. In einem Moment des Luftholens sahen sich die beiden verliebt an. Trotz des Glanzes in ihren Augen erkannte Prabislav dennoch, dass etwas Helene bedrückte.

„Ich wollte noch einmal mit deinem Vater wegen der Morgengabe sprechen. Wo ist er?“

Helene druckste herum und sah ein wenig verlegen drein.

„Was ist los? Ich wollte deinen Vater sprechen. Wenn er mir ein wenig entgegenkommt, habe ich die Morgengabe bald zusammen. Ist das nicht eine gute Nachricht?“

„Er ist … er … ich weiß … ich weiß nicht wie …“

„Jetzt stammle nicht herum. Was ist geschehen?“

„Mein Vater ist bei Hanno.“

„Ja, und? Was hat das mit uns zu tun?“

Prabislav wusste sofort, dass seine Frage eigentlich dumm und unnütz war. Johannes hatte ihn oft genug vor diesem Ereignis gewarnt. Dennoch wollte er es nicht wahrhaben, was jetzt in seine Ohren drang. Wie von einem weit entfernten Rufer verkündet, waren die Worte Helenes in seinem Kopf zu vernehmen.

„Sie verhandeln über meine Morgengabe. Es wird auch ein Termin für meine Toslach und die anschließende Heirat ausgehandelt. Hanno kann nämlich die verlangte Morgengabe zahlen.“

„Aber wir lieben uns doch? Das kann dein Vater nicht machen.“

„Du siehst ja, dass er es kann. Er ist mein Munt, mein Schutzherr, wie du weißt, und kann mich mit jedem vermählen, der bereit ist das geforderte Geld zu entrichten. So sind nun einmal die Sitten. Damit müssen wir uns abfinden.“

Prabislav nickte traurig. Er hatte die Sitten hier genügend kennen gelernt, seit er aus dem Dorf seines Vaters in die für ihn große Stadt übergewechselt war.

„Was wird dann zwischen uns sein? Du weißt, wie sehr ich dich liebe.“

„Wir haben keine andere Wahl.“ Ihre Stimme klang bedrückt.

„Ist deines Vaters Entschluss unumkehrbar?“

„Ja, er sagt, du hättest ausreichend Zeit gehabt. Ich bitte dich trotzdem eins zu bedenken. Ich werde zwar sein Weib sein, aber mein Herz gehört ewig dir. Das weißt du.“

Dessen war sich Prabislav sicher. Zur Bestätigung nickte er.

Was sollte er weiter sagen? Helene war ein aufrechtes und wohlerzogenes Mädchen, welches ihrem Vater ohne Widerspruch gehorchte, und die Lügerei lag ihr fern. Nickend drehte er sich um und verließ den Eingangsbereich des Bäckerhauses. Seine Enttäuschung war nicht zu beschreiben, aber dennoch versuchte er diesen Schicksalsschlag wie ein Mann zu ertragen.

Einem geschlagenem Hund gleich, trottete er mit gesenktem Kopf von dannen.

Währenddessen ging Helene als pflichtbewusste Tochter in die Küche zurück, wo ihre Mutter Wasser in den Grapen, einen bronzenen Kessel, gefüllt hatte. Das Feuer, welches mit Sprick genanntem Reisig und getrockneten Tannenzapfen angezündet worden war, brannte nun und verzehrte die darüber gelegten Holzscheite. Der Grapen stand über dem Feuer auf einem Dreifuß. Als das Wasser kochte, gab Helene Rotwein und Nelken hinzu. Anschließend wurde das Getränk mit Honig gesüßt. Selbstgebackenes Brot, Wurst und Schinken lagen auf dem Tisch bereit. Mutter und Tochter setzten sich artig an den Tisch und warteten, bis der Bäcker von seiner Verhandlung zurückkäme. Er würde verkünden, wann die Toslach und die Vermählung zwischen Hanno und Helene stattfinden werde. HelenHelene statt

Die Hitze in diesem Sommer war schier unerträglich. Dennoch ging jeder seiner Arbeit nach. Prabislaw war froh, dass er seine Arbeit im kühlen Haus in der Scrivekamere, der Schreibstube des Lokators, verrichten konnte. Konrad Wackerbart war nicht anwesend. Er ging seinen Geschäften nach. Deshalb befand er sich oft außerhalb von Mulne. Als Lokator des Dorfes Mulne waren seine Aufgaben vielfältig. Die Vermessung der Ländereien oblag seiner Pflicht, und deren Ausführung hatte er zu überwachen. So wurde er auch der erste Schulze von Mulne. Der Schultheiß, vom Althochdeutschen sculdheizo abgeleitet, war derjenige, welcher im Auftrag seines Landesherrn die Schuld heischt, also einfordert oder verlangt. Für den kleinen Ort war er Richter der niederen Gerichtsbarkeit und sorgte gleichzeitig für die Vollstreckung der Urteile; als Dorfhoberhaupt war er mit richterlichen Befugnissen vom Grafen in Racisburg eingesetzt. So war Konrad ein Vollstreckungsbeamter des Grafen. Seine Stelle war mit der eines Vogtes gleichzusetzen. Als geldliche Entschädigung für seine Mühen erhielt Konrad den dritten Pfennig aller Strafen. So wurde er in kurzer Zeit zu einem der reichsten Männer in Mulne.

Als Lokator, dem Verpachter, war seine Verantwortung demnach sehr groß. Aber am Anfang der Besiedelung in Mulne war seine Entlohnung noch nicht sehr üppig. Zuerst war er verpflichtet worden, den Siedlern während der Rodungszeit den Lebensunterhalt zu gewährleisten und hatte anfänglich viel Geld beigebracht. Diese Verantwortung war ein nicht unbeträchtliches Risiko gewesen. Konrad gehörte dem niederen Adel an. In den Jahren seit der Gründung Mulnes hatte sich der Ort unter seiner Führung kräftig entwickelt. Dies lag nicht nur daran, dass die mit dem teuren Salz beladenen Fuhrwerke aus Lüneburg kommend Station in Mulne machten, um nach einer Pause nach Lubecke weiterzureisen. Sie ließen viel Geld zurück. Aber nicht nur sie. Über den Frachtweg, die Via Regia, kamen immer mehr Menschen nach Mulne. Der Ort sprach sich schnell als Marktort herum, wo sich Dinge des alltäglichen und beruflichen Lebens erwerben ließen.

Beim Lokator Konrad Wackerbart waren demnach viele Schriftstücke und Urkunden zu erstellen. Eine hilfreiche Hand hatte er dabei in Prabislaw gefunden, dessen Talent, welches ihm nicht unwillkommen war, er schnell entdeckt hatte.

Prabislaw war an diesem heißen Tag damit beschäftigt, einen Vertrag aufzusetzen. Es ging darum, dass der Bauer Sigmund von Konrad ein im Süden gelegenes Landstück von zwei Hufen pachten wollte. Dafür verpflichtet sich der Bauer auf fünf Jahre, dem Lokator den dritten Teil als Pacht zu entrichten.

Der Schreiber Prabislaw tauchte seinen Schreibgriffel in das rechts von ihm stehende Tintenfass. Mit gekonnten Zügen beschrieb er das teure Pergament. Den Text las er von der Wachstafel ab, auf die er vorher eilig den Text gekritzelt hatte, den Konrad ihm diktierte. Nun war er dabei, sorgfältig die Urkunde zu erstellen. Über sein aufgeklapptes Pult gebeugt, bekam er anfangs nicht mit, dass er Besuch in seiner Scrivekamere erhalten hatte.

Er hob seinen Kopf, als er ein hüstelndes Geräusch vernommen hatte, und Freude ergriff ihn, als er in das schweißgebadete Gesicht seines Gegenübers blickte. Der alte Mann stützte sich in seiner unnachahmlichen Art mit den geballten Fäusten auf dem Pult ab und sah den Schreiber wohlwollend an.

Freudig ergriffen bot Prabislaw dem alten Reinold eine am Fenster stehende Holzbank als Sitzgelegenheit an. Ihm fiel sogleich auf, dass Reinold, von der Hitze mitgenommen, stark schwitzte. Schweißperlen tropften leicht von der Stirn.

„Wie geht es dir?“

„Gut, gut. Ich kann nicht klagen.“ Ein Husten begleitete dabei Reinolds Worte.

Prabislavs blieb jedoch trotz dieser Antwort der wahre Zustands Reinolds nicht verborgen.

Seine Augen tasteten den alten Mann ab. Unübersehbar waren die Anzeichen. Das Alter hatte Reinold gezeichnet. In den vergangenen zwei Jahren war der Alterungsprozess so weit fortgeschritten, dass die kleinsten Anstrengungen Reinold schon zu Schweißausbrüchen ver­an­lassten. Schüttern hingen die wenigen Haare wirr herum. Als Prabislav in sein fahles Gesicht blickte, meinte er sogar einen Hauch des Todes zu spüren.

Rochen alte Menschen nicht kurz vor ihrem Tode auch nach demselben? Erschauernd rümpfte er die Nase. Jedenfalls rechnete Prabislaw damit, dass sein Freund und Gönner bald in das Himmelreich aufsteigen würde, an das er als getaufter Christ inzwischen glaubte.

Reinold hatte viel für ihn getan. Dessen war er sich bewusst. Deshalb war er voll des Dankes für den alten Mann. Seit dem Tode Mistiwois war Reinold zu einer Art Ersatzvater für ihn geworden. Wehmütig erinnerte er sich an die vergangenen Jahre.

„Was hast du? Sind das Tränen?“

„Nichts, Reinold. Es ist nichts. Was kann ich für dich tun?“

„Du kannst nichts für mich tun. Eher kannst du etwas für dich selber tun.“

Prabislaw ahnte, warum der alte Mann wiedergekommen war. Schon oft hatten sie darüber gesprochen, doch jedes Mal hatte er die angebotene Hilfe abgelehnt.

„Wenn du wieder wegen des Geldes gekommen bist, alter Mann, dann war dein Weg wie immer umsonst. Dann hast du erneut umsonst geschwitzt. Sogleich kannst du wieder gehen. Solltest du aber wegen etwas anderem gekommen sein, so seist du willkommen.“

„Du brauchst nicht so versauert zu sein. Überlege es dir noch einmal. Tu mir, aber vor allen Dingen dir selbst den Gefallen. Nimm das Geld an. Betrachte es nicht als Almosen, sondern als Darlehen. Noch ist es nicht zu spät. Aber in drei Wochen ist die Toslach, und nach der Verlobung ist Helene dann endgültig für dich verloren. Noch kannst du mit dem Geld den Bäcker Gottfried davon überzeugen, dass du der Richtige bist. Gottfried geht es nur ums Geld. Hanno kann mit unserem gemeinsamen Geld bestimmt nicht mithalten.“

„Und was ist mit dem Vertrag zwischen den beiden?“ Prabislaw unterbrach seinen älteren Freund mit einer Spur Aufgeregtheit. Diese Angelegenheit hatte ihn doch sehr mitgenommen.

„Pergament ist geduldig, mein Junge. Das wirst du schon noch feststellen. Es wäre nicht der erste Vertrag, der gebrochen würde. Und ich gehe auch davon aus, dass es nicht der erste wäre, den Gottfried bräche, wenn es ihm zum Vorteil gereichte. Also, nimmst du nun mein Angebot an?“

Prabislaw schüttelte entschieden verneinend den Kopf.

„Nein, alter Freund. Beim besten Willen kann ich die Silberlinge nicht annehmen. Vertrag ist Vertrag, und das müssen wir akzeptieren. Wohin kommen wir, wenn alle eigentlich ehrenhaften Männer Verträge brechen würden. Ich wollte es alleine schaffen, was mir nicht gelang. So muss ich jetzt damit leben, dass meine Geliebte das Weib eines anderen wird.“

Der Schreiber Prabislaw gab sich die erdenklich allergrößte Mühe, abgeklärt und erhaben zu wirken. Aber in seinem Innerstem sah es anders aus. Sein Herz pochte vor Verlangen und Sehnsucht nach Helene. So war es nun einmal, und damit musste er leben.

Auf keinen Fall wollte er sich damit erniedrigen, dass er fremdes Geld annahm, nur um sie für sich zu erkaufen. Er hatte es nicht alleine geschafft, und sie somit nicht verdient.

Reinold kannte Prabislavs Beweggründe. Zum Teil verstand er sie sogar. Dennoch konnte er nicht mitansehen, wie sich sein Günstling selbst zerstörte. Es tat ihm in der Seele weh, und sein Herz schmerzte bei dem Gedanken, wie Prabislaw sich selbst Schmerz zufügte.

„Jetzt nimm endlich das Geld von mir. Da wo ich bald sein werde, brauche ich kein Geld mehr. Es ist also sinnvoller, wenn ich es dir gebe. Willst du nur wegen deiner verdammten Eitelkeit auf die Frau verzichten, der dein Herz gehört? Sei nicht so stur. Meinst du ich will mitansehen, wie du wegen deines verdammten Stolzes dich selbst zugrunde richtest? “

Reinold hatte sich in Rage geredet, und dieser Gefühlsausbruch hatte schon dazu gereicht, dass der eben zu trocknen begonnene Schweiß schon wieder feucht wurde.

„Der Herrgott verbietet das Fluchen, und du hast eben zwei mal das Wort verdammt benutzt. Also zügele deine Zunge. Es soll nicht sein, dass Helene meine Frau wird.“

Der Greis sah sprachlos seinen jungen Freund an. Er würde es nicht schaffen, die Sturheit des Jünglings zu brechen. Dessen wurde er sich bewusst, aber er konnte einfach nicht aufgeben. Zu sehr lag ihm das Wohlergehen des jungen Mannes am Herzen.

Als Reinold nach brauchbaren Argumenten suchte, um den jungen, vor Sturheit blinden Mann zu überzeugen, geschah etwas, was nicht nur auf Prabislavs Liebe Auswirkungen haben sollte. Nein, was nun geschah, sollte große Auswirkungen auf ganz Mulne haben. Aber das wusste zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

Unvermittelt wurde die Tür der Scrivekamere aufgerissen, und Johannes Kopf erschien. Er machte ein Gesicht, als sei ihm der Leibhaftige erschienen. Ohne ein Wort zu sagen, war es den beiden Sitzenden sofort einleuchtend, dass Johannes mit einer wichtigen und einschneidenden Botschaft schwanger ging, die von großer Reichweite für alle Menschen des Ortes war.

„Die Dänen kommen.“

Diese Nachricht war wahrlich überraschend. Zu wenig hatte sich in letzter Zeit ereignet, und zu spärlich waren demnach die Nachrichten gewesen, die über die herrschenden Dänen und ihren König Knud VI. nach Mulne gelangten.

Diese drei Worte waren wie ein Startsignal. Vergessen war der kleine Zwist zwischen Reinold und Prabislaw. So schnell es ging erhoben sie sich und stürmten aus dem kühlen Hause des Lokators in die Hitze des Tages heraus. Prabislaw eilte voraus, wie es ihm die Jugend gestattete, doch Reinold versuchte so schnell wie möglich zu folgen. Er keuchte vor Anstrengung, und der Schweiß tropfte wieder herab. Ihr Ziel war die hölzerne Brücke im Norden des Werders.

Die Nachricht vom Eintreffen der Dänen hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Alle Einwohner der Ortes waren versammelt. Von allen Seiten waren die Menschen herbei­gelaufen. Der Bauer ließ die Kühe alleine und war aus dem Stall getreten. Der Bäcker ließ das Mehl liegen, und der Schuster legte den Hammer nieder. Die Kinder ließen vom Spielen ab, und die Frauen von der Nähnadel. Keiner konnte mehr seiner Beschäftigung nachgehen.

Keine Burg, keine Feste, keine Gräben, keine Wälle und uneinnehmbaren Mauern verwehrten dem dänischen Heer den Zutritt in den Ort. Keine Soldaten konnten mit Pfeil und Bogen, Lanzen und Schwertern für die Verteidigung sorgen. Wehrlos lag Mulne da und musste jedem fremden Heer Einlass gewähren.

In Spalier standen die Bürger entlang der Hauptstraße und gafften den unendlich scheinenden Strom der dänischen Helme an, der sich vom nördlichen Berg kommend hernieder über die hölzerne Brücke erstreckte. Die Holzbrücke knirschte und knarrte unter dem Gewicht und der stetigen Erschütterungen durch Pferde, Wagen und Fußsoldaten. Die Soldaten und ihr Ver­pfle­gungstross jedoch zogen mit Hunderten von wehenden Wimpeln an den Häusern vorbei, und bezogen auf der südlichen schon gerodeten Fläche des Werders Quartier.

Zwei stattliche Männer hoben sich aus der uniformen Einheitlichkeit des Heeres ab. Eingerahmt von Reitern, welche die Banner des dänischen Königshauses trugen, zogen König Knud VI. und sein Bruder Herzog Waldemar II. hoch zu Ross durch das Spalier der beein­druckten einfachen Bürger ein. Noch niemals zuvor hatten sie einen leibhaftigen König gesehen, geschweige denn den dänischen, von welchem waghalsige Geschichten im Umlauf waren. Denen zufolge haftete den Dänen der Ruf der Brutalität und Härte an. Der Ruf unbarmherziger Krieger, welcher den Dänen als Nachfahren der Wikinger anhaftete, war ihnen immer voraus. Und ihre derzeitigen Eroberungszüge, auf denen Nordalbingien gänzlich in ihre Hände geraten war, waren nicht dazu geeignet den schlechten Ruf zu mildern.

Der König und sein Bruder stiegen von den Pferden. Die Nachricht vom Erscheinen der Dänen hatte auch den Lokator auf den Plan gerufen. Er war gerade angekommen, als der König seinen Blick über die Häuser Mulnes streifen ließ. Knud hatte schon von dem Ort am trüben Wasser vernommen. Mulne war ihm als aufstrebender Marktplatz und wichtiger Ver­kehrs­punkt auf der Via Regia geschildert worden. Er war sich der strategischen Wichtigkeit des Ortes bewusst. So hing er seinen Betrachtungen, in denen es um Machterhalt und Ein­fluss­vergrößerungen ging, nach, als er aus seinen Gedanken gerissen wurde.

Zwei Männer traten auf ihn und seinen Bruder zu. Es waren Konrad Wackerbart und Werdago de Mulne. Werdago war ein großer Mann mittleren Alters mit dunkelblondem Haar, dessen schmales Gesicht nicht zu seiner weiteren äußeren Erscheinung passte. Er war ein ziel­bewusster Mensch, der genau wusste was er wollte. Werdago wollte erster Bürgermeister der Stadt Mulne werden. Er wollte die lübischen Stadtrechte für Mulne haben. Das war sein großes Ziel. Der erste Versuch in Bredenvelde war fehlgeschlagen, doch gab er nicht auf. Mit einem untrüglichem Gespür für die Gelegenheit wollte er die Gunst der Stunde nutzen, wenn sich schon einmal ein großer König im Ort befand.

Mit einer untertänigen Verbeugung, der sich Konrad Wackerbart an seiner rechten Seite anschloss, zeigte er für alle sichtbar seine Unterwürfigkeit vor der dänischen Krone.

Was blieb ihm auch anderes übrig.

„Eure Hoheit, König der Dänen! Mein Name ist Werdago. Wir heißen euch in Mulne willkommen. Möge euer Aufenthalt so angenehm wie möglich sein.“

Misstrauisch beäugte Knud die Szenerie. Er sah, dass sich auch die Mulner Bevölkerung in ehrerbietiger Haltung vor ihm verbeugt hatte. Alle waren dem Beispiel Werdagos gefolgt. König Knud VI. sah die Ergebenheit. Er sah genau, wie sie sich vor ihm in den Staub des Sommers knieten. Aber er war nicht dumm. Diese Ehrerbietung war nicht von Herzen gekommen. Die Menschen fühlten sich eher durch das große Heer dazu gedrängt. Das mut­maßte er. Sie war nicht so herzlich und enthusiastisch gewesen, wie in Lubeke, von wo sie gerade herkamen. Die fehlende Wehrhaftigkeit Mulnes war ihm nicht verborgen geblieben.

Sein Misstrauen schwand nicht.

„Wo ist meine Unterkunft?“

Das war alles, was der König entgegnete. Da die Mulner nicht auf einen so großen Besuch eingerichtet waren, so fehlte ihnen eine für einen König würdige Unter­kunft. Aber Konrad wusste zu improvisieren. Es gab zu der Zeit in Mulne noch keine Burg, kein Schloss oder irgendein Herrenhaus, welches einem königlichem Besuch gerecht geworden wäre. Das beste und größte Haus war zu der Zeit das Haus des Lokators, in welchem Prabislaw seiner Arbeit nachging. Es befand sich unweit der Brücke.

Natürlich war für ihn an diesem Tag seine Schreibarbeit beendet. Schnell räumte er seine Sachen in der Scrivekamere zusammen. Der Lokator führte derweil den König und seinen Anhang in sein Haus. Dort angekommen, zeigte er ihm die Schlafgelegenheiten. Danach liefen herbeigeeilte Dienerinnen umher, um das Nachtlager zu richten.

Werdago nutzte die Gunst der Stunde, um sein großes Ziel erreichen zu können.

„Mein König, ich möchte Euch ein mir wichtiges Anliegen …“

Werdago wollte weitersprechen, doch schroff schnitt der König ihm das Wort ab.

„Heute nicht mehr. Ihr könnt mich morgen vor unserer Abreise damit belästigen. Jetzt habe ich noch andere Dinge zu erledigen. Und nun lasst mich alleine.“

Für alle Bürger war in dieser Nacht an Schlaf nicht mehr zu denken. Es war nicht nur das ständig vorhandene Gefühl, dass sich ein mächtiger Mensch in der Nähe befand, der über ihr Wohl und Wehe mit einem Fingerschnippen bestimmen konnte, sondern auch das Gegröle zu nachtschlafender Zeit, welches von den Soldaten auf der anderen Seite des Werders herüber­drang. Sie feierten ausgelassen, denn vielleicht war es das letzte Mal in ihrem Leben, dass sie dazu Gelegenheit hatten. Schließlich stand ihnen eine Schlacht bei der Louwenburg bevor. Diese Gelegenheit zum Saufen konnte man doch nicht ungenutzt verstreichen lassen. Dafür hatte sicherlich jeder vernünftige Mensch Verständnis.

Auch der nächste Tag war glühend heiß. Werdago trat mit Konrad Wackerbart zusammen zum König. Hinter den Häusern im Süden konnten sie schon wahrnehmen, dass die Soldaten antraten. Denen war eine durchzechte Nacht nicht anzumerken. Sie waren diese Saufgelage gewohnt. Pflichtbewusst stellten sie sich abmarschbereit in Reih und Glied.

Der König wartete schon auf seine Männer. Er machte den Eindruck, als wenn das zu erwartende Gespräch nur eine lästige Störung sei. Es war ihm anzusehen, dass er am liebsten schon auf dem Rücken seines Pferdes gesessen hätte.

„Also Werdago, was ist euer Anliegen? Aber beeilt euch. Ich habe auch noch ein Anliegen, welches sofort ausgeführt werden soll. Doch zunächst trage du deines vor.“

Die Gestalt Knud VI. war imposant und herrisch. Er war der perfekte König, so wie sich jeder kleine Junge einen stolzen König vorstellte.

„Euer Hoheit. Ich spreche im Namen aller Bürger von Mulne. Wir erkennen Euch als König an. Wir werden stets eure getreuen Untertanen sein. Deshalb erlaubt unsere Bitte, dass ihr Mulne das lübische Stadtrecht verleiht. Es ist euren königlichen Augen sicherlich nicht entgangen, dass Mulne ein aufstrebender Ort ist. Von überall her reisen die Menschen und Händler durch unseren Ort. Er ist ein fester Bestandteil auf der Route der Karren, die das Salz nach Lubecke bringen. Mulne wird noch weiter wachsen. Und damit wird es unabdingbar werden, dass wir ein Stadtrecht wie Lubecke besitzen, nachdem sich alle zu richten haben.“

Knud runzelte die Stirn. Sein Blick wanderte zu den Häusern im Hintergrund, und dann ging er langsamen Schrittes umher. Er war keineswegs überrascht von Werdagos Anliegen, denn er hatte sogar darauf gewartet. Darauf basierend war er in der vergangenen Nacht nicht untätig gewesen. Was er da getan hatte, sollten Werdago und alle Mulner Bürger bald schmerzlichst erfahren.

„Höre mir genau zu, Werdago. Als ich gestern in diesen Ort ritt, sah ich die Furcht in den Gesichtern der Menschen. Sie fürchten sich vor uns Dänen. Kein Jubel schallte uns entgegen, als wir über die Brücke zogen. Kein Glück war in den Augen der Leute zu lesen.

Ich werde dir erzählen, wie wir vor wenigen Wochen in Lubecke empfangen wurden. Wir waren noch nicht einmal durch das Stadttor hindurchgeritten, so schallte uns schon großer Jubel entgegen. Die Priester und die gesamte Geistlichkeit stand dort, ebenso wie der Stadtrat. Die Hübschlerin jubelte neben dem geringsten Knecht. Ihre Augen strahlten. Das nenne ich Hingabe. Es war ein glorioser Empfang.

Gleich danach wurde mir sogar die Feste Travemünde übergeben. Die drittletzte Burg also derjenigen, welche bis dato Widerstand geleistet hatten. Sogar die Landbewohner eilten herbei, und leisteten mir zusammen mit den Stadtbürgern das obseqium regis. Sie wollten ihrem neuen König dienen. Sie verpflichteten sich weiter zu Kriegsdienst und Burgwerk. Das nenne ich Hingabe für den König. Aber das was ich hier sah, kam dem nicht im Geringsten nahe. Ich bin anderes gewöhnt. Es war nur jämmerlich.

Sicherlich ist Mulne ein aufstrebender Ort mit Zukunft. Er wird wachsen, und seine strategische Wichtigkeit ist unübersehbar. Ich würde eurem Wunsche entsprechen und euch das lübische Stadtrecht verleihen. Aber ich traue euch nicht. Als König habe ich gelernt, dass Verrat und Untreue auch unter Gesindel zu finden ist, welches Loyalität im Moment heuchelt.

Deshalb höre mir zu. Ich werde Waldemar anweisen, euch das lübische Stadtrecht später zu verleihen. Leider wurde ich wegen dringender Staatsgeschäfte zurück nach Dänemark gerufen. Die Nachricht hat mich gestern Abend ereilt. Ich werde also doch nicht weiter zur Louwenburg reiten können. Das wird mein Bruder alleine tun. Auf seiner Rückreise ist er berechtigt euch das Stadtrecht zu verleihen. Aber …“

Der König machte eine Pause und sah sich in der Runde um.

„Aber es gibt eine Bedingung. Da ich euch nicht traue, verlange ich von euch ein Pfand, damit ihr der Möglichkeit beraubt seit, mir in den Rücken zu fallen. Deshalb habe ich am gestrigen Abend beschlossen, etwas von euch zu verlangen, was schon vorher längst hätte geschehen sollen, doch fahrlässigerweise unterlassen wurde.“

Wiederum machte der König eine Pause. Werdago und Konrad Wackerbart sahen sich gespannt an. Sie hatten keinerlei Vorstellung davon, welcher Art die Forderung oder Bedingung des Königs sein sollte. An Geld sollte es nicht scheitern. Das wäre im Verbund aller aufzubringen. Ihre Spannung wuchs.

„Deshalb ist es nötig, dass ich dreißig Geiseln aus Mulne als Pfand für zehn Jahre verlange.“

„Aber Herr, das könnt ihr nicht machen.“ Werdagos Augen waren blank vor Entsetzen. Mit dieser Wendung hatte er nicht gerechnet. Er war nahezu sprachlos.

„Oh doch, Werdago. Das kann ich machen. Höre ich da etwa Widerspruch? Geht es also schon los mit der Rebellion? Was ist mit der gestern noch so demütig geheuchelten Unterwürfigkeit?

Macht nur so weiter, und ich werde die Anzahl der zu stellenden Geiseln erhöhen. Da ich euer König bin, kann ich verlangen was ich will. Nur Gott allein kann mir dreinreden. Wollt ihr nun das Stadtrecht, oder nicht?“

„Ja, mein König. Wie Ihr befiehlt. Wir werden die dreißig Geiseln eurer Obhut übergeben.“

„Das hört sich gut an. Dann werdet ihr also doch noch treue dänische Untertanen werden.“

„Soll ich euch dreißig Namen benennen?“ Werdagos Frage klang kleinlaut. Er hatte nicht befürchtet, dass Stadtrecht so teuer erkaufen zu müssen. Keine Freude mochte sich einstellen.

„Nicht nötig, Werdago.“ Knuds Stimme klang hochtrabend. Er war sich seiner mächtigen Position bewusst „Ich habe fähige Männer bei mir. Sie sind in der Nacht umhergegangen und haben dreißig Geiseln per Namen aufschreiben lassen. Wie gesagt. Ich traue euch nicht. Vielleicht wäre dann der eine oder andere Name nicht aufgetaucht. Wäre einfach so unter den Tisch gefallen, und weniger wichtige Namen auf der Liste erschienen.“

„Und wen habt ihr benannt?“ Werdagos Stimme klang immer kleinlauter.

„Euch wird eine Liste übergeben werden. In erster Linie habe ich darauf bestanden, Kinder aus bestem Hause, sprich der Honoratioren des hiesigen Ortes zu benennen. Diese scheinen mir die geeignetsten Geiseln zu sein. Seid gewiss, wenn ihr brave Untertanen seid, so seht ihr die Geiseln in zehn Jahren unversehrt wieder. Wenn nicht, dann …“

Die Geste des Königs sagte alles, als er seine flache rechte Hand horizontal an seiner Kehle vorbeiführte.

Damit war das Gespräch für ihn beendet, denn eine weitere Geste war unnötig.

Niedergeschlagen verließen Konrad und Werdago den König. Sie gingen zurück und wurden von den Bürgern erwartet. Die meisten Bewohner wussten noch nicht, was geschehen war. Neugierig verfolgten sie jeden seiner Schritte. Werdago suchte sichtlich nach den richtigen Worten.

Nur ein einzelner Mann wusste schon mehr. Er wusste leider mehr, als er je hätte wissen wollen. Dieser eine war der Schreiber Prabislaw. Er hielt eine Liste mit Namen in der Hand, die ihm der königlich-dänische Schreiber ausgehändigt hatte, mit dem Auftrag eine Abschrift für die Mulner Bürger anzufertigen.

Prabislavs Gesicht war aschfahl. Das fiel Werdago sofort auf. Er ging sofort auf ihn zu. Etwas Schreckliches musste Prabislaw widerfahren sein. Wortlos reichte ihm der Schreiber die Liste. Da erkannte Werdago, warum Prabislaw so kreidebleich war. An siebzehnter Stelle stand der Name, den Prabislaw so sehr mitnahm. Am liebsten wäre Prabislaw sofort gestorben.

Der Name lautete: Helene, Tochter des Bäckers Gottfried.

Zwei Stunden später waren die dreißig Geiseln zusammengetreten. Versammelt standen sie alle bei den dänischen Truppen. Da alles so schnell gegangen war, blieb für lange Abschiedsszenen keine Zeit. Die Kinder und Jugendlichen wurden plötzlich aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen. Es blieb ihnen gar keine Zeit sich zu verstecken.

Es hatte plötzlich an der Tür geklopft. Ein Name war gerufen worden, und ehe die Eltern sich versahen, waren die Kinder zwischen den Abteilungen großgewachsener Soldaten mit ihren eisernen Helmen und langen Lanzen verschwunden.

Helene war auch unter ihnen. Auch für sie war keine Zeit zu Tränen gewesen. Da ihr Vater als Bäcker zu den Honoratioren des Ortes gehörte, gab sie eine gute Geisel ab.

Da ihre Verlobung noch nicht rechtskräftig war, brauchte Hanno sie nicht zu schützen. Dies tat er auch wohlweislich nicht. Denn es hätte ihm nur geschadet, und er war stets darauf bedacht, jeglichen Schaden oder jede Unannehmlichkeit von sich fernzuhalten. Ohne jegliche Anteilnahme stand er abseits und besah sich das Schauspiel, welches ihm geboten wurde.

Dann setzte sich der erste Zug nach Norden über die Holzbrücke in Bewegung. An ihrer Spitze ritt König Knud VI. Ihm folgten zwanzig Reiter. Dahinter gingen die dreißig jungen Geiseln mit hängenden Köpfen. Darauf folgten noch einmal sechzig Reiter als Nachhut. Der Zug setzte sich nach Lubecke in Bewegung. Von dort sollten die Geiseln nach Dänemark verschifft werden. Irgendwo dort, niemand wusste genau wo, sollten die Geiseln die nächsten zehn Jahre verbringen.

Die Bürger sahen dem Trupp der Geiseln wehmütig nach. Als die letzten den Berg hinauf Richtung Lubeke entschwunden waren, war ihre Aufmerksamkeit wieder auf die anderen Dänen unter Herzog Waldemar II. gerichtet.

Aber auch dieser wollte seine Reise fortsetzen. Sogleich gab er für den Rest des Heeres den Befehl zum Abmarsch nach Süden. Wie eine unendliche Schlange zog sich der Tross der Reiter und Fußsoldaten, gefolgt von den Karren, auf der Via Regia nach Süden.

Sie ließen weinende Frauen und zerknirschte Männer zurück. Was wohl aus ihren Kindern werden würde? Sahen sie die jemals wieder?

Zehn Tage vergingen. Genauso verging auch die Hitze. Ein Gewitter war über die Grafschaft Racisburg gezogen. Thiedardus betrat das Haus des Lokators und ging in die Schreibstube, in der sein Freund in gewohnter Haltung über sein Pult gebeugt saß und schrieb. Prabislaw sah nicht einmal auf.

„Salve.“

„Du auch.“

Thiedardus setzte sich auf die Bank und wartete, bis Prabislaw seinen Federkiel nicht mehr ins Tintenfass tauchte, sondern daneben legte, und ihm seine ganze Aufmerksamkeit schenkte.

„Es gibt Neuigkeiten.“

„Was denn?“ fragte zwar Prabislaw, aber es klang wenig interessiert.

„Hanno wird sich verloben. Diesmal ist Sieglinde die Magd seine Auserwählte. Große Aus­wahl hatte er ja nicht mehr. Jetzt musste er nehmen was übrig blieb.“

„Lange hat ja seine Trauer um Helene nicht vorgehalten. Ganze zehn Tage später will er sich schon mit der Nächsten verloben? Na, der muss es ja nötig haben.“

Prabislavs Sarkasmus war ihm nicht zu verdenken. Anders als Hanno empfand er Trauer. Es verging keine Stunde in der er nicht an Helene dachte. Was würde sie gerade tun? Wo war sie? Wurde sie mit einem Schiff an das andere Ende des dänischen Königreiches gebracht?

Ständig quälte ihn die Frage, ob sie für immer für ihn verloren war. Eigentlich kannte er die Antwort. Er würde sie nie wieder sehen, das war es, was ihn so zermürbte.

„Das ist es. Wenn er sich jetzt schon mit der Nächsten verloben will, kann es mit seiner Liebe zu Helene nicht weit her gewesen sein. Ein Feigling und übler Schuft ist er. Pereat, möge er zugrunde gehen!“

„Ja, mein Freund. Und nur um mir das zu sagen, bist du hergekommen? Da ist doch mehr.“

Prabislaw kannte Thiedardus nur zu gut.

„Wie wäre es, wenn wir heute Abend unsere Angeln nehmen und fischen gehen, so wie früher? Danach trinken wir noch einen Krug Bier.“

Mit einem müden und lustlosen Blick antwortete Prabislaw seinem Freund.

„Danke, aber ich habe zu tun. Die Verträge müssen noch fertig werden.“

„Das glaube ich nicht. Ich glaube eher, du verkriechst dich hier in deiner Scrivekamere. Du kannst später immer noch die Arbeit fertig machen.“

„Nein.“

Entschieden war seine Antwort. Darauf sah Thiedardus seinen Freund enttäuscht an.

„Wie du meinst. Aber es bringt nichts, wenn du Helene immer noch hinterhertrauerst. Vergnüge dich mit einem anderen Weib, bevor die Weide ganz abgegrast ist. Du kannst nicht bis zum Ende deiner Tage Trübsal blasen.

Übrigens, ich komme gerade von Werdago. Er hat Nachricht von Herzog Waldemar erhalten. Angeblich hat er bei der Louwenburg alles Nötige zur weiteren Belagerung der Feste veranlasst Da die Belagerung wohl noch eine lange Zeit andauern wird, hält er sich dort für momentan entbehrlich und hat das Kommando übergeben. Deshalb ist er wieder auf dem Weg nach Dänemark. Sein Weg führt ihn wieder über Mulne. Vielleicht erhalten wir nun das Stadtrecht. Er hat es uns versprochen. Pacta sunt servanda – Verträge müssen eingehalten werden!

Hoffnungsvoll strahlte Thiedardus. Auch Prabislaw hätte sich eigentlich freuen müssen, wenn … ja wenn nicht seine ständige Sehnsucht nach Helene gewesen wäre.

Es kam der Tag, als Herzog Waldemar wieder durch Mölln auf dem Weg nach Dänemark ritt. Erwartungsvoll wurde er begrüßt. Doch die Hoffnung erstarb schnell, als Waldemar keine Anzeichen von sich aus gab, das Stadtrecht zu verleihen.

Wiederum war sein Aufenthalt in Mulne nur von kurzer Dauer. Nein, für solche Kleinigkeiten wie das Stadtrecht hatte er keine Zeit. Wichtige Angelegenheiten im großen dänischem Reich riefen ihm heim und ließen die verdutzten Mulner Bürger zurück.

Waldemar erschien aber zwei Monate später wieder in Holstein, denn die Belagerung der Segeberger Burg ließ ihm keine Ruhe. Unerbittlich sorgte er dafür, dass die Bemühungen nicht nachließen. Endlich hatte er sein Ziel erreicht. Die zweite der ursprünglich drei wackeren Burgen war nun gefallen. Die Burgbesetzer gaben ihren Widerstand im Handel gegen ihre Bedingungen auf. Sie forderten die Zusage, ihre Erbgüter und Lehen behalten zu dürfen, sowie ihr persönliches Hab und Gut frei und ungehindert aus der Burg herausschaffen zu können. Waldemar kam gerne dieser Bedingung nach, und so kam es, dass er im November des Jahres 1202 die Segeberger Burg einnehmen konnte. Freudig besetzte er nach dem Abzug der vorherigen Burgherren die Feste und machte sich daraufhin bereit, wieder nach Dänemark zurückzukehren. Er war noch gar nicht weit geritten, als ihn ein Bote des Königshauses erreichte. Zuerst ahnte er nichts Böses. Aber dann erhielt er eine für ihn niederschmetternde Nachricht. Der Bote meldete ihm, dass sein Bruder, der König Knud VI., überraschend am zwölften November verstorben sei.

Auf diese Hiobsbotschaft hin beschleunigte Waldemar seinen Ritt. Ohne in Machtkämpfe um die dänische Krone verwickelt zu werden, gelang es Waldemar nach der Beerdigung, mit allgemeiner Unterstützung in den Weihnachtstagen des Jahres 1202 zum König gekrönt zu werden.

In dem nächsten halben Jahr hatte er keine Zeit, sich um seine südlichen Ländereien zu kümmern. Im August 1203 zog es ihn dann wieder nach Lubecke, da es galt, den Widerstand der letzten Feste Nordalbingiens, die Louwenburg, zu brechen.

Auch diesmal führte der Weg des Heeres durch die kleine Stadt Mulne. Auch diesmal war er kurz angebunden und verzettelte sich nicht in Kleinigkeiten, die an ihn herangetragen wurden. Offen stellte er seine Zuversicht dar, endlich die widerspenstige Louwenburg zu bezwingen. Am nächsten Tag gab er den Befehl zum Aufbruch, und die Bürger sahen erneut deprimiert und gleichzeitig enttäuscht den marschierenden Fußtruppen hinterher.

Doch sollte diesmal sein Feldzug und der ganze Aufwand nicht umsonst gewesen sein. Die Rammböcke prallten mit gewohnter Heftigkeit gegen das verstärkte hölzerne Tor. Die Pfeile flogen vehement und unablässig über die mit Zinnen gespickten Burgmauern in beiden Richtungen. Da die Verteidiger in Anbetracht dieses ständigen Druckes allmählich müde wurden und außerdem auch die Vorräte zu Ende gingen, waren sie eines Tages zu Verhandlungen bereit. Ihnen war klar geworden, dass gegen den ständigen Druck der Dänen die Burg nicht mehr lange zu halten gewesen wäre. So wollten sie vor dem bitteren Ende noch retten, was zu retten war.

Nach anfänglich zähen Verhandlungen einigten sich die verfeindeten Parteien. König Waldemar hatte danach sein Ziel erreicht, denn ihm sollte die Burg übergeben werden. Dafür durften die Eingeschlossenen mit ihren wertvollen Truhen lebend und ungehindert abziehen. Darüber hinaus waren beide Seiten noch an weitere Verpflichtungen gebunden. Der König willigte ein, den gefangenen Grafen Adolf III. freizulassen. Dafür verlangte er jedoch zwölf wichtige Geiseln. Es handelte sich dabei unter anderem um die beiden Söhne des Grafen Adolf, einen Sohn des Grafen Ludolf von Dassel und um einen Sohn des Grafen Heinrich von Dannenberg. Diese zehn Jahre Geiselhaft konnten nur verkürzt werden, sollten entweder der König Waldemar oder der Graf Adolf vor Ablauf dieser Frist sterben. Graf Adolf selbst musste die Bedingung eingehen, auf seine Ansprüche gegenüber seiner ehemaligen Grafschaft nördlich der Elbe für immer zu verzichten. Er selbst kehrte daraufhin niedergeschlagen in seine Ländereien an der Weser zurück.

König Waldemar II. war jetzt uneingeschränkter Herrscher nördlich der Elbe. Stolz stand er, die Händn in die Seiten gestemmt, auf den Zinnen der Burg und sah auf die unter ihm träge dahinfließende Elbe herunter. Weit konnte er auf das flache Land, welches sich im Süden jenseits der Elbe vor ihm ausbreitete, hinausschauen.

Jetzt war es soweit, dass sich der König um andere Angelegenheiten des dänischen Reiches kümmern konnte. Da Mulne auf dem Weg nach Lubecke lag, machte sein Heer erneut dort Station. Die Nachricht vom Fall der stolzen Louwenburg war ihm vorausgeeilt. Ihm wurde ein Empfang geboten, den er nicht so schnell vergessen sollte. Die Mulner Bürger hatten ihre Zurückhaltung aufgegeben und standen jubelnd Spalier, als die Dänen wieder auf den Werder zogen. Ob das nun ehrliche Freude war oder die Mulner nur jubelten, um dem dänischen König zu gefallen, wusste Waldemar nicht. Er ahnte es jedoch, da sie etwas von ihm wollten. Mit einem zufriedenen Grinsen stieg er vor dem Haus des Lokators ab.

Werdago de Mulne und der Lokator Konrad Wackerbart standen bereit, als der König vom Pferd stieg. Hinter ihnen hatte sich das Volk versammelt. Es drängte sich, zwar langsam und vorsichtig, jedoch immer näher heran. Neugierde und Hoffnung war in den Blicken der Menschen zu lesen. Der König lächelte immer noch, als er mit seinem langen lockigen braunen Haar dastand. Wie auf ein Kommando gingen nicht nur Werdago und der Lokator in die Knie, sondern ebenfalls die gesamten Bürger dahinter. So wollten sie dem König ihre Ergebenheit demonstrieren. Waldemar grinste immer noch, als er mit einem Handzeichen den Leuten gebot sich zu erheben.

„Volk von Mulne. Hört mich an. Ich werde eurer Bitte nachkommen, und eurer Stadt das lübische Stadtrecht verleihen. Der Lokator soll seinen Schreiber anweisen eine Urkunde zu erstellen, die ich mit meinem Siegel beglaubigen kann. Die Geiseln jedoch, die mein Bruder aus euren Reihen nahm, bleiben weiterhin bei uns, bis die zehn Jahre vergangen sind. Ich kann euch versichern, dass es ihnen allen gut geht. Keinem wurde ein Haar gekrümmt. Und so wird es auch bleiben, wenn ihr vernünftige Menschen seid. Seid deshalb treue dänische Untertanen, und ihr werdet es nicht bereuen. Nach Ablauf der Zeit werden sie unbeschadet zu euch zurückkommen. So wohl an. Geht an eure Arbeit zurück.“

Die Einwohner gingen darauf hin frohgelaunt in ihre Häuser oder ihrer Arbeit nach. Werdago und dem Lokator hatte der König jedoch durch ein Zeichen bedeutet, das er sie noch sprechen wollte. Die beiden Genannten verharrten.

„Kommt mit. Ich habe mit euch zu reden.“

Als ob Waldemar sein ganzes Leben lang König gewesen wäre, so schritt er würdig voran. Jeder Zentimeter seines gestählten Körpers strahlte eine Würde aus, die nur den besten Königen eigen ist. Sein bisheriges Leben als Prinz und Herzog hatte ihn jeden Tag auf diese Aufgabe vorbereitet. Von sich aus hätte er nie der Krone wegen die Hand gegen seinen Bruder erhoben, wie es in anderen Königshäusern bisher nicht selten geschehen war. Dazu war er ein zu treuer und verantwortungsvoller Mensch gewesen. Mit Knud hatte ihn außerdem wahre Bruderliebe verbunden, die keinen Neid zwischen ihnen zugelassen hatte. Doch durch das plötzliche Verscheiden Knuds war nun seine Stunde gekommen, die er zu nutzen verstand. Seitdem war er als gerechter König, aber auch als harter Mann bekannt, der genau wusste, was er wollte.

.„Lange Rede, kurzer Sinn. Ich möchte, dass du, Werdago, der erste Bürgermeister der Stadt Mölln wirst. Du sollst dir vier ständige Ratsmitglieder aussuchen. Danach sollen sie in zeitlichen Abständen in freier Wahl der Bürger gewählt werden. Außerdem wünsche ich, dass Konrad Wackerbart weiterhin als Vogt tätig ist. Durch das lübische Stadtrecht habt ihr ja dann sowieso das Recht, einen Rychtevoghede, einen Richteherrn zu ernennen.“

Die beiden Männer strahlten. Sie waren am Ziel ihrer Wünsche. Sie konnten ihr Glück nicht fassen. Endlich war es soweit. Nun galt es dennoch eine gewisse Bescheidenheit an den Tag zu legen.

„Ihr seid zu gütig, mein König. Wir werden euer Vertrauen nicht missbrauchen Zu eurer vollsten Zufriedenheit werden wir unser Amt ausführen.“ Werdagos Worte klangen feierlich.

„Das hoffe ich doch sehr, dass ihr mir weiterhin keine Scherereien macht. Dies würde nur unnötige Probleme aufwerfen.“ Ein Seufzer war aus des Königs Worten herauszuhören.

„Aber ich bin noch aus einem anderen Grund mit euch hier heraufgestiegen. Wie ich sehe, habt ihr die Bergspitze hier von Häusern freigelassen. Dies war wohl nicht ohne Grund geschehen. Wie werdet ihr bisher von der Kirche besorgt? Ich sah hier noch kein Gotteshaus.“

„Der Pfarrer des Dorfes Bredenvelde kommt regelmäßig hierher. Wir sind kirchlich ein Teil seiner Gemeinde. Die Gottesdienste halten wir im Freien, ansonsten im Krug ab.“

„Hm.“ Der König kraulte seinen Bart. „Das dachte ich mir. Deshalb habe ich beschlossen, hier an dieser Stelle wo ich stehe eine große Kirche bauen zu lassen. Sie soll nach dem Schutzpatron der Seefahrer und Kaufleute, dem heiligen Sankt Nikolaus, benannt werden, wie es Sitte bei Kirchen unweit des Meeres ist. Ich gehe einmal davon aus, dass euer zuständiger Bischof Isfrid von Racisburg sich nicht meinem Wunsch widersetzt, und somit dem Namensvorschlag zustimmen wird. Aus diesem Grund werde ich euch einen Kirchen­bau­meister und Fachleute senden, die euch bei der Errichtung der Kirche helfen werden. Die Kirche soll nach dänischer Baukunst und Art errichtet werden. Ist dies nach eurem Gefallen?“

Der König sah in glückliche Gesichter. Werdago konnte vor Freude nicht mehr an sich halten.

„Ihr seid zu gütig. Das werden wir euch nicht vergessen. Wir sind eure treuesten Untertanen.“

Mit einer wegwerfenden Handbewegung tat Waldemar diese Erklärung ab, als hielt er das eben Gesagte nur für Geschwätz.

„Genug der Lobeshymnen. Übrigens soll am Fuße des Eichberges im Osten8 ein fürstlicher Wohnhof neben dem Haus des Konrad entstehen. Dieses Slot soll als herzogliche Residenz dienen. Auch dafür werde ich Bauarbeiter senden. Jetzt lasst uns aber zurückgehen.“

Werdago verharrte jedoch und wandte sich an den König, der eigentlich aufbrechen wollte.

„Eine Sache wollte ich euch noch fragen, mein König.“

„Was gibt es denn noch?“

„Wie soll es denn jetzt mit der Grafschaft Racisburg weitergehen? Werdet ihr für uns einen neuen Grafen ernennen, oder wird dies eine verwaiste und vakante Grafschaft bleiben?“

Ein Blitzen in Waldesmars Augen bekundete, dass er Werdagos Ansicht teilte.

„Genau aus diesem Grund möchte ich euch als ersten Bürgermeister haben. Ihr seid ein schlauer Mann, und denkt mit. Es ist richtig, dass die Grafschaft zur Zeit vakant darniederliegt. Doch soll sich dieser Zustand bald ändern. Ich verrate nicht zuviel, wenn ich euch schon andeute, dass ich einen neuen Grafen benennen werde. Wer dies sein wird, möchte ich zur Zeit noch nicht verraten. Wartet es ab.“

Die drei ungleichen Männer gingen den Berg hinunter und verschwanden zwischen den Fachwerkhäusern. Zwei Tage später wurde die von Prabislaw geschriebene und vom König unterzeichnete Urkunde ohne große Feierlichkeiten dem ersten Bürgermeister Werdago über­geben. Der König reiste mit seinem Heer am nächsten Tag wieder ab. Zurück ließ er zufriedene Bürger, die endlich ihr Ziel erreicht hatten. Der einzige Wermutstropfen waren die auf Dauer zu stellenden Geiseln, deren Gefangenschaft noch neun lange Jahre dauern sollte. Es schien eine noch unendlich lange Zeit zu sein. Nicht nur für Prabislav.

Das Lübische Stadtrecht war das von Lubecke übernommene Recht, das zu späterer Zeit in nahezu über hundert Städten im Ostseeraum verpflichtend sein sollte. Heinrich der Löwe verlieh Lübeck verschiedene Privilegien. Dadurch bekam die Stadt 1160 das Soester Stadt­recht. Hieraus entwickelte sich unter Federführung des Rates das sogenannte Lübische Recht über einen längeren Zeitraum hinweg.

Waldemar hielt Wort. Anfang des Jahres 1204 setzte er seinen Neffen Albrecht von Orla­münde als Graf von Racisburg ein. Er erhielt die Burg und das Land Racisburg. Dafür verlor er die Länder um Wittenburg und Boizenburg, die Gunzelin II. von Schwerin erhielt. Es war jener Gunzelin, der 1201 die Waffenhilfe im Kampf gegen Adolf III. geleistet hatte. Auch der Abotritenfürst Heinrich Borwin von Mecklenburg ging bei der Neuverteilung der Ländereien nicht leer aus. Er erhielt das Land Gadebusch. Als Ausgleich dafür wurden dem Grafen Albrecht von Orlamünde die Sadelbande im Südwesten der Grafschaft bei Bergedorf zugesprochen.

Im darauffolgenden Jahr trafen in der neuen Stadt ein Kirchenbaumeister und Fachleute des Kirchenbaues ein. Sie begannen zuerst mit dem Chorraum, der im romanischen Stil gehalten war. An einen Kirchturm, bzw. eine Apsis war noch nicht gedacht. Erst Jahrzehnte später sollten sie errichtet werden.

Für die Steine, die den unteren Bereich, also das Fundament, bilden sollten, hatte die Natur gesorgt. Die Eiszeit hatte sie als überall herum liegende Findlinge hinterlassen. Ringsherum auf den Feldern und in den Wäldern fanden Bauern größere und kleinere Steine. Auf ihren Karren und Fuhrwerken wurden sie zum Eichberg geschafft. Unablässig wurden die Steine herangeschafft. Die von Ochsen gezogenen Karren ächzten und knarrten unter der schweren Last. Mehr als einmal geschah ein Unglück. Entweder kamen die schwer beladenen Karren den Berg nicht herauf, die Steine purzelten aus der Karre den Berg herunter, oder eine Achse brach stöhnend unter dem Gewicht.

Steinmetze bearbeiteten auch öfters noch an der Baustelle die größeren Steine. Als dies geschafft war, wurden eigens Backsteine gebrannt. Unendlich viele wurden hergestellt, und mit Mörtel verbunden aufeinander geschichtet. Dabei vergingen beim Kirchbau die Jahre.

Der Regen hatte aufgehört an diesem trüben Junitag. Prabislaw hatte vor wenigen Tagen seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert. Aber ihm war nicht so recht zum Feiern zumute gewesen. Seine Freunde Thiedardus und Johannes und andere waren gekommen. Reinold war schon vor fünf Jahren an Altersschwäche gestorben. Der Lauf der Dinge war eben nicht aufzuhalten.

Für Prabislaw galt aber eine andere Zeitrechnung. Er zählte die Jahre, bis Helene und die anderen Geiseln aus Dänemark zurückkommen würden. Jetzt waren es nur noch zwei Jahre, die er ohne sie ertragen musste. Er zählte rückwärts. Keine andere Frau war ihm seitdem ebenbürtig im Vergleich mit Helene erschienen. Keine war wie sie. Versuche anderer Väter ihn mit ihren Töchtern zu vermählen, waren an seiner harschen und verbohrten Art kläglich gescheitert. Heiratsfähige Frauen und deren Väter hatten bald gemerkt, dass Prabislaw ein hoffnungsloser Fall war, und gaben jeden weiteren Versuch auf. Er galt als Sonderling.

An diesem Nachmittag war er schon früher zu Hause in der Seestrate und schnitze Holzfiguren. Für seine geschickten Finger war das in seiner freien Zeit eine entspannende Ablenkung.

Geräusche drangen von der Straße an sein Ohr. Zuerst achtete er nicht darauf und schnitzte weiter. Aber dann wurden die Stimmen immer lauter. Sie waren bald in der Nähe seines Hauses. Er konnte laute Rufe heraushören, die Schmährufe beinhalteten.

„Mörder.“

„Hängt ihn auf.“

„Du Schwein, in der Hölle sollst du schmoren.“

Neugierig geworden, erhob er sich und trat an seine Tür. Vor sich erblickte er ein Bild, welches er noch nie in der Stadt gesehen hatte. Die Menschen der Stadt waren aus ihren Häusern getreten und standen überall Spalier. In ihren Händen hielten sie verdorbene Esswaren und Steine, die sie zum Werfen bereit hielten. In der vom Regen aufgeweichten Straße zog sich ein Trupp von sieben Reitern hin. Die Pferde sanken tief in den Matsch ein. Ihr Gang war daher mühselig, und die Tortur des Beworfenen dauerte dadurch länger.

An der Spitze ritt Konrad Wackerbart. Stolz saß er auf seinem Pferd, welches eine verzierte rote Decke unter dem ebenfalls verzierten Sattel trug. Das Zaumzeug war auch mit kunstvollen Nieten beschlagen, welches den Reichtum des Reiters signalisierte. In Konrads Gesicht spiegelte sich vollkommene Zufriedenheit ab.

Prabislavs Blick wanderte zu dem gefangenen Reiter hinüber. Er war das genaue Gegenteil des Lokators. Verdreckt mit lausigen langen Haaren saß er gefesselt und eingesunken auf dem Pferd, welches ihn bei jedem mühseligen Schritt durchschüttelte. Sein Körper, der sich durch die auf dem Rücken gefesselten Hände nicht richtig festhalten konnte, wurde so hin und her bewegt, dass es schien, er könnte jeden Moment herabfallen.

Zuerst erkannte er den Gefangenen nicht. Doch als dieser auf der Höhe von Prabislavs Haus stand, sah dieser mit einem verächtlichen Blick auf den Schreiber herab. Das war der Moment, als Prabislaw den Gefangenen trotz des Dreckes identifizierte. Sein Herz blieb für eine Sekunde vor Schreck stehen. An diesen Mann hatte er seit vierzehn Jahren nicht mehr gedacht. Er war davon ausgegangen, dass er schon seit vielen Jahren tot sei. Gestorben bei irgendeiner seiner räuberischen Taten. Ungläubig starrte er den Gefangenen an.

Dieser Mann war Zwentepolch.

Prabislaw wusste nicht wie er reagieren sollte. Furcht und Verwirrung waren diese Gefühle, die ihn sofort ergriffen. Sofort erschienen die Bilder von dem Überfall an der Delbende wieder vor seinem geistigem Auge, die er eigentlich verdrängt hatte. Aber brauchte er denn Furcht vor diesem gefesselten Mann zu haben? Wohl eher nicht. Als er sich darüber klar wurde, war Zwentepolch auch schon an ihm vorübergeritten.

Was er sah war, wie unablässig Gegenstände nach Zwentepolch geworfen wurden. Sie prallten ab. Dies schien dem Gefangenen nichts auszumachen. Aber in Prabislavs Erinnerung blieb dieser verachtende Blick, den er aufgefangen hatte. Er war sich sogleich sicher, dass Zwentepolch auch ihn erkannt hatte.

Sollte er sich Sorgen machen? Er verneinte, und sah dem seltsamen Zug hinterher, der sich durch jede Straße Mulnes zog. Dies tat Konrad absichtlich, damit jeder sehen konnte welch großen Fang er gemacht hatte. Es gefiel ihm sichtlich, sich im Glanz des Ruhmes zu sonnen.

Zwei Tage später wurde Gericht über Zwentepolch gehalten. Der Prozess fand in des Lokators Haus statt. Eigentlich war Konrad der Rychtevoghede der Stadt. Doch da er als Zeuge und Angegriffener bei dem Überfall selbst aussagen musste, gab er sein Amt an das Ratsmitglied Heinrich ab. Genauso verhielt es sich beim Schreiber der Stadt. Eigentlich wäre dies die Aufgabe Prabislavs gewesen. Da auch er der wichtigste Zeuge des Überfalls war, wurde ein Ersatz für ihn gefunden.

Prabislaw hatte inzwischen erfahren, wie es zu der Festnahme Zwentepolchs gekommen war. Nach dem Überfall an der Delbende war es niemandem gelungen, Zwentepolchs Räuberbande Herr zu werden. Das lag nach wenigen Überfällen entlang der Via Regia auch daran, dass die Bande bald aus der Grafschaft Racisburg nach Osten verschwand. In der Grafschaft Gunzelins von Schwerin hatte Zwentepolch weiter sein Unwesen getrieben. Sie waren auch bis Wismar und Rostock gelangt. Jahrelang hatte sich die Räuberbande mit Überfällen auf Händlerkarren am Leben gehalten. Die Händler wehrten sich so gut sie konnten. Zwar fiel ein Kumpan Zwentepolchs nach dem anderen, doch dem Anführer war nicht beizukommen gewesen.

Zuletzt waren nur noch er und Slaomir übriggeblieben. Ihre Taten wurden immer ver­zweifelter. Vor den Toren der Stadt Schwerin war es jedoch wackeren Leuten gelungen, Zwentepolch gefangen zu nehmen. Slaomir starb stattdessen an einem Schwerthieb.

Bevor jedoch die einfachen Leute, angetrieben durch ihren verständlichen Gerechtigkeitssinn, den Räuber am nächsten Baum hängen konnten, bekam der Rychtevoghede Schwerins Wind von der Gefangennahme. Er ließ sich den Mann unter den Unmutsbezeugungen der braven Leute aushändigen und sammelte Beweise für die vielen Taten des Zwentepolchs in seinem Bereich.

Da geschah es zufällig, dass sich Konrad Wackerbart zu Besuch in Schwerin wegen Geschäf­ten aufhielt. Er hörte von der Festname und war wild entschlossen, selbst den Prozess gegen Zwentepolch in seiner Stadt zu führen. Schließlich war der Überfall an der Delbende, der die Verwundung Reinolds und den Tod seiner Männer zur Folge hatte, Zwentepolchs erste Tat gewesen. Deshalb sah er für sich ein Vorrecht. Es begann mit dem Schweriner Rychtevoghede ein Gefeilsche. Nach Graf Gunzelins Zustimmung erhielt Konrad den Gefangenen gegen einen hohen Obolus ausgehändigt. Den zahlte Konrad gern.

Heinrich eröffnete den Prozess und las die Anklage vor. Heinrich gehörte zu den vier Ratsmitgliedern der Stadt. Bei Gerichtsverfahren, die wegen mörderischer Bluttaten, Ent­schei­dungen über Grundbesitz und anderes Eigentum geführt werden mussten, wurden noch sechs weitere Bürger hinzugezogen. Diese waren jedoch bereits schon zuvor einmal Rats­mitglied gewesen. Das lübische Stadtrecht sah vor, dass nur vier Ratsherren sich ständig im Amt befanden, während für die restlichen sechs die Amtsbedienung ruhte. Nur bei besonders wichtigen städtischen Entscheidungen über Erbe, Eigentum und bei Mordtaten wirkte also der gesamte alte und neue Rat zusammen.

Neben Heinrich saßen dementsprechend zehn Schöffen der Stadt. Danach wurden die Zeugen Prabislaw und Konrad Wackerbart vernommen. Ihre Aussagen deckten sich und brachten die einhellige Schuld Zwentepolchs zum Ausdruck.

Einen Fürsprecher für den Gefangenen gab es in diesem Fall nicht. Als der Rychtevoghede nach diesem fragte, erhielt er nur eisige Stille als Antwort. Deshalb durfte Zwentepolch zu seiner Verteidigung selbst sprechen. Ihm wurde erlaubt das Wort zu erheben.

„Ihr seid alle ein jämmerlicher Haufen.“ Seine Stimme klang klar und voller Zorn und Hass.

„Ich gestehe alle meine Taten, und bereue keine davon. Im Gegenteil, ich hätte noch viel mehr rauben und von euch meucheln müssen.“

Dann fiel sein Blick auf Prabislaw. Stechend war er, als wenn er ihn so töten könnte.

„Du bist genauso ein Feigling wie dein Vater. Du hast unser polabisches Volk verraten, und bist einer von ihnen geworden. Sieh dich doch nur an. Du bist es nicht wert als Polabe geboren zu sein. Ich verachte dich und werde dich töten, sobald ich dazu Gelegenheit finde.“

Prabislaw wusste später nicht mehr, wie er dazu gekommen war, folgende verhöhnende Worte zu sprechen. Vielleicht war er der sicheren Meinung, dass Zwentepolch bald nicht mehr unter den Lebenden weilen würde. Denn am Richterspruch zweifelte niemand.

„Du willst mir drohen? Pah. Sieh dich doch an. Du bist selber verachtenswert. Was ist nur aus dir geworden? Ein meuchelnder Räuber, der brave Männer bestiehlt. Wenn der Henker mit dir fertig ist, wirst du keine Hand mehr gegen mich oder irgend einen anderen erheben können. Du wirst deiner gerechten Strafe zugeführt werden. Pah, mach dich doch nicht lächerlich.“

Zwentepolchs Blick war hasserfüllt Doch er konnte nichts unternehmen. Gefesselt stand er zwischen zwei Fronknechten, die ihn bewachten.

Heinrich übernahm wieder das Wort.

„Damit Gerechtigkeit in Mulne einkehre und die Bosheit gesühnet werde. So soll dies Thing die Blutschande von Mulne nehmen, und Gottes Kinder Gerechtigkeit widerfahren. Wie lautet das Urteil der Schöffen? Sie mögen das gerechte Urteil verkünden.“

Gemurmel ertönte unter allen Anwesenden. Jeder wollte noch vorher seine Meinung über das zu fällende Urteil seinem Nächsten mitteilen.

Der Sprecher der Schöffen war Siegfried, der Schmied der Stadt. Seine riesigen Oberarme, gestählt durch die Arbeit, geboten Ruhe. Sofort verstummte das Gemurmel der Zuhörer.

„Die Schöffen Mulnes, die ehrenwerten und von Richterhand ausgewählten Freien der Stadt, entbürden Zwentepolch jeglicher Schuld auf Erden durch den Strick am nächsten Morgen. So sprechen wir den Blutbann aus.“

Sogleich, als das Todesurteil verkündet wurde, erhob sich allenthalben unbeschreiblicher Jubel. Dieses Urteil kam nicht überraschend. Nun galt es noch das Urteil vom Rychtevoghede bestätigen zu lassen.

Heinrich bestätigte das Urteil der Schöffen. Es hieß Tod durch den Strick vor den Toren der Stadt. Der Schreiber notierte fleißig das Gehörte. Dann schloss Heinrich die Verhandlung, und Zwentepolch wurde durch die Fronknechte in die Fronerei abgeführt. Das Gefängnis der Stadt befand sich gleich nebenan. Es war eigentlich nicht wert Fronerei genannt zu werden, denn es gab in der Stadt nur zwei Zellen. Normalerweise befanden sich kleinere Diebe und Gesetzesbrecher darin. So ein großer Räuber und Mörder hatte sich seit Bestehen der Stadt noch nicht in den Zellen der Fronerei befunden. Jede war an drei Seiten mit Holz beschlagen. In der oberen Hälfte der Tür waren Eisenstangen als Gitter eingelassen. Ein wenig Licht schien herein. Ein Topf für die Notdurft befand sich darin. Sonst nichts. Kein Bett, Tisch oder Stuhl. Auf dem nackten Boden musste der Unselige nächtigen.

Prabislaw ging mit gemischten Gefühlen zu seinem Haus. Es war doch komisch. Viele, viele Jahre lang war dieser Mann aus seinem Gedächtnis verschwunden gewesen, als wenn es ihn nie gegeben hätte. Anfangs, als er gerade das Schreiben erlernte, fragte er sich vereinzelt, ob Zwentepolch wohl noch lebte, aber mit der Zeit war die Erinnerung daran verblasst. Er war gänzlich aus seiner Erinnerung gestrichen gewesen.

Jetzt stand er plötzlich wieder in seinem Leben. Aber nicht mehr lange.

Einerseits war er froh, dass unter dieser Geschichte nun ein Schlussstrich gezogen war. Doch andererseits konnte er sich nicht freuen, da er eine nicht genaue definierbare Art der Furcht empfand. Als wolle sie ihm sagen, dass es noch nicht vorbei sei.

Unsinn, sagte er sich, um sich zu beruhigen. Am nächsten Morgen wollte er dabei sein, wenn sie den Räuber am Strick baumelnd emporheben würden.

In der Nacht konnte er schlecht schlafen. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Unruhig lag er da und lauschte den Geräuschen der Nacht. Der Nachtwächter war schon vor langer Zeit durch die Seestrate gegangen und hatte die Stunde der Mitternacht ausgerufen, als er ein Geräusch hörte. Plötzlich war er wach und schnellte hoch. Ein Griff nach seinem Schwert, welches neben seinem Nachtlager bereitlag, war Sache eines Augenblicks.

Oh, wie beruhigte ihn der kalte Stahl, als er in seiner Hand lag. Er ging vorsichtigen Schrittes zur Haustür, die zur Seestrate führte, und stellte sich neben ihr hin. Da war wieder das Geräusch. Jemand machte sich an seiner Tür zu schaffen. Er vernahm ein Kratzen.

„Miau.“

„Verfluchte Katzen,“ entfuhr es ihm.

Die Anspannung fiel von ihm ab. Kopfschüttelnd ging er zu seinem Bett zurück. Er machte sich nur selbst verrückt. Es war diese leere Drohung von Zwentepolch gewesen, die sich unbemerkt wie ein Gift in seinen Körper eingeschlichen und verbreitet hatte.

Ich verachte dich und werde dich töten, sobald ich Gelegenheit dazu finde. Leere Phrasen, beruhigte er sich. Morgen wird er tot sein, und alles wird seinen geregelten Gang gehen.

Er legte sein Schwert wieder an seinen Platz, als er wieder ein Geräusch vernahm. Diesmal aber von der Rückseite des Hauses, die dem Mulner See zugewandt war. Das Stück Land bis zum See war sein Garten, und auf beiden Seiten von der Nachbarschaft her zugänglich. Da hörte er es wieder. Vom Garten her machte sich jemand an der rückseitigen Tür zu schaffen. Wieder eine Katze.

Das war sein erster Gedanke. Aber dann fiel ihm auf, dass es sich diesmal anders anhörte. Er nahm wieder sein Schwert in die Hand. Langsam ging er auf nackten Sohlen zur Hintertür. Dort verharrte er und lauschte. Irrte er sich, oder vernahm er hinter der hölzernen Tür ein Atmen?

Er war sich nicht sicher.

Aber das war auch egal, weil ihm die Entscheidung abgenommen wurde. Mit einem Mal flog die schwache Tür aus den Angeln und fiel krachend neben ihm in die Wohnstube. Er schaute erschrocken heraus und konnte im fahlen Mondlicht eine männliche Gestalt erkennen. Diese Gestalt mit langen Haaren trug ebenfalls ein Schwert in der Hand. Sofort wusste er, wer der Träger war. Zwentepolch.

Er wich zurück, sein Schwert kampfbereit halbhoch erhoben. Zwentepolch hatte seinerseits die Gestalt neben der Tür erkannt, und trat herein. Prabislavs Vorteil war, dass er sich in der Dunkelheit in seinem Haus auskannte. Mit schlafwandlerischer Sicherheit ging er Schritt für Schritt rückwärts. Dabei hielt er immer das Schwert zum Schlage bereit. Sein Schritt führte ihn zur Haustür hin, hinter der sich die Seestraße befand. Dort wähnte er sich sicherer.

Zwentepolch dagegen kannte sich hier nicht aus. Außerdem war er aus der vom Mondlicht erhellten Nacht in die Dunkelheit des Hauses gelangt. Dadurch sah er außer Schwärze rein gar nichts. Ungeschickt stolperte er vorwärts und fiel über das Bett, welches im Raum stand. Längsseits fiel er zu Boden.

Prabislaw nutzte dieses Ungeschick aus und eilte zur Tür, die er schnell öffnete. Mit einem Sprung war er draußen und erwartete Zwentepolch. Bald kam auch dieser und stand ebenfalls im fahlen Mondlicht im ständig aufgewühlten Morast der Seestrate.

„Wache.“

Zwentepolch kam näher und hob gleichzeitig zum finalen Schlag sein Schwert.

„Wache, eilt herbei. Zwentepolch ist hier. Wache. So helft doch!“

Der Schrei „Wache“ eilte durch die gesamte Seestrate. Aber dies alles schien dem Flüchtling nichts auszumachen. Ohne sich von den Leuten, die aufgeschreckt aus ihren Häusern traten, ablenken zu lassen, trat er fünf Schritt vor und hieb mit großer Schlagkraft auf Prabislaw ein.

Dieser war jedoch auf den Schlag vorbereitet, und parierte den Schlag. Metall auf Metall klirrte in der vom Mondlicht erhellten Nacht. Der Schlag war mit solcher Härte ausgeführt, dass die Vibration durch Prabislavs gesamten Körper hindurchging.

Aber er kannte noch Zwentepolchs Kampfstil von früher und wusste, was ihn erwartete. Dem war auch so. Schlag auf Schlag kamen die Schwerthiebe; es war eine Folge jahrelanger Übung Zwentepolchs. Tapfer parierte Prabislaw jeden einzelnen von ihnen, bis die gleichmäßige Schlagfolge abrupt abriss.

Er sah unerwartet den dunklen Schatten Zwentepolchs auf die Knie niedersinken, sah dessen Schwert mit der Hand in den Dreck fallen. In diesem Moment wusste er, dass er weiterleben konnte. Weiterleben, um Helene sehen zu können.

Aber Zwentepolch war nicht tot.

Durch den Lärm und die Rufe alarmiert, waren die Fronknechte und Nachtwächter herbei­geeilt. Seit den Anfängen der Stadt galt für die Borger eine Wachtpflicht. Für diese Nacht waren die Brüder Hinrik und Nikolaus Smylowe abgestellt twe wachte, zwei Wächter, zu stellen. Sie waren auf ihrem Rundgang durch die Seestrate gewesen, als sie der Hilferuf ereilte. Eifrig, wie die zwei jungen Männer waren, liefen sie durch die dunkle Straße, als sie die Umrisse eines Mannes mit langen Haaren erkannten. Intelligent wie sie waren schlossen sie sogleich richtig, dass es sich um Zwentepolch handeln müsse. Hinrik reagierte gleich, indem er seine Lanze hob und warf.

Seine Lanze traf von hinten in Zwentepolchs rechtes Bein. Zwentepolch war auf die Knie gesunken. Dann folgte ein einzelner präziser Schwerthieb, von Nikolaus geführt, der Zwentepolchs erhobene rechte Hand sauber abtrennte. Kampfunfähig war Zwentepolch daraufhin zur Seite gekippt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lag er da und starrte nur auf Prabislaw. Starrte ihn nur hasserfüllt an, während sein Blut ungehindert aus dem Stumpf des Unterarmes in den Morast der Seestrate rann. Kein Schrei des Schmerzes kam derweilen über seine Lippen.

Die Bürger, die aus ihren Häusern herbeigeeilt waren, sahen diesem Spektakel fasziniert zu. Wann wurde ihnen ansonsten in ihrem trostlosen Alltag so eine Abwechslung geboten?

Am nächsten Morgen wurden die Mulner nicht um ein weiteres Schauspiel gebracht. Wann gab es in dieser neuen Stadt denn schon einmal eine Hinrichtung? Zwentepolch war notdürftig behandelt und die Blutung mit dicken Verbänden provisorisch vom Bader gestillt worden. Jedenfalls nur soweit, dass er seine eigene Hinrichtung noch erleben konnte.

Vor der Stadt, auf der Südseite des Werders, war ein Galgen errichtet. Es war der kräftigste Baum ausgesucht worden. Am starken Ast, der nach Süden wuchs, baumelte ein Seil herab, das in einer Schlinge endete, durch die gerade ein Kopf hindurchpasste. Darunter war eine hölzerne Kiste aufgestellt. Zwentepolch wurde auf die Kiste gestellt, die Schlinge um seinen Hals gelegt und daraufhin zugezogen, bis sie eng an seinem Hals anlag.

Der Rychtevoghede stellte sich vor dem Todgeweihten auf. Da die Hinrichtung kurz bevor­stand, las er von einer Rolle jenen Spruch ab, den das Ritual für diesen Anlass vorschrieb.

Da Zwentepolch vom hohen Gerychte verurtheilt, so buytt ich den Radt, sie sollen sein Leben auf der heilgen Erd außlyschen, so er kann erlanghen den Himmel. So Gott wyill. Und dies Gedechtnuß unsrer Stadt bleibt, den großen Herren Gedencken lang, von derlei Synd reine.”

Heinrich war gezwungen, sich peinlichst genau an das vorgeschriebene Prozedere zu halten. Was würde denn geschehen, wenn ihm ein Fehler bei der Hinrichtung unterliefe? Der Schaden wäre immens groß und nicht wieder gutzumachen. So könnte die Seele des Toten nicht in den Himmel aufsteigen, und die Blutschuld wäre nicht von der Stadt genommen. Ewig würde dies Unrecht auf der Stadt lasten, und der Grund für Unglücke und Krankheiten sein. Ein solcher Fluch sollte nicht durch seine Schuld auf die Stadt fallen.

„Durch das Blutgericht wurde der Beschuldigte zum Tode durch den Strang verurteilt. Er soll so lange gehängt werden, bis der Tod eintritt. Das Urteil wird jetzt vor den Bürgern Mulnes unter den barmherzigen Augen Gottes vollstreckt. Die Schandtat des Zwentepolch sei somit vor dem Gesetz gesühnet. Möge Gott dem Sünder verzeihen. Das Gesetz kann es nicht. Möge sogleich das Urteil vollstreckt werden.“

Heinrich trat zurück und sah auf die Menschenmenge, die im Halbrund stand. Beinahe alle Bürger Mulnes – welche an Zahl schon einige hundert waren – hatten sich versammelt. Keiner wollte sich das Schauspiel entgehen lassen. Gespannt blickten sie auf den Todgeweihten. Einige Kleinkinder weinten, ansonsten herrschte gespenstische Stille.

Zwentepolchs Gesicht war von seiner langen Haarpracht teilweise bedeckt. Lange verdreckte Strähnen fielen ihm vornüber. Seine Augen blickten leer. Sie hatten kein genaues Ziel anvisiert. Ob er die Worte überhaupt vernommen und ihren Sinn verstanden hatte, konnte keiner wissend sagen. Heinrich hob die Hand, woraufhin der Henker die Kiste unter den Füßen wegstieß. Zappelnd baumelte Zwentepolch wenige Minuten lang, bis der Tod eingetreten war. Endlich war der Gerechtigkeit genüge getan, und alle Leute gingen zufrieden nach Hause. Schnell löste sich die Ansammlung auf. Zwentepolch wurde abgeschnitten und sein Leichnam außerhalb des Werders ohne großen Aufwand schnell vergraben.

Jetzt konnte wieder Ruhe in die Stadt einkehren.

Zwei Jahre später stand Prabislaw erwartungsvoll an der Holzbrücke, die nach Norden führte. Ihn hatte Kunde erreicht, dass die Geiseln nach zehnjähriger Haft in Dänemark heute wieder in ihrer Heimatstadt eintreffen würden. Er stand nicht alleine erwartungsvoll dort. Neben ihm warteten all die Angehörigen der Geiseln, soweit sie noch lebten und sich erinnerten. Zehn Jahre waren eine lange Zeit. König Waldemar hatte sein Versprechen gehalten und die dreißig Geiseln pünktlich in Marsch gesetzt. Doch trübte ein Gerücht die Vorfreude der Wartenden. Es besagte, dass von den ursprünglich dreißig Geiseln nicht alle wieder­kehren würden. Es hieß, einige von den Geiseln hätten im Laufe der Jahre geheiratet und sich zwangsläufig dafür entschieden, in Dänemark zu bleiben. Eine genaue Zahl und die Namen wusste niemand zu benennen. Ungewissheit war deshalb allenthalben. War es gerade der eigene Sohn oder die eigene Tochter, die man nicht wiedersehen würde? Gerüchte konnten grausam sein.

Prabislaw fragte sich desgleichen, ob seine Helene einen Dänen geehelicht haben könnte. Dann wäre das Leben für ihn sinnlos geworden und sein langes Warten umsonst gewesen. All die einsamen Nächte und Tage des Ausharrens wären dann plötzlich nutzlos geworden.

Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Wie ihm ging es allen Freunden, Geliebten, Vätern und Müttern.

Ein Reiter kam den Berg von Norden heruntergeritten. Langsam führte er sein Pferd über die Holzbrücke. Dann blieb er stehen und wartete. Bald darauf zogen Karren ebenfalls den Berg herunter. Als sie auf der Brücke angelangt waren, ritt der Reiter, der unschwer als dänischer Soldat zu erkennen war, weiter. Die Karren folgten ihm. Ebenso die dreißig dänischen Reiter, die im Hintergrund blieben.

Die Menschen reckten ihre Hälse und versuchten einen Blick auf die Leute auf den Karren zu werfen. Die ersten Jubelrufe ertönten, da die ersten Heimkehrer schon früh erkannt worden waren. Aber zehn Jahre sind eine lange Zeit, und die Menschen verändern sich. Aus Kindern werden Erwachsene, sodass das Erkennen bei den meisten schwer fiel.

Prabislaw zählte schnell durch. Einundzwanzig. Es waren nur einundzwanzig Leute zurück. Neun waren demnach also in Dänemark geblieben.

Oh Gott, dachte er sich. War seine Helene auch dabei, die einen Mann und ihr Glück in Dänemark gefunden hatte? Sein Herz mochte fast zerspringen.

Da fiel sein Blick auf eine Frau, die ein Kopftuch trug. Sie hielt den Kopf gesenkt und war von den anderen meist verdeckt gewesen. Deshalb hatte Prabislaw sie nicht gleich erkannt.

Unsicher stand sie auf und folgte den anderen ehemaligen Geiseln vom Karren herunter. Überall waren Freudenrufe zu vernehmen, Jubelrufe des Wiedererkennens. Die Menschen fielen sich in die Arme. Glück war in den meisten Gesichtern zu lesen. Aber nur in den meisten. Die Angehörigen der neun Geiseln, die in Dänemark geblieben waren, blickten traurig. Sie hatten niemanden zu begrüßen. Als Trost wurden ihnen Briefe ausgehändigt, in denen die neun ihre mannigfaltigen Beweggründe darstellten. Es konnten jedoch nicht mehr als ein schwacher Trost sein. Aber das Schicksal hatte es nun einmal so bestimmt. Bald zogen sich diejenigen mit gesenkten Köpfen in ihre Häuser zurück.

Prabislaw sah wieder zu der Frau mit dem Kopftuch. Sie erhob plötzlich ihren Kopf und wandte ihren Blick zu ihm. Sie lächelte ihn an. Prabislavs Herz machte einen Sprung. Helene war zurück. Doch bevor er an sie herantrat, hatten der Bäcker Gottfried und dessen Frau sich zu ihrer Tochter durchgeschlagen. Nach der herzlichen Begrüßung sah Helene sich um.

„Wo ist Hanno? Ich sehe ihn nicht.“

Gottfried räusperte sich. Helene sah ihn daraufhin verwirrt an. Ihre Mutter schwieg und überließ Gottfried die schwere Antwort.

„Hanno ist bei seiner Frau und seinen drei Kindern. Er …er hat …, er hat bald darauf geheiratet. Was soll ich sagen?“

„Nichts, Vater. Es sollte wohl so geschehen.“

Helene überraschte dies nicht. Sie empfand nicht einmal Trauer darüber. Im Gegenteil. Sie dankte dem Herrgott sogar dafür, dass er sie durch die Geiselnahme davor bewahrt hatte, diesen Hanno zu ehelichen, der ihr eigentlich höchst zuwider gewesen war. Sie hätte es nur ihrem Vater zuliebe getan. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Ein Gedanke, dass Prabislaw noch für sie frei sein könnte, falls er nicht inzwischen ebenso geheiratet hätte. Sie bekam Angst davor. Ihr Blick wanderte schüchtern zu Prabislaw hinüber. War er verheiratet?

Prabislaw stand immer noch dort, wo er gestanden hatte, und lächelte ihr zu. Da wusste sie die Antwort auf ihre Frage, und lächelte ihm ebenfalls zu. Dann folgte sie artig ihren Eltern ins Haus, welches sie seit zehn Jahren nicht mehr betreten hatte.

Zwei Tage später hatten Helene und Prabislaw endlich Gelegenheit dazu, sich zu treffen. Sie fielen sich gleich in die Arme und küssten sich. Helene sprach anschließend über ihre dänische Zeit. Einige Freier hätten um sie geworben und es wäre ihr nicht schwer gefallen, dort einen guten fürsorglichen Gatten zu finden, bei dem sie keinen Hunger mehr gelitten hätte. Aber sie habe den Werbungsversuchen widerstanden und allen einen Korb gegeben. Es sei nur ihr Wunsch gewesen, nach Mulne zurückzukehren, weil sie sich immer sicher gewensen sei, dass Prabislaw auf sie warten würde. Daran habe sie nie gezweifelt. Sie kenne ihn zu gut.

Bäcker Gottfried war schnell davon zu überzeugen, dass Prabislaw seine Tochter ehelichen würde. Da sie inzwischen schon fast dreißig Jahre zählte und somit schon als alte Frau galt, war der Preis, den er als Morgengabe verlangen konnte, natürlich drastisch gesunken. Junge Mädchen erzielten nun einmal einen höheren Preis. Bevor sie als alte Jungfer enden würde, willigte er bei Prabislavs Angebot sogleich ein.

Bald wurde die Toslach gefeiert. Die Hochzeit, die Brutlacht, folgte noch vor dem Winter. Es war ein rauschendes Fest, bei dem die halbe Stadt eingeladen war. Prabislaw hatte zehn Schweine beim Knochenhauer bestellt. Gänse, Hühner und Fisch gab es obendrein zu essen. Zehn Fässer in Mulne gebrautes Bier standen bereit. Seit einiger Zeit gab es in Mulne nämlich auch Bürger, die nebenbei Bier brauten. Um der Braugerechtigkeit genüge zu tun, hatten sie vorher beim Rat eine Braugenehmigung beantragt und erhalten. Er ließ es sich sogar nicht nehmen, zwei Fässer teuren Weines zu bestellen, die er extra über die Via Regia aus Lubecke kommen ließ.

Es wurde ausschweifend gefeiert, und Prabislaw war noch nie so glücklich wie an diesem kalten aber sonnigen Tag.

Es war ein warmer Tag, der 24. Mai im Jahre 1217, als zum ersten Mal in dem jungen Städtchen eine Kirchensynode abgehalten wurde. Sie wurde geleitet von Bischof Heinrich von Racisburg, der seit zwei Jahren das Bischofsamt innehatte. Ihm zur Seite stand der Priester aus Bredenvelde, der immer noch für die Stadt Mulne zuständig war, die ergo immer noch nicht über einen eigenen Priester verfügte.

Abgehalten wurde die Synode in dem Chorraum, der fast fertig war. Die Rundbogenfenster waren schon fertiggestellt. Auf der Nordseite gab es schon eine Rundbogentür. An der Westseite sollte noch in den nächsten Jahren ein freistehender Turm entstehen. Aber dieser geplante Turm würde noch Jahre des Bauens in Anspruch nehmen, genauso wie die geplante Apsis, die, nach Osten gerichtet, gebaut werden sollte. Vom dänischen Einfluss zeugte auch die starke Überhöhung des Kapitellkörpers im Chor. Der Einfluss des dänischen Baumeisters Harm war unübersehbar.

Von der Synode an sich bekamen die Mulner Bürger nicht viel mit. Als Abgesandte des Stadt­rates waren lediglich der Bürgermeister Werdago und das neue Ratsmitglied Thiedardus anwesend. Für Thiedardus hatte sich ein langjähriger Traum erfüllt, nachdem es ihm gelungen war, in den Rat gewählt zu werden.

Diese beiden Mulner Borger waren als einzige Repräsentanten ihrer Stadt dazu auserkoren, an der Synode teilzunehme; aber nicht nur das. Sie waren als Zeugen dabei, als eine wichtige Urkunde unterzeichnet wurde. In ihr bestätigte nämlich Bischof Heinrich der Kirche zu Bergedorf verschiedene Schenkungen des Grafen Albert von Orlamünde. Es handelte sich dabei um die Erlaubnis, zum Unterhalt des Priesters eine Mühle dort an der Bille anzulegen, und darum, die von seinen Vorgängern gewährten Privilegien zu bestätigen.

Nach den drei Tagen waren die Kleriker wieder aus dem beschaulichem Örtchen abgereist. Die Bürger waren darüber nicht enttäuscht. Sie konnten hernach ihren Alltagsgeschäften wie gewohnt nachgehen. Es war für jedermann schwer genug, sein täglich Brot zu verdienen und die fälligen Steuern an den Grafen Albrecht von Orlamünde und den Klerus zu entrichten.

Auch Helene hatte ihre Probleme. Sie hatte gerade ihren zweiten Sohn zur Welt gebracht. Die Geburt war schwierig verlaufen, und sie war nur knapp dem Tode im Kindbett entgangen. Tod im Kindbett war keine Seltenheit zu ihrer Zeit. Dieses Schicksal hatte vor ihr schon viele Mütter und Neugeborene ereilt. Der Bader warnte sie deshalb eindringlich davor, jemals wieder schwanger zu werden. Beim nächsten Mal würde sie nicht so viel Glück haben. Sie nahm sich die warnenden Worte des Baders und der Hebamme zu Herzen.

Darauf gingen die Jahre ins Land, und Helene hatte die Warnung des Baders verinnerlicht. Die beiden Söhne, Walter und der zwei Jahre jüngere Jakob, gediehen prächtig.

Wie der Vater einst, so waren sie in ihrer Kindheit ungezügelte, neugierige und unter­nehmungslustige Kinder. Diese Eigenschaften sollten eines Tages dem zwölfjährigem Walter zum Verhängnis werden. Aber dieses Ereignis hatte seine Ursache in der Machtgier der herrschenden Fürsten und Könige.

Nebenbei geschahen in der Welt der hohen Politik nämlich Dinge, deren höchst gefährliche Entwicklung die kleine Stadt auf drastische Weise mit einbeziehen sollte.

Dem Grafen Heinrich von Schwerin war nämlich eine tollkühne Tat gelungen, die ihres­gleichen suchte. Heinrich war der vierte Sohn des einstigen Verbündeten Waldemars, Gun­zelin. Heinrich hatte einige Jahre auf Kreuzzügen im Heiligen Land verbracht, als er von dort im Jahre 1222 zurückkehrte. Wütend musste er feststellen, dass Waldemar sich inzwischen seine halbe Grafschaft unter den Nagel gerissen hatte. Sein Bruder Gunzelin II, sowie der Schwager Niels van Halland waren in der Zwischenzeit verstorben, und der König hatte kurzerhand die Vormundschaft des minderjährigen Nikolaus von Halland-Schwerin über­nommen. Dadurch, dass er Albrecht von Orlamünde zum Statthalter von Schwerin erklärte, wurde der Zorn Heinrichs aufs Äußerste gesteigert.

Verhandlungen mit Waldemar blieben fruchtlos. Deshalb entschloss sich Heinrich von Schwerin zu einer tollkühnen Tat. Sie war zu dieser Zeit so verwegen und mutig, dass einige sie als Fabel abtaten. Sie zeugte jedoch von Heinrichs Einfallsreichtum.

Es war eine kalte Nacht zum 7. Mai 1223, als er den König Waldemar und dessen Sohn gleichen Namens von der dänischen Insel Lyo in einer Nacht- und Nebelaktion entführte, die dort unbewacht und ohne jeglichen Verdacht, von der Jagd ausgeruht hatten. Vater und Sohn waren bald überrumpelt. Ein schnelles Schiff brachte sie zur deutschen Küste zurück. Die beiden Gefangenen wurden heimlich nach Lenzen in der Mark Brandenburg, und später in die Burg Dannenberg gebracht, wo niemand etwas von den wichtigen Gefangenen ahnte. Alles lief heimlich ab.

Die Kunde aber, dass der König entführt sei, verbreitete sich rasch. Doch niemand wusste eben genau, wo dieser gefangen gehalten wurde. In den letzten Jahren hatte sich allerorts eine Unzufriedenheit gegenüber der dänischen Herrschaft herausgebildet. In allen Städten – auch in Mulne – war die Verdrossenheit gewachsen. Dies hatte mannigfaltige Gründe. Sie reichten von der Steuererhebung, des Frondienstes, bis zu neuen Gesetzen, die auf Unverständnis stießen. Diese Unzufriedenen witterten deshalb ihre große Chance darin, die Regierungs­schwäche auszunutzen und die dänische Herrschaft für immer abzuschütteln.

Es dauerte daher nicht lange, bis der erste seine Waffen gegen Dänemark erhob. Es war der stets unversöhnliche ehemalige Bischof Waldemar von Schleswig. Da sein größter Feind im Kerker schmachtete, hielt er es nicht mehr hinter den Klostermauern zu Loccum aus. Der Siebzigjährige fand Unterstützung beim Erzbischof Gerhard II. von Bremen. Zusammen fielen sie in Holstein ein.

Inzwischen war Albrecht von Orlamünde von den dänischen Adeligen zum Reichsverweser eingesetzt worden. Ihm war das schwere Amt aufgebürdet worden, ein großes Königreich zu verwalten. Sogleich sammelte er sein Heer und drängte die in Holstein Eingefallenen über die Elbe zurück. Selber blieb er anschließend in Hamburg.

Es begannen Verhandlungen mit Heinrich von Schwerin, um die Freilassung des Königs und des Prinzen zu erwirken. An den Vorverhandlungen in Nordhausen nahmen kaiserliche Räte teil. So kam es, dass am 4. Juli 1224 der Dannenberger Vertrag geschlossen wurde. Für die Zahlung von 40 000 Mark Silber an das Reich sollte der König frei kommen. Die Freiheit des Königs und seines Sohnes stand also kurz bevor.

Graf Albrecht zog mit seinem starken Heer an das nördliche Elbufer bei Bleckede. Die deutschen Fürsten zogen ihm später entgegen und lagerten am südlichen Elbufer.

Mit seinen hohen Gefolgsleuten überquerte Graf Albrecht die Elbe, wo er sich mit den deutschen Fürsten über den bereits geschlossenen Vertrag stritt. So erklärte er kurzerhand, von Wut gepackt, den Danneberger Vertrag für null und nichtig.

Die Dänen verstauten ihre mit 40 000 Mark Silber gefüllten schweren Kisten wieder auf ihre Boote und fuhren zornig an das nördliche Ufer zurück.

Dies hatte natürlich zur Folge, dass der dänische König und sein fünfzehnjähriger Sohn wieder in den Kerker eingesperrt wurden. Die Freiheit war so nah gewesen; die Enttäuschung groß.

Durch diese fehlgeschlagene Geldübergabe spitzten sich die Ereignisse dramatisch zu. Dem deutschen Reich waren die Hände gebunden. Ohnmächtig sah es zu, wie die deutschen Fürsten eigenmächtig die Entscheidung suchten.

Dem Grafen Albrecht von Orlamünde waren die Verbündeten abhanden gekommen. Nur einer hielt zu ihm. Es war der Welfe Otto von Lüneburg. Zu Weihnachten 1224 weilte Albrecht in Hamburg. Zum eigenen Schutz, und weil er den Hamburgern nicht mehr traute, ließ er sich dort Geiseln stellen, was gängige Praxis war.

An einem kalten Wintertag, dem 11. Januar 1225, traf er sich mit dem verbündeten Lüneburger Heer des Otto von Lüneburg in Segeberg. Vereint, und zu allem entschlossen, zogen sie nach Südosten. Es sollte die Entscheidungsschlacht werden.

Diese von den deutschen Fürsten ebenfalls herbeigesehnte Entscheidungsschlacht stand in diesen kalten Januartagen kurz bevor. Zu diesem Zweck setzen die vereinten Heere über die Elbe und zogen nach Norden. Kurz vor der Stadt Mulne schlugen sie jeweils ihr Lager auf.

Zwei gewaltige Heere trafen sich, zu allem bereit, bei Mulne.

Südlich des Werders wurde das Gelände als Acker benutzt. Hier befanden sich die Hufen der Grundbesitzer. Weiter nach Süden hin ging das Gelände dann über in eine wildwachsende Wiese ohne Baumbestand. Ganz im Süden beschnitt ein Waldgebiet das Gelände. Dort hatten sich die deutschen Fürsten niedergelassen und ihr Lager aufgeschlagen. Hier fanden sie genug Gehölz, um in der kalten Winternacht die Feuer zu unterhalten. Das dänische Heer hatte auf dem Werder, neben der unbefestigten Stadt, sein Feldlager bezogen.

Möllner Zeiten

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