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Kapitel 3

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Stadtleben

1254 – 1291

„Sei leise, sonst hört uns noch jemand. Mach nicht so einen Krach mit dem Eisen. Wenn die Nachtwache kommt, ist es mit uns vorbei.“

„Sei selber still, und quatsch nicht so viel.“

Die beiden Männer tauschten zwar giftige Blicke aus, doch erkannten sie anhand der Dunkel­heit wenig im Gesicht des anderen. Ihre Nerven waren bis zum Äußersten angespannt. Das was sie gerade taten, gehörte nicht zu ihrem sonstigen alltäglichen Tun, und das war es, was sie so nervös hantieren ließ. Der größere Mann schwieg nun also seinerseits. Der kleinere Mann setzte das Eisen noch einmal an und zog kräftig dran. Mit einem Krachen sprang der Verschluss aus der Tür, die sich dann quietschend öffnen ließ.

„Leise, habe ich gesagt.“

„Ich kann doch nichts dafür, wenn die Tür quietscht“, flüsterte der Kleine erbost zurück.

„Psst …“

„Halte doch selber endlich die Klappe.“

Der Größere sah sich um. Niemand schien von dem Krach beim Öffnen der Tür aufmerksam geworden zu sein. Auf leisen Sohlen betraten sie vom Flur aus die Amtsstube des Kämmerers. In dem geringen Licht, welches durch die Tür hineinschien, konnten sie ihr anvisiertes Ziel erkennen. Der Raum war spärlich mit einer Truhe, einem Tisch und einem Stuhl eingerichtet. Regale, gefüllt mit Pergamentrollen, standen auf beiden Seiten der Wände.

„Dort ist sie.“

Sie gingen zur Truhe, die an der hinteren Wand stand, und erbrachen das Schloss mit der Eisenstange. Einen Moment verharrten sie beim Anblick der Tausenden von Münzen. Die Truhe war bis zu zwei Drittel gefüllt. So viel Geld hatten sie niemals zuvor in ihrem Leben an einem Ort gesehen. Der Größere reichte seinem Kumpan einen leeren leinenen Sack.

„Fülle soviel rein, wie du tragen kannst.“

„Ich bin ja nicht blöd“, antwortete im Flüsterton der kleinere Mann, sichtlich von den Bevormundungen seines Kumpans genervt.

Als sie die Säcke gefüllt hatten, wollten sie diese über die Schulter werfen. Doch sie waren so schwer, daß sie sich nur mühsam schultern ließen. Ächzend und gebückt unter der schweren Last verließen sie die Schatzkammer. Kurz vor der Tür an der Rückseite des Hauses, jene, durch die sie in das Haus eingedrungen waren, rutschte dem kleineren Mann der schwere Sack von der Schulter.

Er stöhnte auf, als der Sack mit einem klimpernden Geräusch auf dem Boden landete. Er holte tief Luft, als er den Sack wieder über die Schulter hieven wollte. Dabei verrutschte ihm sein wollener Umhang, der wie gewöhnlich unterhalb des Halses mit einer Fibel befestigt war.

„Verflucht noch mal.“

„Sei endlich leise. Wir wollen so kurz vor dem Ziel doch nicht entdeckt werden. Sie hängen uns augenblicklich.“

„Ich weiß, aber mein Umhang ist verrutscht. Die Fibel löste sich.“

„Warum hast du auch den Umhang mitgenommen. Der stört doch nur. Sieh, ich habe keinen.“

„Weil wir Januar haben, und da ist es bekanntlich winterlich kalt, du Ochse.“

Der kleine Mann schritt beleidigt hinter seinem Kumpan hinterher. Zankend wie immer, verließen sie das als Rathaus dienende Gebäude mit ihrer Beute. Draußen angekommen, hielten sie nach der Nachtwache Ausschau. Doch ihnen war das Glück hold. Sie verschwanden mit der Kasse der Stadt auf den Schultern im Schutze der unbeleuchteten Straße.

Walter betrat das Rathaus. Als Schreiber der Stadt hatte er seine Scrivekamere neben der hinteren Eingangstür. Er kramte den schweren länglichen Schlüssel hervor und bückte sich, um den Schlüssel einzuführen. Dabei fiel sein Blick auf seine Füße. Links davon entdeckte er einen Gegenstand, der zuerst wie eine geprägte Münze aussah. Er bückte sich, um die Münze aufzuheben. Als er sie in der Hand hielt, erkannte er jedoch, was er wirklich aufgehoben hatte. Es war eine Scheibenfibel, die auf der ebenen Seite wie eine Münze geprägt war. Doch auf der hinteren Seite war deutlich eine Nadel zum Gewandschließen angebracht. Sie konnte für Umhänge, Mäntel oder Kleider benutzt werden. Er konnte eigentlich niemanden benennen, dem sie gehören könnte, denn in diesen kalten winterlichen Januartagen liefen viele Männer und Frauen mit Mänteln und Umhängen herum, die mit Fibeln verschiedenster Art oder mit Tasseln zusammengehalten wurden. Achselzuckend steckte er sie in die Tasche seines Mantels. Es würde sich der Eigentümer schon melden.

Walter setzte sich, wobei er seinen Mantel anbehielt. Zum einen, weil seine Scrivekamere unbeheizt war, da sie über keinen Ofen verfügte, und zum anderen wegen einer ehemaligen Verletzung, die er bei diesen Witterungen immer spürte. Als Kind war er fast tödlich bei der Möllner Schlacht von einem Pfeil in den Rücken getroffen worden. Die Wunde war in den vergangenen dreißig Jahren eigentlich gut verheilt, dennoch ließ seine Wetterfühligkeit die Erinnerung an seine schwere Verletzung immer wieder aufleben. Sobald es nasskaltes Wetter gab, schmerzte ihn der Rücken.

Aber in all den Jahren hatte er gelernt, mit dieser Beeinträchtigung zu leben. Er war froh, dass er die Arbeit eines Schreibers trotzdem ausführen konnte. Es war deswegen nicht daran zu denken gewesen, körperlich schwer als Handwerker zu arbeiten.

Als sein Vater Prabislav vor zehn Jahren verstarb, kurz nachdem seine Mutter Helene verstorben war, war er als Schreiber in die Fußstapfen seines Vater getreten und übernommen worden. Zuvor hatte er von seinem Vater, der ihm gleichzeitig ein Lehrer war, alles gelernt. Zufrieden lebte er nun mit seiner Frau, seinen zwei Söhnen und einer Tochter in dem geerbten Haus in der Seestrate.

Walter holte die Urkunde hervor, von der er gerade eine Abschrift fertigte. Es war ein herzögliches Dokument, ausgestellt vom Herzog Albrecht.

Nachdem die Dänen vor dreißig Jahren vertrieben worden waren, lag die Grafschaft Racis­burg zuerst vakant da. Die Grafschaft fiel anschließend an das sächsische Geschlecht der Askanier, dessen Oberhaupt Herzog Albrecht war.

Diese Urkunde aus dem Jahr 1254, welche Walter vor sich liegen hatte, war voller wichtiger Mitteilungen. Zum einen hatte der Herzog der Stadt Mulne zwei Dörfer geschenkt. Es handelten sich dabei um die Dörfer Gülze und Pinnau. Das Dorf Gülze lag nordöstlich des Mulner Sees. Es brachte zehn Hufen Land mit. Das zweite Dorf mit zwölf Hufen Land hieß Pinnau und lag westlich des Pinnsees.

Walter schrieb ab, dass die höve gultzow und pinnow der Stadt geschenkt wurden. Die Borger sollen sie gebrauchen to erer vuringe, mastinge, vischkery, weidinge und beteringe der hüser und Statt.

Der nächste Absatz, den Walter abschrieb, handelte von der Bestätigung der bisherigen Wahl und der Amtszeiten der Ratsmitglieder, wie sie bereits seit der Mulner Stadtgründung vor über vierzig Jahren praktiziert wurden.

Dess scholen ze Borger iarlikes veer vrame borger weelen, de ene undt der Stadt mit Rade vorwesen men ane Nutte noch Neete, wen de dat iar weldedigt en hebben. So schal de olde raat in sine borgerlike stede stan, und veer Nye borger to vorstande der Statt weelen und dat schal me zo iarlik holdende wesen ane benetinge, were den sake de to blode effte gode drepe de de ver to raade nicht en schlichten kunden, so scholen ze noch VI olde borger mit rade bevragen unde de sake to godes und aller hilligen lave to der betasten, dat wy nehmen walt don late am live effte gode. Ock scholen unse borger seker zin, wo unse vruw effte wy effte unse lude in de stat kamen und teeren.

In diesem Passus der Urkunde garantierte der Herzog Albrecht die Sicherheit der Bürger, wenn seine Leute – die herzogliche Familie und der von ihm eingesetzte Vogt Henricus – sich in der Stadt aufhielten. Dies taten sie ausschließlich in der neuen herzoglichen woninghe. Diese woninghe befand sich nun auf dem Grundstück, welches vorher dem inzwischen verstorbenen Lokator Konrad Wackerbart gehört hatte.

Zum Schluss der Urkunde bestätigte der Herzog noch, dass kein Bürger ohne Grund mit Gefängnis bestraft werden solle. Er lege wert darauf, dass Verbrechen und die verhängte Strafe in einem angemessenen Verhältnis stehen sollten. Jeder Nachteil, der sich für einen Bürger ergab, solle ihm berichtet werden.

Walter tauchte seine Schreibfeder in das Tintenfass hinein. Gekonnt zeichnete er die Buchstaben mit ihren kunstvollen Schwüngen ab. Es war eine Arbeit, die viel Konzentration verlangte. Dies fiel ihm nicht schwer, da er in dieser Arbeit aufging. Deshalb bekam er anfangs auch nicht den außergewöhnlichen Lärm und die Rufe mit, die an diesem frühen Morgen ertönten.

Aber dann wurde er doch neugierig und verließ seine Scrivekamere. Er ging den anderen Flur entlang und folgte den aufgeregten Stimmen. Vor der Schatzkammer hatten sich viele Leute versammelt. Aufgeregt sprachen sie durcheinander. Walter erkannte die vier aktiven Ratsmitglieder, sowie den ersten Bürgermeister Ludolp. Zwei weitere Ratsmitglieder, deren Ämter gerade ruhten, waren auch anwesend. Sie alle redeten lautstark und zutiefst aufgebracht auf jenen Mann ein, der still und traurig da stand und nicht wusste was er entgegnen sollte. Es handelte sich um den Kämmerer der Stadt. Dieser Mann, der den Namen Ulrich trug, war in Walters Alter. Mit seinen zweiundvierzig Jahren hatte er schon keine Haare mehr auf dem Kopf. Dadurch wirkte die große Nase äußerst hervorstechend und fehl am Platze. Ulrich war stets dafür bekannt, dass er immer etwas zu sagen hatte. Nie war er wortkarg oder auf den Mund gefallen. Doch diesmal war es anders. Kein Wort brachte er entgegen seiner Gewohnheit heraus. So sehr schien ihn diese Angelegenheit mitzunehmen. Als Walter herantrat und einen Blick durch die aufgebrochene Tür in die kamere warf, blieb sein Blick an der leeren Truhe haften. Sofort wusste er den Grund der außergewöhnlichen Versammlung.

„Wir haben noch keinen Verdacht.“

„So eine Gemeinheit.“

„Das ist so schlimm, ich weiß nicht wie es weiter gehen soll.“

„Nein“, ließ das Ratsmitglied Peter wissen, „wir müssen sofort etwas tun.“

Das wurde allmählich dem ersten Bürgermeister Ludolp zu viel. In diesem Moment kam sein Stellvertreter, der zweite Bürgermeister Hermann, hinzu. Seit dem letzten Jahr hatte sich bei der Besetzung des Amtes des Bürgermeisters etwas geändert. Es sollte nun in Mulne zwei Bürgermeister geben. Der erste und der zweite Bürgermeister wurden direkt von der Bürgerschaft auf Lebenszeit gewählt.

Als Hermann hinzutrat, informierte ihn Ludolp über das Vorgefallene. Die Farbe entwich sofort aus Hermanns Gesicht, und eine unnatürliche Blässe überdeckte es. Die beiden Bürgermeister sprachen kurz miteinander, bis der erste Bürgermeister an alle anwesenden Ratsherren appellierte.

„Ich verpflichte Euch dazu, über diesen Diebstahl Stillschweigen zu bewahren. Kein Wort darf nach draußen an die Bürger gelangen. Niemand spricht zu Hause ein Wort darüber.“ Er drehte sich zum Schreiber Walter um. „Niemand, auch der Schreiber nicht.“

Walter nickte, und Ludolp fuhr fort.

„Wir werden unsere Nachforschungen betreff des Diebstahls heimlich anstellen. Heute Abend, bei Anbruch der Nacht, rufe ich eine Ratsherrenversammlung ein. Es sollen alle zehn Ratsmannen anwesend sein. Lasst es alle wissen. Aber geht dabei umsichtig vor, damit niemand Verdacht schöpft. Wir treffen uns im Ratssaal.“

Walter ging zu seiner Schreibkammer zurück und setzte sich wieder an seine Urkunde. Aber die Feder wollte einfach nicht so gefühlvoll wie üblich die Buchstaben zeichnen. Bald ließ er davon ab. Seine Gedanken konnten sich einfach nicht darauf konzentrieren. Der Diebstahl in der Mulner Schatzkammer beschäftigte ihn einfach zu stark. Es wäre eine Katastrophe, sollte das Geld unauffindbar bleiben. Dies wäre für die Stadt ein Debakel, das auf viele Jahre hinaus Auswirkungen haben würde. Löhne könnten nicht gezahlt, und bauliche Vorhaben wie die geplanten wehrhaften Mauern der Stadt nicht ausgeführt werden. Auch ein großes Rathaus, oben auf dem Eichberg neben der Kirche, war eigentlich in ferner Zukunft geplant.

Er fragte sich, was er beitragen könne, damit der Schaden von der Stadt abgewendet würde.

Das Tageslicht ging an diesem Januartag früh zur Neige. Walter hatte sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren können. Zu oft waren seine Gedanken abgeschweift. So verließ er seine Scrivekamere und ging einen kurzen Umweg, um noch bei Tageslicht nach Hause zu gelangen.

Eigentlich waren am Fuße des Eichbergs im Süden die letzten Häuser der Stadt. Aber es hatte nun eine Stadterweiterung eingesetzt. Dadurch, dass die Dörfer gultzow und pinnow der Stadt geschenkt worden waren, hatte eine regelrechte Landflucht eingesetzt. Bürger der Dörfer waren in die Stadt gezogen, um die Stadtrechte genießen zu können. Ihre Hufe bewirtschafteten sie danach von der Stadt aus, indem sie täglich auf ihre Äcker gingen. Aber auch andere Menschen aus den umliegenden Dörfern waren sich der wachsenden Bedeutung Mulnes bewusst geworden. So wurden neue Häuser gebraucht und bald gebaut, und gleichzeitig entstanden dadurch neue Straßen. Es kamen die Pinnauerstrate, die Jodenstrate und im Südosten die Mühlenstrate hinzu. Die neue südliche Stadtgrenze sollte hernach die ebenfalls neu geschaffene Grubenstrate sein. Damit war die Stadt in kurzer Zeit um ein weiteres Drittel gewachsen.

Walter durchschritt die neue Jodenstrate. Überall waren noch im Bau befindliche Häuser. Den Winter über hatten viele neue Bürger den Bau ihres Hauses gestoppt.

In dieser kalten Januarluft zog Walter den Mantel enger um sich. Er fror, doch brauchte er dringend frische Luft. Er kam an einem rasor, einem Bartscherer vorbei. Er fasste sich an das Gesicht. Seine Bartstoppeln waren deutlich spürbar, doch verspürte er geringe Lust sich an diesem Tag rasieren zu lassen. Wenige Leute waren in den Straßen unterwegs. Einen von diesen kannte er nur zu gut. Er kam auch direkt auf ihn zu, als er ihn erkannt hatte.

„Guten Tag, mein Sohn. Was führt dich in diese neue Straße?“

Walter blickte in die gutmütigen Augen des ersten Pfarrers der Stadt. Florenz war seit 1238 Pfarrer in Mulne. Die Menschen hielten viel von dem Kleriker. Anders als viele seiner Amtsbrüder, die oft nur an ihr eigenes Wohl dachten, kümmerte Florenz sich wahrlich um die Sorgen und die Nöten der Menschen. Er besuchte sie daher oft zu Hause. Gerade kam er von einem jener Hausbesuche zurück, als er zufällig Walter auf der Straße gehen sah.

„Ich musste ein wenig an die frische Luft.“

Die Augen des Pfarrers verengten sich. Prüfend musterte er sein Gegenüber.

„Du siehst auch ein wenig blass aus. Hat das etwas mit den Geschehnissen zu tun?“

„Welche Geschehnisse? Ich weiß nicht wovon ihr redet.“ Walter wusste es nur zu gut. Aber er hatte dem Bürgermeister sein Versprechen gegeben zu niemandem etwas zu sagen. Dazu ge­hör­te selbstverständlich auch der Pfarrer, auch wenn es ihm schwerfiel.

Also hatte sich doch schon ein Gerücht auf den Weg gemacht.

Der Pfarrer sah ihn immer noch prüfend an. Aber dann kam ihm die Erkenntnis.

„Ich gehe mal davon aus, dass dir verboten wurde, darüber zu sprechen. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass du dein Versprechen brichst. Wie geht es den Kindern?“

„Gut, Herr Pfarrer, sehr gut. Sie wachsen und gedeihen.“

Die beiden Männer sprachen noch über belanglose Angelegenheiten, bis sie sich trennten. Inzwischen wurde es dunkel. Walter ging zu seinem Haus.

„Was ist mit dir? Du siehst so blass aus.“ Seine Frau Sieglinde begrüßte ihn besorgt.

„Nichts, gar nichts. Das liegt wohl nur am kalten Wetter.“ Es gefiel Walter gar nicht, dass in seinem Gesicht so leicht abzulesen war, dass ihn etwas bedrückte. Dennoch konnte und durfte er nichts sagen, auch wenn er dabei den Pfarrer und seine Frau belügen musste. Er hatte es nun einmal dem Bürgermeister versprochen.

In der Stube brannte Feuer im offenen Kamin und verbreitete wohlige Wärme, deshalb zog er seinen Mantel aus, den er über den Stuhl legte. Dabei kullerte die Scheibenfibel heraus, die er am Morgen nach dem Fund in die Tasche gesteckt hatte. An die Fibel hatte er gar nicht mehr gedacht. Er hob sie auf und betrachtete sie im flackernden Licht des Kamins genau.

Der Bürgermeister eröffnete die außerplanmäßige Ratssitzung.

„Ratmannen der Stadt Mulne. Hermann und ich haben diese Ratssitzung einberufen, weil sich in unserer Schatzkammer ein dreister Diebstahl ereignet hat. Das gesamte Geld der Stadt wurde entwendet. Wir sind hier, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen.“

Der Ratmann Friedrich erhob sich. Er war zwar ein äußerst kleiner Mann, aber mit einem messerscharfen Verstand ausgestattet. Seine Meinung wurde bei jeder Angelegenheit gern angehört.

„Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, was passiert, wenn das Geld nicht wieder auffindbar ist. Wir alle wissen, dass das Geld dringend gebraucht wird. Nach der Stadterweiterung ist zum Schutze der Stadt eine allumfassende Stadtmauer geplant. Sie soll wehrhafte Türme und drei Tore haben. Darüber hinaus soll ein breiter Stadtgraben für unsere Sicherheit sorgen, damit wir nicht mehr allen Heeren schutzlos ausgeliefert sind, so wie ich es selber als Kind erfahren habe, als die Dänen die Stadt ohne Gegenwehr einnahmen. Aber dies alles kostet viel Geld. Daher ist es unerlässlich, den Stadtsäckel wieder zu beschaffen.“

Henrik, ein weiterer Ratsmann, erhob sich und ergriff das Wort.

„Jeder von uns weiß, wie wichtig das Geld für uns ist. Deshalb muss es nicht ständig erwähnt werden. Für mich stellen sich aber ein paar Fragen. Wenn wir die beantworten, können wir die Diebe vielleicht dingfest machen. Was ist mit dem Kämmerer? Damit meine ich, ob der Kämmerer vielleicht den Dieben einen Wink gegeben hat. Ich weiß, dass es absurd ist den Kämmerer zu verdächtigen, dennoch müssen wir auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen.

Lassen sich vielleicht irgendwelche Spuren finden, welche auf die Diebe hinweisen? Wir sollten in unserem Umfeld alle Männer beobachten, die plötzlich zu hohem Reichtum ge­kommen sind. Wer plötzlich mit Geld um sich wirft, aber vorher am Hungertuch nagte, ist verdächtig.“

Die Ratmannen nickten. Ludolp, der erste Bürgermeister, erhob sich wieder.

„Die Fragen, die Henrik aufwarf, sind richtig. Zum Kämmerer Ulrich möchte ich eines sagen. Ich mache dem Rat folgenden Vorschlag. Bis zur Klärung des Diebstahls soll Ulrich von seinem Amt des Kämmerers enthoben werden. Seine Bücher sind genauestens zu prüfen. Vielleicht hat er immense Schulden zu begleichen. Aber wir dürfen uns nicht nur auf Ulrich als Verdächtigen einschießen. Ich habe zu berichten, dass bisherige diskrete Untersuchungen noch keine Ergebnisse ergeben haben. Wir müssen also weiter intensiv nachforschen.“

Hermann, der zweite Bürgermeister, ergriff das Wort.

„Mir stellt sich die Frage, ob wir nicht dazu genötigt sind, den Vogt in unsere Nach­forschungen einzubeziehen. Außerdem müssten wir vielleicht den Landesherrn, unseren Herzog Albrecht, davon benachrichtigen, dass unsere Stadtkasse geraubt wurde. Wie ist die Meinung der verehrten Ratmannen dazu?“

Ein allgemeines Raunen erhob sich. Das war ein Zeichen dafür, dass dies möglichst vermieden werden sollte. Friedrich erhob sich, und ein Schweigen trat ein.

„Meiner Meinung nach ist davon abzusehen. Es wäre höchst peinlich, wenn unser Miss­geschick zur Belustigung adeliger Gelage und ihres Hofstaates dienen würde. Ich höre schon die schändlichen und höhnischen Rufe: die Narren von Mulne verstehen es nicht einmal auf ihre Geldtruhe aufzupassen. Welch’ Schande und Peinlichkeit. Wir sind deshalb dazu verpflichtet, den Vorfall selber zu aufzuklären. Auch vor der Einbeziehung des Vogtes Henricus warne ich. Was er erfährt, erfährt auch Herzog Albrecht. Dann würde diese Schande eintreten, vor der ich eben warnte. Also größtes Stillschweigen nach allen Seiten ist angebracht. Ich will nicht, dass unsere Stadt zum Gespött aller Länder und ein Inbegriff der Narretei wird.“

Langsam erhob sich Ludolp. Er war sehr nachdenklich.

„Ich glaube dennoch, dass uns die Hände gebunden sind. Unsere Nachforschungen haben bisher nichts ergeben. Niemand hat in der Nacht ein Geräusch gehört oder Verdächtiges gesehen. Die Nachtwächter waren auch keine Hilfe. Ich weiß nicht …“

Alles schaute zur dicken hölzernen Tür. Es hatte jemand auf der anderen Seite geklopft. Fragend sahen sich alle an, da eigentlich niemand von dieser Sitzung wusste. Jeder fragte sich, wer der Störer sein könnte.

„Egal wer das ist, lasst uns weiter machen.“ Henrik wollte den Klopfer ignorieren. Es klopfte ein zweites Mal. Diesmal dringlicher.

Ludolp ging zur Tür und öffnete sie entgegen der Meinung der meisten Ratmannen. Er war noch nicht einmal verwundert, als der Schreiber Walter unsicher vor der Tür stand. Unwirsch fuhr er den Schreiber an.

„Es muss schon ein wichtiger Grund sein, uns in dieser Ratsversammlung zu stören.“

„Den habe ich auch, Bürgermeister. Ich bitte darum, vorsprechen zu dürfen.“

Der Bürgermeister sah kurz in die Runde der Ratsherren und registrierte einiges Kopfnicken. Er gab Walter ein Zeichen einzutreten. Walter war sichtlich nervös. Es bestand die Gefahr, dass er sich auf das Äußerste blamierte. Damit würde er sogar seine Arbeit als Schreiber riskieren. Doch er sah sich zum Wohle der Stadt dazu gezwungen. Vielleicht war es ein Weg, der Stadt aus der bedrohlichen Lage zu helfen.

„Was ist dein Begehr?“ Ludolp sah ihn neugierig an.

„Ich weiß nicht, ob das Folgende von großer Wichtigkeit ist, doch besteht möglicherweise ein Zusammenhang. Heute habe ich vor meiner Scrivekamere eine Scheibenfibel gefunden. Ich weiß nicht, ob sie den Dieben abhanden gekommen ist, doch ist dies möglich. Möglicher­weise haben sie auch die hintere Tür, die an meiner Schreibstube vorbei führt, als Fluchtweg benutzt. Ich bitte dies zu bedenken.“

Walter zitterte. Aus seiner Hand reichte er dem Bürgermeister die Scheibenfibel. Er hoffte, dass seine Aufgeregtheit unbemerkt bleiben würde, meinte aber sie sei für alle ersichtlich. Walter ahnte nicht, wie die Ratmannen und die Bürgermeister nun auf seine ungebetene Unter­brechung reagieren würden. Er war jedenfalls auf eine Rüge eingestellt.

Ludolp besah sich die Fibel genau. Danach reichte er sie dem zweiten Bürgermeister. Hermann wiederum gab sie Friedrich. Der gab sie weiter, bis alle zehn Ratmannen sie begutachtet hatten. Solange hatte Schweigen geherrscht.

„Erkennt jemand die Fibel wieder?“ Ludolp unterbrach das Schweigen.

Alle schüttelten den Kopf. Bis auf einen. Es war Wilhelm, der Knochenhauer der Stadt. Unbeweglich saß er da, und starrte vor sich hin. Ludolp erkannte es und fragte den Ratmann, der zu den sechs Männern gehörte, deren Amt nur bei wichtigen Anlässen wirksam wurde.

„Was ist mit dir, Wilhelm?“

Langsam hob Wilhelm den Kopf.

„Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Es scheint mir, als wenn ich diese schon einmal gesehen habe. Aber ich bin mir nicht sicher. Es würde mich grämen, einen Unschuldigen eines Verbrechens zu bezichtigen, welches er nicht begangen hat. Deshalb möchte ich lieber schweigen.“

„Hast du denn jemand bestimmtes in Verdacht?“

„Ja, aber wie ich schon eben sagte, bin ich mir nicht ganz sicher.“

„Wer ist es denn?“

Mit einer Spur Verzweiflung sah Wilhelm die anderen an. Jeder war sich der Verantwortung für die Folgen einer falschen Verdächtigung bewusst. Friedrich erhob sich.

„Ich gebe zu bedenken, dass der kleinste Hinweis den Raub aufklären kann. Deshalb muss Wilhelm seinen Verdacht äußern. Wir werden ihm diskret nachgehen, sodass bei erwiesener Unschuld sicher ist, dass dem Manne nichts zustoßen wird.“

Wilhelm zögerte noch, dennoch sprachen immer mehr Ratmänner ihm Mut zu, seinen Ver­dacht zu äußern. Ludolp war sich der brenzligen Situation bewusst. Deshalb wollte er so wenig Zeugen wie möglich dabei haben. Freundlich, aber bestimmt forderte er Walter auf, den Sitzungssaal zu verlassen.

„Wir sind dir sehr dankbar, dass du uns die Fibel gebracht hast. Vielleicht sind wir den Räubern auf der Spur. Aber du brauchst jetzt nicht mehr anwesend zu sein. Der Rat der Stadt dankt dir.“

Mit diesen Worten schob er den verdutzten Walter aus der Tür und schloss sie hinter sich. Dann drehte er sich langsam um.

„Also Wilhelm, ich höre.“

Wilhelm war nicht sicher, deshalb zögerte er mit seiner Antwort.

„Ich bin mir nicht sicher, da es wohlweislich ähnliche Scheibenfibeln gibt. Es ist noch gar nicht lange her, da waren die neuen Bürger aus Gultzow hier. Sie waren hier in der Stadt, um ihren Bürgereid zu leisten, durch welchen sie sich als neue Bürger unserem geltenden Recht unterwerfen. Nachdem sie hier ihren Eid geleistet hatten, war einer von ihnen noch bei mir, um mit mir über ein Schwein zu verhandeln. Dieser Mann trug eine solche Fibel. Sie war deutlich oben auf seiner Brust zu erkennen. Aber wie gesagt, bin ich nicht sicher, ob sie es war. Es gibt sicherlich viele ähnliche Scheibenfibeln.“

„Wir werden sehen, ob er es war. Jedenfalls ist es ein Hinweis, dem wir nachgehen müssen. Ansonsten haben wir keine Spur. Morgen gleich nach Sonnenaufgang werde ich mit einigen Bütteln nach Gultzow aufbrechen. Wir werden sehen. Sollte er unschuldig sein, so haben wir das zu akzeptieren, und ich hoffe in diesem Fall, dass es bald weitere Spuren gibt.“

Hermann meldete sich noch einmal. „Dann werden wir also unseren Vogt Henricus über unseren Verlust nicht ins Bild setzen. Sind wir alle einer Meinung?“

Allgemeine Zustimmung war zu vernehmen. Friedrich erhob sich noch einmal.

„Wie ich schon zu bedenken gab, wäre dies ein großer Fehler. Vielleicht ist bald das Geld wieder da, und die ganze Aufregung war umsonst. Dann wäre es schade den Vogt damit belästigt zu haben.“

Friedrich schmunzelte, trotz der Ernsthaftigkeit der Lage. Aber die Abneigung gegenüber dem von Herzog Albrecht eingesetzten Vogt Henricus hatte mehrere Gründe. Zum einen war der Vogt als Mensch den Bürgern, und vor allem dem Rat, äußerst unsympathisch. Das lag einerseits daran, dass der Vogt Wert darauf legte, nicht mit seinem gewöhnlichen Geburts­namen Heinrich, sondern in der latinisierten Form Henricus angesprochen zu werden. Er legte sichtbar wert darauf, sich vom gemeinem Pöbel abzusetzen. Schließlich war er ein Vogt. Sollte jemand einmal die Unverfrorenheit besessen und nicht den lateinischen Namen benutzen, so konnte der arrogante Henricus sehr nachtragend und empfindlich reagieren.

Zum anderen lag es daran, dass der Rat der Stadt eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber dem Herzog anstrebte. Henricus war in seinen Kompetenzen schon sehr eingeschränkt worden.

Das hatte seine Ursache aber auch darin, dass die Stadt wuchs, die Einkünfte gestiegen waren, und die Ländereien um die Stadt herum zunahmen. Alleine der Grundbesitz durch die Schenkungen der Dörfer Gultzow und Pinnow war um das dreifache angewachsen. Der eingezogene Wohlstand ließ die Machtgelüste beim Rat der Stadt wachsen. Der geheime Wunsch des Mulner Rates war, eines Tages zu einer freien Reichsstadt ernannt zu werden. Deshalb wurde der Vogt Henricus nur ungern in der Stadt gesehen.Und gerade jetzt, wo der Wohlstand der Stadt so gewachsen war, wurde die Stadtkasse geraubt!

Es waren zehn Männer, die am nächsten Morgen über die Holzbrücke nach Norden schritten. Nachdem sie den Hügel erklommen hatten, kam links des Frachtweges ein kleines Dorf in Sicht. Das war Gultzow. Keine zehn Häuser standen wahllos herum, die ausschließlich von Bauern bewohnt wurden. Es waren um die zehn Hufen Land, welche der Stadt geschenkt worden waren, die von den Bauern bearbeitet wurden.

Direkt an den teilweise schäbigen Häusern, die vorwiegend aus Holz gezimmert worden waren und deren Wände aus einer Mischung von Stroh und Lehm bestanden, lief das Vieh herum. Hühner gackerten und Schweine suhlten sich im Schmutz.

Ludolp führte die Abteilung an. Hinter ihm ging Hermann. Ihnen folgten zwei weitere Ratsmitglieder. Am Ende gingen sechs Büttel, die sich für alle Fälle mit Schwertern und Lanzen bewaffnet hatten. Zwei davon waren zusätzlich mit Pfeil und Bogen versehen. Sicher war sicher. Der Bürgermeister wusste nicht, was sie erwarten würde.

Die Abordnung kam am ersten Bauernhof vorbei. Sie vernahmen ein Klopfen. Als sie um die Ecke kamen, erblickten sie einen Bauern, der Holz hackte. Trotz der winterlichen Kälte liefen ihm Schweißtropfen von der Stirn herab. Sie traten auf ihn zu. Als der Bauer sie gewahrte, hielt er mit seiner schweißtreibenden Arbeit inne.

„Wir suchen Siegbert. Welches Haus bewohnt er?“

Verächtlich spuckte der Bauer zur Seite.

„Siegbert sucht ihr? Na, da wünsche ich euch viel Glück.“ Der Bauer hob lächelnd sein Beil erneut, um mit seiner Arbeit fortzufahren.

„Wie meinst du das?“

„Wie ich es sage. Der Kerl ist doch meist nicht zu Hause. Der hängt mit seinem Freund Gunther doch immer irgendwelchen Träumen nach. Aber davon wird niemand satt. Sieh dir doch nur mal sein Haus an. Das da drüben.“ Sein langer Zeigefinger zeigte in die Richtung.

„Es regnet rein, die Bretter lösen sich von der Wand. Letztens hat er sein letztes Schwein dem Knochenhauer verkauft. Na, Siegbert wird sicherlich nicht alt werden.“

„Danke für deine Auskunft.“ Ludolp rümpfte die Nase.

„Es kann sein, dass ihr seine Frau antrefft, wenn sie nicht besoffen ist. Aber so früh am Tag könnte es sein, dass sie noch nüchtern ist. Wenn ihr Glück habt.“

Der Bauer lachte der Abordnung hinterher und hob sein Beil empor, um Schwung zu holen.

Die Männer der Stadt gingen zum gezeigten Hof. Wahrlich machte das Haus einen herunter­gekommenen Eindruck. Das Dach war undicht und der Dreck unübersehbar. Der Bürger­meister rief nach Siegbert und seiner Frau, doch niemand antwortete. So betraten er und all seine Männer das Innere. Gestank, der von Fäkalien, Mist und anderen undefinierbaren Dingen herrührte, schlug ihnen entgegen. In dem dunklen Wohnraum war die Armut unübersehbar. Staub, Dreck und kaputte Gegenstände lagen überall herum. In der hintersten Ecke hörte der Bürgermeister ein Rascheln. Sie traten näher und sahen eine Frau, die auf dem puren Stroh schlief.

„Weib, steh auf!.“

Die Frau erwachte, und ihr Oberkörper mit hängenden Brüsten richtete sich auf. Dreckige verwahrloste Haare hingen ihr ins Gesicht. Ein Gebiss voller Lücken in einem dreckigen Gesicht wurde den Männern offenbar.

„Was wollt ihr?“

„Wir suchen Siegbert.“

„Ich hab’ den Taugenichts schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, wo er ist. Und jetzt verschwindet, ihr unnützes Pack. Ich habe zu tun.“

Im gleichen Moment kippte die Frau wieder nach hinten um und fiel in einen tiefen Schlaf. Ein gleichzeitig einsetzendes Schnarchen zeugte davon. Ludolp trat zu ihrem Lager hin. Dann bückte er sich, um die Frau an der Schulter zu schütteln. Er sagte sich, dass sie so früh am Tage noch nicht so viel getrunken haben konnte, sodass er sie wieder wach bekäme. Er schüttelte sie, doch war sie nicht wach zu bekommen. Da vernahm er ein Geräusch. Zuerst war es noch sehr leise, doch wurde es immer lauter. Er kannte es. Es war ein Pferd.

Neugierig, wer das hier sein könnte, ging er an seinen Männern vorbei zur Tür. Gerade als er heraustrat, kam ein dreckig wirkender Bauer auf ihn zu. Der Bauer war von einem Pferd gestiegen und hatte die Zügel an einem hervorschauenden Brett festgemacht. Dann wollte der Mann ins Hausinnere. Am Eingang trafen sie sich. Ludolp kannte den Mann nicht, doch wusste er sofort seinen Namen.

„Siegbert.“

So eine schnelle Reaktion hatte Ludolp dem Siegbert gar nicht zugetraut. Sofort drehte er sich um und lief davon. Ludolp hinterher. Hermann und die Büttel folgten. Sie liefen alle über die dünne Schneedecke. Doch der Abstand zwischen Ludolp und Siegbert vergrößerte sich immerzu, denn Siegbert lief um sein Leben.

Doch es nützte nichts, weil ein Pfeil schneller fliegt, als je ein Mann laufen kann. Ein Büttel hatte seinen Pfeil abgeschossen, der sich genau unterhalb der Schulterblätter des Flüchtenden ins Fleisch bohrte. Ludolp brauchte kein ausgebildeter Medikus zu sein, um zu erkennen, dass jede Hilfe zu spät war. Er drehte den toten Bauern um. Wütend sah Ludolp zum Büttel, den er fassungslos anbrüllte.

„Warum hast du geschossen. Ich hatte es nicht erlaubt. Jetzt ist er tot, und niemand weiß wo das Geld geblieben ist.“

„Aber ich … er wäre weg …“, versuchte der Büttel sich kleinlaut herauszureden. Doch es war sinnlos. Ludolp war rot vor Wut.

„Silentium.“

Der Bürgermeister konnte es nicht fassen. Eben war er noch so kurz davor gewesen, das Versteck der Stadtkasse herauszubekommen. Und im nächsten Moment machte ein übereifriger Büttel alles zunichte. Ihre einzige Möglichkeit war jetzt nur noch der Mann namens Gunther, von dem der Nachbar gesprochen hatte. Aber Ludolp hatte das Gefühl, dass dieser Gunther nie mehr nach Gultzow zurückkommen würde. Der Bürgermeister war so ratlos in dieser Stunde, wie noch nie in seinem Leben.

Nachdem seine erste Wut und Enttäuschung abgeklungen war, stand er wieder auf und ging zurück in das baufällige Haus. Der Gestank traf ihn wieder. Sein Blick fiel auf die schlafende Frau. Sie war seine letzte Hoffnung. Er trat an ihr Lager, und schüttelte sie wach. Doch es war sinnlos. Einem Büttel gab er daraufhin den Befehl, draußen Schnee zu sammeln und ihn herein zu bringen. Er drehte die Frau um und rieb ihr dreckiges Gesicht mit dem kalten Schnee ein.

Das ergab die erhoffte Wirkung. Sie schlug alsbald die Augen auf und blickte verstört um sich. Angewidert von dem faulen Gestank, der ihm aus ihrem Rachen entgegenschlug, konnte Ludolp nicht anders, als zurückzuweichen.

„Frau, kannst du mich verstehen?“

Irritierte Blicke trafen ihn. „Wer bist du?“

„Ich bin Ludolp, der Bürgermeister von Mulne. Hör mich an, Weib. War Siegbert gestern mit Gunther hier? Hat er einen schweren Sack, oder Ähnliches dabeigehabt?“

„Ich weiß von nichts. Wovon redest du? Ich bin müde. Lass mich schlafen. Sieh das neue Bett an. Das hat Siegbert extra für mich bereitet. Ist das nicht gut?“

Sie schlief wieder ein. Resigniert erhob sich Ludolp aus der gehockten Stellung und sah, dass die Frau wieder schlief. Ein tolles Bett hat Siegbert da seiner Frau gerichtet, sagte er ironisch zu sich, als er das alte Stroh sah. Da hätte er aber auch frisches nehmen können.

Er trat aus dem Haus heraus und sog die frische Luft ein. Die Männer folgten ihm schweigend. Niemand hatte die passenden Worte parat.

Ludolps Blick fiel auf das Pferd. Jetzt erst hatte er Augen dafür. Er betrachtete das Tier genauer. Langsam arbeiteten seine Gehirnzellen nach der vorherigen Enttäuschung wieder. Mit einem Mal verstand er. In der Form eines Pferdes stand ein Teil der Stadtkasse vor ihm. Von seinem Teil hatte Siegbert sich ein Pferd gekauft. Aber das Pferd kann ja nicht das ganze Geld gekostet haben. Es musste noch einiges vorhanden sein.

Ludolp sah die Spuren der Hufe im Schnee. Sie kamen von Norden. Der zweite Mann Gunther musste nach Norden, ergo Lubecke oder Racisburg, entflohen sein. Soviel verstand er. Diese Erkenntnis lähmte ihn, und diese Einsicht behagte ihm gar nicht.

Wenn dem so war, wie er die Sache sah, war Gunthers Beute für alle Zeit verloren. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, ohne großen Wind zu verursachen, auf der Spur des Flüchtigen zu bleiben. Aber darum wollte er sich bei der Rückkehr kümmern.

Hermann trat zu ihm. „Wie geht es weiter?“

„Wir gehen zurück. Hier können wir nichts mehr machen.“

„Ich frage mich, warum Siegbert zurückgekommen ist.“ Hermann stemmte seine Hände in die Hüften. „Ich glaube, dass er das restliche Geld holen wollte. Ludolp, ich will damit sagen, dass er es hier irgendwo vergraben hat.“

Ludolp schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Sieh dir doch den gefrorenen Grund an. Hier konnte er nichts vergraben. Glaub mir. Und im Haus ist auch nichts. Du hast doch gehört, was seine Frau sagte. Er hätte nur ihr Bett gemacht.“

Verdutzt sahen sich die beiden Bürgermeister an. Ihnen kam gleichzeitig eine Idee. Nein, das konnte nicht wahr sein. Sieh das neue Bett an. Das hat Siegbert extra für mich bereitet.

Oder doch?

Wortlos liefen die beiden in die Hütte, schoben die schlafende Frau zur Seite, und nahmen das Stroh vom kalten Boden auf. Darunter war der Boden nicht gefroren. Sie erkannten eine Stelle, wo jemand vor nicht allzu langer Zeit die Erde geebnet hatte. Fieberhaft schoben sie mit den Händen die Erde zur Seite. Bald fühlte Hermann einen leinenen Sack. Vereint hoben sie den schweren Sack aus dem Loch. Der Inhalt klimperte. Freude erhellte die beiden Gesichter und jene der Herumstehenden. Sie hatten einen Teil der Stadtkasse wieder. Und draußen stand noch ein prächtiges Pferd, welches auch dazu gehörte. Jetzt fehlte nur noch der gleich große Teil des Gunther.

Die Abordnung ging nach Mulne zurück. Ein Büttel führte das Pferd an der Leine. Der sicher­gestellte Teil der Stadtkasse wurde in einer Truhe wieder verschlossen. Von nun an sollte eine ständige Wache zum Schutz der Stadtkasse abgestellt werden. Als nächstes ließ Ludolp, nach Absprache mit den übrigen Ratsmitgliedern, einen Büttel zu sich kommen. Walter der Schreiber hatte bald darauf einen Brief für den Consul Martin in Lubecke aufgesetzt.

Martin war der Sohn des Johannes de Mulne, der als erster Mulner Borger, Consul in Lubecke geworden war. Nach dem Tod des Vaters hatte Martin das Ratsherrengeschlecht weiter­geführt. Ludolps Hoffnung war, dass Martin, im Sinne Mulnes, in Lubecke heimlich Nachforschungen über den Verbleib des Gunther anstellen könnte. Er hatte diesen Weg gewählt, damit so wenig Leute wie möglich über den jetzt nur noch teilweisen Verlust der Stadtkasse erfuhren.

Darin sah Ludolp die einzige Möglichkeit, mit einem so gering wie möglichen Ansehens­verlust aus der Angelegenheit herauszukommen.

Vier Wochen später hatte Ludolp bisher nur eine Nachricht des Martin de Mulne erhalten.

In dieser Nachricht teilte Martin mit, dass er die Bitte der Stadt erhalten, und sein Möglichstes tun werde. Er habe einen vertrauenswürdigen Schergen beauftragt, mit Hilfe eines Beutels Münzen in den verruchten Gassen und Winkeln Lubeckes nach einem gewissen Gunther zu suchen. Den Grund der Suche habe er dem Schergen verschwiegen. Bei Neuigkeiten werde er den Mulner Rat sogleich informieren.

Dann war der Tag der Petri Stuhlfeier da. An diesem Tag wurde an die Übernahme des römischen Bischofsstuhles, der Kathedra, durch den Apostel Petrus gedacht. Es war seit Anbeginn der Stadt Mulne Brauch, an diesem 22. Februar jeden Jahres die Wahl der Rat­mannen, des Kämmerers, der Richterherren, des Heiliggeistvorstehers und der Kirchen­geschworenen durchzuführen. Die Neuverteilung der Ämter wurde in dem als Rathaus dienen­den Gebäude, welches theatrum genannt wurde, durchgeführt.

Walter war zu Hause geblieben. Bei der Wahl an sich wurden seine Dienste als Schreiber nicht benötigt. Erst nach der Wahl würde ihn die Arbeit erreichen.

Ein Klopfen an der Tür ertönte. Walter öffnete und erkannte, dass zwei Büttel davorstanden. Als Schreiber kannte er alle Büttel der Stadt. Diese beiden richteten ihre Botschaft aus.

„Wir sind gekommen, um euch zum Rat zu geleiten.“

„Was will der Rat von mir?“

„Das wurde uns nicht gesagt. Es ist nur unser Auftrag, euch abzuholen.“

Schulterzuckend folgte Walter den Bütteln durch den hohen Schnee. Als sie das Rathaus erreicht hatten, klopfte er sich den Schnee von seinen Schuhen ab. Unter den Schuhen hatte er eine Trippe, eine Sohle aus Holz, untergeschnallt, damit der Schuh geschützt wurde.

Dann trat er vor den Rat. Ludolp und Hermann erwarteten ihn bereits. In ihren Augen war ein freudiges Lächeln erkennbar, aber auch alle zehn gewählten Ratsherren sahen ihn freudig an. Das irritierte Walter zunehmend. Was wollten sie von ihm? Schon auf dem Weg hatte er sich diese Frage immer wieder gestellt.

Ludolp lüftete das Geheimnis. „Walter, du bist uns als treuer, sorgfältiger und fleißiger Schreiber bekannt. Wir haben auch nicht vergessen, dass du uns den entscheidenden Tipp zur teilweisen Wiederbeschaffung des Stadtsäckels mit der gefundenen Scheibenfibel gegeben hattest. So war es uns möglich, fast die Hälfte der Kasse zurückzubringen und den Schaden noch erträglich zu halten. Dafür wollte der Rat sich bei dir bedanken. Aber das ist nicht der eigentliche Grund, warum wir dich rufen ließen.

Wie du sicherlich weißt, ist das Amt des Kämmerers vakant. Ulrich war nicht mehr tragbar und wurde demnach nicht noch einmal wiedergewählt. Also suchten wir einen geeigneten Nachfolger heute am Tag der Petri Stuhlfeier. Da hatte Friedrich die Idee, dich für das Amt des Kämmerers vorzuschlagen. Alle waren von der Idee angetan. Einstimmig haben wir dich ergo in dieses Amt gewählt. Deshalb frage ich dich als proconsules: Nimmst du das Amt des cameraij consulatus in Mulne an?“

Walter war perplex. Er meinte sich verhört zu haben. Sicherlich hatten sie sich geirrt. Freilich verfügte er auch über die Voraussetzungen, die ein Mann erfüllen musste, der in den Rat gewählt werden wollte. Hiernach musste ein Kämmerer oder Ratsherr frei geboren sein und durfte in keinem Hörigkeitsverhältnis stehen. Ebenfalls durfte er nin ammet hebbe van heren. Schließlich musste er ein erbeingesessener Bürger der Stadt sein. Zuerst gab es bei den Rats­herren die Einschränkung, dass kein Handwerker in den Rat gewählt werden dürfe, wie es in größeren Städten auch noch weiterhin galt. Das lag daran, dass der Handwerker wahrschein­lich zuerst an die Interessen seiner Zunft dachte. Aber dies war in Mulne nicht durchführbar, weil es sonst zu wenig wählbare Männer gegeben hätte. Es gab desgleichen zu wenig Kaufleute, Patrizier und Grundbesitzer, aus deren Reihen sich die Ratsherren hätten rekrutieren können.

Fragen kamen in ihm auf. Traute er sich das zu? War er der Aufgabe gewachsen? Der Bürgermeister hatte ihm die Option der Ablehnung gegeben. Würde er diesen Schritt wählen, wäre alles weiterhin wie bisher. Er könnte der Arbeit nachgehen, die er kannte und die er beherrschte. Was wäre, wenn er genauso versagen würde wie Ulrich? War es gewährleistet, dass es niemals mehr einen Raub der Stadtkasse geben würde?

Nein. Das war strikt unmöglich.

Aber er konnte dafür sorgen, dass es den Räubern nicht noch einmal so leicht gemacht werden würde. Er könnte die Vorkehrungen des Schutzes verstärken. Diese Fragen, gepaart mit einer gewissen Unsicherheit bei Dingen die neu für jemanden sind, stiegen in ihm auf. Einen Moment überlegte er. Schweigen herrschte im Saal des theatrum. Dann überstieg aber der Stolz die anfängliche Überraschung und die Unsicherheit. Er würde sein Bestes geben.

„Ja, ich nehme das Amt des Kämmerers an.“

„Der Rat der Stadt gratuliert dir zu deinem neuen Amt. Möge eine glückliche Hand dein Amt begleiten, und möge Gott mit dir sein.“ Es war Ludolp die Erleichterung anzumerken.

„Es gibt aber noch zwei Sachen zu besprechen.“ Walter wähnte sich mutig in der Position, Forderungen zu stellen.

„Welche denn, Walter? Sprich es nur aus.“

„Zum ersten verlange ich, dass die Stadtkasse mehr geschützt wird. Ich verlange, dass nach meinen Vorschlägen die Sicherheit des Geldes erhöht, und somit ein Raub nahezu undenkbar gemacht wird. Ich will es den Räubern nicht mehr gar so einfach machen.“

Ludolp sah sich um und gewahrte ein einheitliches Nicken.

„Du kannst nach deinem Gutdünken verfahren. Was du benötigst, wirst du erhalten. Ziere dich nicht nach Nötigem zu verlangen. Und was wäre dein zweites Anliegen?

„Ich gebe zu bedenken, dass die Stelle des Schreibers somit vakant ist. Ich kann sie nicht mehr ausüben. Haben die verehrten Ratsherren schon darüber gesprochen?“

Ludolp lächelte ihn an. „Es zeigt sich, dass du ein umsichtiger Mann bist und wir wohl mit dir als Kämmerer die richtige Wahl getroffen haben. Aber sei getrost. Auch daran haben wir gedacht. Da dein ältester Sohn Bruno schon bei dir als Schreiber in die Lehre geht, so haben wir beschlossen, ihn zum Schreiber der Stadt zu benennen. Bist du einverstanden?“

Walter Augen leuchteten auf. Für ihn zählte dieser Tag der Petri Stuhlfeier am 22. Februar A.D. 1255 mit zu den schönsten Tagen seines Lebens.

Walter betrat zu später Stunde sein Haus. Besorgt stürmte seine Frau Sieglinde zu ihrem Mann. Aber auch die drei Kinder hatten sich gesorgt.

„Was wollten sie von dir? Ich habe mir Sorgen gemacht.“

Walter lächelte angesichts der Fürsorge seiner Frau. So war sie eben. Stets ängstlich und besorgt. Aber andererseits eine herzensgute Frau und Mutter.

„Mach dir keine Sorgen. Ich werde nicht mehr als Schreiber arbeiten.“

Sofort verfinsterte sich Sieglindes Gesicht.

„Bist du entlassen? Wir werden hungern.“ Furcht stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Nein, werden wir nicht. Ich werde sogar mehr verdienen als vorher. Denn ich bin der neue Kämmerer der Stadt.“

Den letzten Satz brüllte Walter hervor und riss jubelnd die Arme hoch. Ungläubige Freude zeichnete sich auf den Gesichtern der Frau und der Kinder ab, wo kurz vorher noch Furcht und Ungewissheit geherrscht hatten.

„Aber das ist noch nicht alles an guten Nachrichten“, fuhr Walter im gemäßigtem Ton fort, „denn für meinen erstgeborenen Sohn habe ich eine noch viel bessere Nachricht. Er wird mein Nachfolger als Schreiber.“

Ungläubigkeit verwandelte sich in reine Freude. Bruno fing am nächsten Tag gleich als Schreiber an. Er setzte die inzwischen schon als Familientradition geltende Zunft der Schreiber fort.

Walter ging in seiner Arbeit als Kämmerer auf. Er setzte seine Vorschläge zur Sicherung der Stadtkasse durch. Vom Rat erhielt er angesichts der Erlebnisse jegliche Unterstützung. In seiner Amtszeit sollte es zu keinem Raub der Gelder mehr kommen.

Der ehemalige Kämmerer Ulrich jedoch verließ die Stadt nach Norden, auf einer Fracht­kutsche. Er ward nie wieder in der Stadt gesehen.

Der Landesherr Herzog Albrecht verstarb sieben Jahre darauf. Angetrieben von der Unge­wissheit über die Zukunft der Stadt, ließ der Bürgermeister Ludolp bei der Witwe des Herzogs Helene nachfragen, ob die damals von Herzog Albrecht bestätigten Stadtrechte, die als Weichbildrecht bekannt waren, weiterhin Gültigkeit haben sollten. Es war wenige Tage vor der Petri Stuhlfeier am 17. Februar 1262, als die Herzogin Helene die Stadtrechte mit dem Satz ius quod welge wicbeldesrecht dicitur bestätigte.

Im folgendem Jahr kamen dann die neuen Herzöge, die Söhne Johann und Albrecht II. nach Mölln. Die beiden Brüder wohnten im Slot. Der Grund ihres Aufenthaltes war nicht nur die erneuerte Bestätigung der Weichbildrechtes.

Es hatte sie ein wichtiger Grund nach Mulne geführt. Sie lagen im Zwist mit dem Bischof von Ratzeburg, Ulrich de Bluchere. Ulrich war zuerst Priester in der Prämonstratenserabtei von Racisburg, bevor er 1257 zum Bischof gewählt wurde.

Seine Wurzeln hatte Ulrich de Bluchere in dem alten Adelsgeschlecht, dessen Stammsitz bei Louwenburg an der Elbe lag. Der Urahn war ein mutiger wendischer Edelknappe, der mit Herzog Heinrich dem Löwen einst nach Rhodos gezogen war, und dort wegen seiner Tapferkeit den Ritterschlag erhalten hatte. Wieder in der Heimat half er Heinrich, als dessen Schwiegersohn Borwin von Mecklenburg von Nikolaus und seinen Abortriten bedrängt wurde. Seine Tapferkeit wurde legendär, als er ganz alleine eine Kapelle verteidigte. Nachdem die Abortriten vor seinem Schwert geflohen waren, überreichte er, gänzlich vom eigenen und fremden Blut überzogen, dem Herzog die Kirchenschlüssel. Da nannte der Herzog ihn Bluchere, den Blutigen. Die Schlüssel wurden seitdem das Wappenzeichen9 des Geschlechts.

Ulrich ging mit seinem Seelsorgereifer neue Wege. Für ihn war christliche Barmherzigkeit keine leere Phrase. Seine Barmherzigkeit gegenüber den Armen war landesweit bekannt.

Aber nicht überall war dieser Eifer beliebt. Die Herzöge störten sich daran, dass Bischof Ulrich immer mehr Einfluss auf die weltlichen Dinge zu nehmen versuchte. Sie gedachten daher Mulne zu stärken, und somit ein Gegengewicht zu einem immer stärker werdenden Bischof zu schaffen. Die Herzöge befürchteten, dass ihr weltlicher Einfluss in ihrer Grafschaft von dem Kleriker beschnitten werden würde, damit er alles den Armen geben konnte.

Ludolp war ein alter Mann geworden. Seine Bewegungen waren durch seine Gicht stark beeinträchtigt. Aber sein Verstand arbeitete noch einwandfrei, sodass er sein auf Lebenszeit verliehene Amt immer noch ausüben konnte. Er saß im theatrum und wartete auf Hermann. Die Händler benutzten das theatrum ebenfalls. Es war nicht nur Rathaus, sondern auch ein Handelsplatz für Tuchhändler geworden. Dieser Zustand ärgerte den Bürgermeister.

Er träumte schon seit langer Zeit davon, ein eigenes großes Rathaus zu besitzen, welches nicht mit Händlern zu teilen war. Ach, wäre das schön. Er wusste auch schon wo dieses Rathaus entstehen sollte. Am Rande des Marktplatzes, links neben der Kirche sollte es stehen. Ein großer Ratssaal mit großen Fackeln an den Wänden schwebte ihm vor. Doch waren das alles noch Träume, denn das Geld fehlte. Die zweite Hälfte der geraubten Stadtkasse war weiterhin verschwunden. Selbst die Einbeziehung des Lubecker Ratsherren Martin de Mulne hatte nicht das gewünschte Resultat erzielt. Das nötige Geld für die vielen Bauvorhaben in der Stadt musste noch beschafft werden. Aber das würde Lupold nicht mehr erleben. Lupold seufzte.

„Die Herzöge sind eben nach Racisburg geritten, um Bischof Ulrich zu sprechen.“ Lupold drehte sich um und gewahrte Hermann, der unbemerkt in den Ratssaal getreten war.

„Glaubst du, dass der Streit zwischen ihnen damit beigelegt ist?“

„Das glaube ich weniger, da alle drei charismatische Köpfe sind. Jeder verfolgt seine Interessen, auch wenn Ulrichs Interessen vorherrschend den Armen und nicht seinem eigenen Beutel zugute kommen. Aber wir könnten uns doch freuen, wenn sie sich nicht einigen.“

Lupold verstand ihn nicht.

„Wie meinst du das?“

„Ganz einfach. Weil der Streit Mulne zugute kommt. Sieh dich doch um. An allen Ecken wird gebaut. Die Stadt hat eine große Anziehungskraft auf die umliegenden Dörfer. Von überall her kommen die Bauern und Händler in die Stadt, um an den Markttagen ihren Geschäften nachzugehen. Der Marktplatz ist bald zu klein. Du siehst doch, das selbst hier die Tuchhändler Geld verdienen. Dadurch strömt viel Geld in unsere Kassen. Geld kommt auch durch unsere Zollstelle. Zwar bekommen die Herzöge als Landesherrn die Zölle der Warentransporte, doch erhalten wir auch unseren Obolus davon. Aber du weißt ja, dass das Geld auch dringend benötigt wird. Zum einen haben wir noch die Lücke des Raubes zu füllen, zum anderen sind die Bauvorhaben groß.

Was ich aber genau mit dem Vorteil, welcher uns durch den Streit erwächst, meinte, ist aber Folgendes: Sieh dir doch noch einmal genau die Urkunde an, in der das wicbeldesrecht bestätigt wurde. Dort steht der schöne Satz ad emendationem civitatis Mulne – zum Wohle der Bürger von Mulne. Die Herzöge haben uns Gultzow und Pinnow mit ihren zweiundzwanzig Hufen geschenkt. Aber nicht nur das. Wir haben auch noch jetzt die Pinnower Mühle erhalten, die dem Kloster Reinbek gehörte. Und auch die Mühle passt in das Bild, das die Herzöge uns stärker sehen wollen.“

„Aber dies Geschenk war nicht umsonst“, gab Lupold zu bedenken. „Das Kloster wurde für den Verlust der Mühle entschädigt.“

„Wohl wahr, aber nicht durch unseren Beutel, sondern durch den Beutel der Herzöge. Außerdem sind die Klöster nicht die ärmsten. Ich weiß noch genau, dass vor zwanzig Jahren das Kloster Reinfeld das Dorf Bälow, im Westen Mulnes gelegen, gekauft hat.“

„Jedenfalls haben wir unter diesen Herzögen nicht zu leiden. Es hätte schlimmer werden können. Du hast Recht, dass wir unter diesen Landesherrn gestärkt hervorgehen.“

Hermann lachte. „Vogt Henricus lässt sich hier schon gar nicht mehr blicken. Er weiß schon warum. Er hat schon verstanden, dass hier der Stadtrat zu sagen hat, und sich nur vom Herzog direkt und sonst niemandem hineinreden lässt.“

Auf dem Heimweg ging Hermann über den Marktplatz. Hier herrschte reges Treiben. Die Mägde kauften an den Ständen die Lebensmittel für die Mahlzeiten ihrer Herrschaften ein. Es wurde gefeilscht und gehandelt. Die Waagen balancierten so lange, bis sie in der horizontalen Lage stillstanden. Mit Genugtuung verfolgte der jüngere Bürgermeister dieses Bild. Hermann erinnerte sich zufrieden daran, dass der Marktfrieden urkundlich festgelegt war.

Van market vrede. So we den anderen up deme markete ouele handelet mit slande oder mit stotende. Oder mit so gedaner wis. He schal eme beteren na deme broke. Dar na deme rade mit dren marken sulueres. Unde wat de Ratman dar van nehmen willet des boret der stat twe del to. Unde deme richte dat dridde del.

Auf diese Weise wurde der Marktfrieden erhalten und ein ruhiger Warenhandel ermöglicht. Sollte einmal den Bäckern, Knochenhauern oder Schankwirten der Stadt ein Vergehen nach­zuweisen sein, so sollte von der verhängten Strafe zwei Teile den Bürgern der Stadt, und ein Teil dem Gericht zukommen.

Neun Jahre später hatte Bruno als Schreiber eine wichtige Urkunde auf seinem Schreibpult liegen. Wieder war es eine Urkunde der Herzöge Johann und Albrecht II., in der die Weichbildrechte erneut bestätigt wurden. In dieser Urkunde vom 25. Juli 1272 wurde aber zusätzlich noch einmal darauf hingewiesen, dass das Lubeker Recht auch bei denen anzu­wenden sei, die erst später nach Mulne gezogen seien, um in der Stadt zu leben.

Adicientes etiam quod Hii, qui ad hoc molne venturi sunt, ad faciendam mansionem ibidem.

Dieser im Vertrag verankerte Satz war auch nötig, denn es gab immer mehr Zuwanderer, die in die Stadt zogen. Denn Mulne wuchs unaufhörlich.

Unterhalb vom Slot wurde eine Mühle errichtet. Sie war ausschließlich für das Mahlen von Getreide vorgesehen. Der pultifex, der Müller, konnte sich über fehlende Getreidelieferungen aus der Umgebung nicht beschweren. Es gab derer reichlich.

Aber die Menschen, die neu hinzuzogen, brauchten vor allem Häuser. Deshalb wurden neue Straßen gebaut. Die See-, die Haupt- und die Mühlenstrate wurden nach Süden verlängert. Dazu entstanden in dieser dritten Phase der Stadtentstehung neue Straßen. Es kamen die Bleystrate und der Wallgraben hinzu. Damit war der gesamte Werder bebaut.

In diesen Jahren sollte sich aber auch das äußere Bild der Stadt ändern. Endlich wurde mit dem Bau der langersehnten, Schutz gebenden Stadtmauer begonnen. Sie schloss die neuen Straßen mit ein. Im Süden und Osten, wo kein See die Stadt begrenzte, wurden die schon von der Natur vorgefundenen Gräben noch weiter zu wehrhaften Stadtgräben ausgebaut.

Drei Stadttore wurden erbaut, durch die in Zukunft die gesamten Transporte der Ware gehen sollten. Im Süden stand das Steintor. Durch dieses zogen nun die Salzkarren aus Lüneburg und gelangten auf die Hauptstraße. Im Norden, kurz vor der Holzbrücke, stand das Gultzower Tor. Im Osten stand neben der neuen Mühle das Pinnower Tor.

Die Beweggründe, warum die Menschen in die nahe Stadt zogen, mochten auf den ersten Blick verschiedene Ursachen haben, aber letzten Endes waren sie doch in einem Satz zusammenzufassen: die Hoffnung auf ein besseres Leben.

So hatte dennoch jeder seine eigene Geschichte.

Winfried wachte auf. Es war kurz vor Sonnenaufgang an diesem Wochentag im Monat März des Jahres 1281. Im Osten verfärbte sich der Himmel hell. Vogelgezwitscher und das frühe Krähen des Hahnes war zu vernehmen. Winfried erhob sich von seiner Schlafstelle, die eine flache Pritsche aus grob behauenen Fichtenbrettern war. Als Unterlage diente ihm und seiner Frau ein Strohsack. Mit einem Schaffell deckten sie sich stets zu.

Als er aufgestanden war, reckte er sich und gähnte. Aber er tat dies leise, denn er wollte seine hochschwangere Frau Jolanthe nicht wecken. Sein Blick fiel auf seine vier Kinder, die auf dem aufgeschütteten Stroh direkt neben der Feuerstelle schliefen. Das Feuer in dem aus Lehm erbauten Kochofen war erloschen. Graue Aschereste und ein halb verkohltes Buchenholz zeugten davon, dass an dem vergangenen kalten Märzabend das Feuer für wohlige Wärme gesorgt hatte. Der Kochofen war nach oben offen, sodass der Rauch bis unter das Dach aufsteigen, sich dort sammeln und durch eine Luke entweichen konnte.

Winfried zog sein leinenes dunkelgraues Hemd über. Alle Bauern trugen dunkelgraue Kleider. Bunte Farben waren im Allgemeinen bei den Bauern nicht üblich.

Bevor er sein Wohnhaus verließ, schlüpfte er noch in seine Schuhe. Zwei Paar nannte Winfried sein Eigen. Das eine war aus Lindenholz geschnitzt. Vom vorigen Tag auf dem Feld hingen noch verkrustete Erdklumpen daran.

Sein zweites Schuhpaar, welches noch in seiner Truhe lag, in der sich seine wenigen Habseligkeiten befanden, war aus braunem Leder gefertigt und wurde am Knöchel gebunden. Diese Truhe war eine aus rohem Holz gezimmerte Kiste, die neben der Bettpritsche, den Schemeln und dem Tisch eines der wenigen Möbelstücke in dem Wohnhaus war.

Winfried weckte seine Kinder, indem er von jedem einzelnen den Namen rief. Dennoch tat er dies so leise, dass Jolanthe nicht wach wurde. In dieser für sie schweren Zeit benötigte sie ihren Schlaf. Es war ihre siebte Schwangerschaft. Ein Kind kam bisher tot zur Welt, und ein anderes verstarb nach wenigen Wochen. Der Sterben von Säuglingen war bei den Bauern nichts Außergewöhnliches, doch hoffte Winfried, dass diesmal das Kind gesund geboren und überleben würde. Er betete zu Gott deswegen, und wollte sie selbst in jeder Weise unterstützen.

Nachdem er sah, dass die Kinder dabei waren sich von ihrem Strohlager zu erheben, schlurfte er durch den Raum. Er öffnete die Tür, welche aus einfachen zusammengenagelten Brettern bestand. Die Tür wurde durch Lederriemen, welche als Scharniere dienten, bewegt.

Das erste was er jeden Morgen tat, war der Gang zum Misthaufen. Dort hockte er sich hin und verrichtete seine Notdurft.

Sein Hof bestand aus zwei Gebäuden. Das erste war das Wohnhaus. Behauene Holzstangen bildeten das Gerippe, deren Lücken mit Strohlehm ausgefüllt waren. Im Inneren bildete ein großer Raum das Zentrum, welcher gleichzeitig als Küche, Wohn- und Schlafraum diente. Lediglich ein kleiner abgetrennter Raum diente der Lagerung von Vorräten. Gedeckt war das Dach mit Reet, welches am Rand des Lutowe- und Drusensees reichlich wuchs.

Das zweite Gebäude war viel kleiner, und beherbergte den Ochsen, fünf Schweine und zwei Kühe. Abgetrennt war noch ein Raum, in dem Winfried sein Arbeitsgerät aufbewahrte. Dies war sein gesamtes Eigentum. Gesichert hatte er dies mit einem kreisrunden und mannshohen Palisadenzaun, welcher noch von einem eigenhändig ausgebuddelten Graben umgeben war. Eine zwei Meter lange kleine Holzbrücke führte in das Innere seines Hofes, nachdem zwei schwenkbare Holztüren aufgetan worden waren. Wie sein Hof, so waren alle anderen zehn Höfe des Dorfes Lutowe vor räuberischen Überfällen geschützt.

Sein Blick fiel auf die Holzstämme des Hausgerippes. Sie begannen direkt über der Erdoberfläche zu faulen, weil Nässe und Frost dort leichtes Spiel hatten. Irgendwann, so sagt er sich, müsste er sie einzeln auswechseln, bevor das ganze Haus zusammenbrach. Winfrieds Vater hatte es erbaut, als er in jungen Jahren zusammen mit anderen Männern das Dorf gründete. Winfried hatte sein Leben in diesem Dorf verbracht. In der nahen, großen Stadt Mulne war er bisher nur sporadisch gewesen. Nicht so sein Bruder Gregor, der seit Jahren in Mulne wohnte, und dort als Zimmermann arbeitete. Aber Gregor war schon immer anders.

Eckhard, sein ältester Sohn, kam aus dem Haus, und molk die Kühe. Eigentlich tat dies Jolanthe täglich, doch zur Zeit hatte Eckhard ihr die Arbeit abgenommen. Winfried holte seinen Ochsen aus dem Stall sowie seinen Pflug aus Eichenholz, welcher mit einer hölzernen Deichsel und einem eisernen Dorn ausgerüstet war. An diesem Tag hatte er sich vorgenommen, seine Hufe zu pflügen. Um dorthin zu gelangen, musste er eine kleine Anhöhe oberhalb des nordöstlichen Drusensees erklimmen. An seinem abgesteckten Acker angekommen, schirrte er den Ochsen ein. Während der Arbeit besah er sich das nebenan liegende Feld, welches auch seines war. Zufrieden sah er die fingerlangen grünen Keime der Wintersaat, welche schon aufgegangen war.

Seine fünfjährige Tochter Sieglinde brachte ihm am Vormittag einen Korb mit Brot und Wasser. Sie war stolz darauf ihren Vater versorgen zu können. Er gönnte sich und auch dem Ochsen eine Pause und genoss mit Sieglinde zusammen die Speise.

Die Arbeit des Pflügens war am Nachmittag geschafft. Er besah sich die Furchen, und sein Blick wanderte gen Himmel. Keine Wolke war zu sehen. So war noch mit der Aussaat zu warten, bis sich endlich Regen ankündigte. Das war nicht so schlimm, weil er am nächsten Morgen etwas anderes vorhatte. Etwas, das mit seinem Sohn Eckhard zu tun hatte. Dies beschäftige ihn schon lange Zeit, und morgen wollte er sich endlich einmal darum kümmern.

Nachdem er den Ochsen wieder auf seinen Hof geführt hatte, betrat er sein Haus. Der Rauch des Feuers sammelte sich wie gewohnt unter dem Dach. Der Abzug war zu klein, aber Winfried und seine Familie hatten sich daran gewöhnt. Er trat hinter Jolanthe und umfasste ihren Bauch. Beinahe gelang es ihm nicht mehr, dass seine Fingerkuppen sich berühren konnten, so dick war der Bauch inzwischen geworden.

„Wie geht es dir?“

Jolanthe drehte sich um und gab ihm einen Kuss. Eine nasse Haarsträhne hing ihr über das rechte Auge unter dem Kopftuch hervor. Behutsam wischte Winfried sie weg.

„Wie soll es mir schon gehen? Ich bin froh, wenn der Junge endlich da ist.“

Jolanthe lächelte. Sie war sich absolut sicher, dass es ein Junge werden würde, denn sie hatte als Probe jeweils einen kleinen Haufen Gersten- und Weizensaat mit ihrem Urin benässt. Nur die Weizensaat war aufgegangen. Dies war ein untrügliches Zeichen auf einen Sohn.

Hungrig setzte er sich mit seiner Familie auf Schemeln um den Tisch.

In der Mitte der Platte stand ein Kochkessel, der mit breiigem Brot gefüllt war. Jeder hatte vor sich einen Holznapf stehen. Wie üblich sprach der Herr der Familie ein Gebet und dankte Gott für die Speise. Nachdem er geendet hatte, löffelte jeder für sich seinen Brei. Er bestand aus Mehl, welches aus der nahen Lutower Mühle stammte. Das Mehl war von Jolanthe mit der Milch der eigenen Kühe aufgekocht und mit Honig gesüßt worden. Dies war die übliche Mahlzeit. Abwechslung gab es höchstens von den Eiern der eigenen Hühner, oder wenn eines der Hühner geschlachtet wurde. Falls eine der Säue geschlachtet wurde, gab es tagelang Schweinefleisch. Aber auch Schinken wurden geräuchert. Unter dem Dach gab es schließlich genügend Rauch, sodass der Schinken dort aufgehängt wurde. Ansonsten war Fleisch als Mahlzeit rar. Zwischendurch tranken sie aus hölzernen Bechern Molke dazu.

Nach dem Essen wandte sich Winfried an seinen ältesten Sohn Eckhard.

„Hilfst du mir noch, die Holzstämme aus dem Wald zu holen? Wir müssen Holz für die nächsten Winter machen.“

„Ich helfe dir. Aber lass uns dann bald beginnen, damit wir vor der Dunkelheit wieder zurück sind.“

„Wir können gleich los.“ Einen Moment verharrte Winfried, während er Eckhard durch­dringend ansah. Vielleicht ahnte der Jüngling etwas von des Vaters Vorhaben.

„Übrigens,bin ich morgen früh nicht da. Gegen Mittag werde ich wohl wieder da sein.“

„Willst du nach Mulne?“

Winfried überlegte schnell, ob dies der geeignete Moment wäre, Eckhard endlich die Wahrheit über seinen Plan mitzuteilen. Aber dann entschied er sich dafür damit zu warten, bis es soweit war, und seine Verhandlungen Früchte getragen hatten.

„Nein, ich will einen Freund in Drusen besuchen.“

Schweigsam trank Eckhard seine Molke aus und folgte dem Vater in den nahen Wald.

Winfried hatte für die Schönheit des Sees keinen Blick übrig. Auf der Westseite des Drusensees ging er dicht am Ufer nach Süden. Das Wasser des Sees plätscherte sanft von der Sonne beschienen an die Uferböschung. All diese Schönheiten der Natur sah Winfried nicht. Er hatte nur Gedanken für den Grund seines Weges. Der Grund seines Besuches in Drusen galt Eckhard. Der zwanzigjährige war jetzt wahrlich schon in dem Alter, verheiratet zu werden. Es galt für männlichen Nachwuchs zu sorgen, damit der bäuerliche Fortbestand seiner Familie gewährleistet werden konnte. Doch entgegen der Hoffnungen des Vaters hatte er bisher noch keinerlei Anstalten gemacht, eine Frau zu freien. Daher fühlte sich Winfried dazu verpflichtet, das Nötige zu unternehmen. Es ließ ihm keine Ruhe. Als passende Frau für seinen Sohn erschien ihm daher Gudrun, die fünfzehnjährige Tochter des Stefan aus dem Dorf Drusen, geeignet. Er kannte den Vater gut und war zuversichtlich, in Drusen den Handel zwischen ihren Kindern perfekt machen zu können.

Als er das Ende des Sees erreichte, sah er rechts den steil ansteigenden bewaldeten Hang hinauf. Dort oberhalb der Bäume befand sich auf einer leichten Anhöhe das Dorf Drusen. Es waren aber nur wenige Bauernhöfe vorhanden. Die Bauern hier waren wie er selber allesamt arm und froh, wenn sie des Abends Brot essen konnten. Lediglich ein paar Schweine, Kühe und Ochsen nannten die Bauern ihr Eigen, um ihre Felder bestellen zu können. Sonst waren sie nicht begütert. Die Schweine suhlten sich im Morast.

Winfried sah gleich, dass etwas nicht stimmte. Er sah die Bewohner des Dorfes zwischen ihren Häusern zusammenstehen. Gudrun stand abseits und heulte, die Hände vors Gesicht gehalten. Ihr Weinen war weithin vernehmbar. Ihre Mutter war bemüht sie zu trösten. Die Männer des Dorfes waren aufgebracht. Wild gestikulierten sie. Zornige Worte drangen dem nahenden Besucher entgegen. Verwundert trat er zu der Ansammlung.

„Gott zum Gruße. Was ist passiert?“

Stefan kam gleich zu Winfried, nachdem er ihn erkannt hatte. Zorn, Wut und Trauer waren gleichermaßen in seinem bärtigem Gesicht abzulesen. Er musste schlucken, bevor er seinem Freund aus Lutowe antworten konnte.

„Raubritter haben uns überfallen.“

Diese Nachricht erschreckte Winfried zutiefst.

„Sag das noch mal.“

„Du hast mich schon richtig verstanden. Es ist noch gar nicht so lange her, da sind sie abgehauen. Dort den Weg hoch, der an der Ostseite des Sees nach Norden geht.“

„Haben sie Euch was getan? Haben sie euch beraubt?“

Trotz des schrecklichen Ereignisses lachte Stefan kurz auf. Aber in seinem Gelächter schwang Wut, Trauer und eine große Portion Galgenhumor mit.

„Was glaubst du denn? Es sind wahrlich keine Mönche. Sie haben uns alles genommen, was ihnen Wert erschien. Geld hatten wir aber nicht viel. Mehrere geräucherte Schinken dagegen haben sie gefunden. An denen wollten sie sich gütlich tun.“

Stefan machte eine Pause, und Winfried merkte sofort, dass noch Schlimmeres passiert war. Etwas viel Unfassbareres, was Stefan sich noch nicht traute seinem Freund kundzutun. Winfried sah, wie der Blick des Stefan schmachvoll zu dessen Tochter hinüberging. Winfried verstand ohne Worte. Gudrun war Gewalt angetan worden.

„Haben sie deine Tochter …?“

Stefan nickte.

„Diese Schweine.“

Eine Weile der Stille verging. Es war nur das Weinen und Schluchzen von Gudrun zu vernehmen. Winfried sah zu ihr hinüber. Mit einem Mal war sie nicht mehr der Grund seines Besuches. Das hatte sich auf grausame Art erledigt. Er konnte sich nicht mehr vorstellen, dass ausgerechnet die geschändete Gudrun seinen Sohn ehelichen sollte. Durch die Vergewaltigung war sie in seinen Augen nicht mehr für Eckhard heiratsfähig. Er würde halt weitersuchen müssen. Deshalb verschwieg er Stefan nun den eigentlichen Grund seines Besuches.

Zugleich spürte er eine Gefahr, die ihn vollends gefangennahm, um ihn nahezu zu lähmen. Dieses schreckliche Gefühl fraß sich in seinem Innersten von unten nach oben hinauf und schien seine Eingeweide nach und nach zu zerfressen.

„Du sagtest, sie sind nach Norden geritten, an der Ostseite des Sees entlang?“

Ein Nicken folgte. Ein Frösteln durchzog Winfried daraufhin, obwohl es ein warmer Frühlingstag war. Es war nicht ausgeschlossen, dass die Räuber auf dem Weg nach Norden auch durch Lutowe zogen. Kleine ungeschützte Dörfer waren für Raubritter eine wahre Einladung. Schließlich war ihre Gier auf Beute noch nicht hinreichend gestillt worden. Geräucherte Schinken waren schließlich nicht gerade diejenige Ausbeute, wonach Raubritter sich sehnten. Ihre Gier war fast ausschließlich der Barschaft gewidmet. Schließlich wurden sie durch die vorherrschenden politischen Verhältnisse dazu gezwungen.

Mit einem Mal fürchtete er um seine Familie und sein Dorf.

„Wie viele sind es?“

„Es waren neun.“

Neun Räuber überfielen ein kleines ungeschütztes Dorf und vergewaltigten eine Tochter. Eine wahrlich schändliche und unrühmliche Tat. Keine Heldentat, die von den Barden voller Stolz zu besingen gewesen wäre. Doch zeigte dies eindrucksvoll, dass die Gier nach einfacher Beute und die Geldnot der Ritter in letzter Zeit sehr zugenommen hatten.

Das Rittertum war in einem Wandel. Die einst ehrbaren, den Armen verschriebenen Codices hatten ihren Wert verloren. Vielschichtig waren dafür die Gründe. Das Austragen von Fehden war stets ein Teil der ritterlichen Lebensweise gewesen. Das Herabsinken der Bedeutung des Rittertums mit seinen eigentlichen heroischen und edlen Motiven hing mit der verstärkten Verbreitung der Geldwirtschaft zusammen. Die wachsenden Städte mit ihrem kauf­männischem Hintergrund waren für den Untergang des Rittertums maßgeblich verantwortlich. Einst waren die Ritter in ihrer Blütezeit in lehnsrechtlicher Abhängigkeit. Doch durch den stärker wachsenden Einfluss des Geldes änderte sich dies. Die Abhängigkeit vom Geld stieg. Dadurch erhielt das Söldnertum einen Aufschwung, welches zu Lasten der Ritterschaft ging. Die Fürsten, Grafen und Könige selbst warben mehr Söldner an, um unabhängig in ihren militärischen Möglichkeiten zu sein. Dadurch war der Untergang des Rittertums eingeläutet. Doch die Kosten für Vieh, Knappen, Mägde und Knechte waren vorhanden und stiegen sogar. So wurden aus den edlen Rittern, deren eigentliche Grundsätze edel waren, räuberische Wegelagerer und Strauchdiebe, um ihre geldliche Not lindern zu können. Überfälle auf Handelsstraßen wurden üblich und vermehrt ausgeführt.

Auch auf Juden mit ihren gelben spitz zulaufenden Hüten, zu dessen Tragen sie seit Kaiser Friedrich II. verpflichtet waren, um sich von den Christen zu unterscheiden, wurden Überfälle verübt, weil dort sichere fette Beute vorzufinden war.

Sogar Fehden wurden provoziert, deren einziger Grund es war, plündernd durch die Lande zu ziehen. Der Zweck heiligte die Mittel. Das Leben der Ritterschaft wurde immer schwerer. Immer mehr schutzlos daliegende Dörfer wurden als leichte Beute angesehen.

Seit im Jahre 1250 Kaiser Friedrich II. gestorben war, hatten sich die Zustände im Reich verschlechtert. Für die Nachfolge in Frage kommende Nachkommen oder Verwandte aus seiner Linie starben nach und nach, und es war niemand da, der das Stauferreich hätte weiterführen können. Es gab keinen starken Mann mehr im Reich. Diese kaiserlose Zeit war eine düstere. Einzig Rudolf von Habsburg, das Patenkind des Kaisers, hatte die Königswürde verdient, doch scheiterte er bisher an den Machtintrigen und Fehden der kleineren Fürstenhöfe. Auch die Grafschaft Racisburg blieb von diesen Auswucherungen der kriegerischen Selbstherrlichkeit des Adels nicht verschont.

Plötzlich hatte es Winfried sehr eilig. Er ließ die trauernde Dorfgemeinschaft zurück. Ohne ein weiteres Wort zu sagen lief er den Hügel zum See hinab. So schnell seine alten Beine ihn tragen konnten, eilte er am Ufer des sonnenbestrahlten Sees entlang.

Er keuchte bald schwer. Das schnelle Laufen war er in seinem Alter nicht mehr gewohnt. Ja, als Junge konnte er damals uneinholbar laufen. Aber heute? Bald war er außer Atem und keuchte angestrengt, während seine Hände sich auf den Oberschenkeln abstützten. Nach kurzer Pause ging es weiter. Er lief so schnell er konnte.

Doch er war nicht schnell genug.

Der Drusensee endete in den Lutower Bek, der wiederum nach wenigen hundert Metern in den Lutower See mündete. Kurz vor der Einmündung war auf der linken Seite eine Mühle10 erbaut worden. Diese Mühle wurde durch den Bek gespeist und angetrieben. Das kleine Dorf Lutowe mit seinen wenigen Höfen befand sich östlich der Mühle am südlichen Rand des Lutower Sees. Doch dies hinderte den Raubritter mit seinen Männern nicht, hier zu rauben.

Winfried war über den Bach gelangt, und da sah er sie schon. Seine Beine bewegten sich voran, so schnell wie sie es vermochten. Eine Menge Leute sah er stehen. Anscheinend hatte niemand Zeit gehabt, sich hinter den sicheren Palisadenzäunen zu verschanzen. Wohl zu schnell waren die Raubritter in das Dorf eingedrungen. Die Raubritter standen um die Dorfbewohner herum, die sich in ihrer Mitte ängstigten. Fäuste prügelten auf einen geduckten Mann ein. Schützen konnte dieser sich nicht, weil seine Arme von zwei Kumpanen festgehalten wurden.

„Nein.“

Die Raubritter waren mit ihrem Tun und ihren scherzhaften Kommentaren so beschäftigt, dass sie den Herannahenden zuerst gar nicht bemerkt hatten. In diese Situation stolperte Winfried unvorbereitet, und wie sich herausstellen sollte hilflos, hinein.

Sogleich, nachdem die Räuber auf den neuen Ankömmling aufmerksam geworden waren, traten zwei mit erhobenen Waffen auf ihn zu und nahmen ihn in Gewahrsam.

Erst da wurde es Winfried bewusst, wie töricht er sich hatte gefangennehmen lassen, anstatt erst einmal aus der Entfernung zu beobachten. Aber die Angst um seine Frau Jolanthe und seine Kinder hatte ihn in diese aussichtslose Lage getrieben.

„Wen haben wir denn da?“

Ein Ritter im Kettenhemd trat hervor. Er trug eine lederne Haube. In seiner rechten Hand hielt er halbhoch ein poliertes Schwert mit schwarzem Griff. Ein ungepflegter Bart zierte das Gesicht. Darüber stierten Winfried dunkle Augen an.

„Wer bist du?“

„Ich wohne hier. Lasst den Mann los.“

Da trat ein stämmiger Kampfgefährte des Ritters hervor, und fuchtelte mit seinem Schwert vor Winfrieds Brust umher.

„Rede nicht lange mit diesem Bauerntölpel, Petrus. Stechen wir ihn endlich ab. Dann holen wir uns, was wir gebrauchen können, und dann verschwinden wir. Es gibt noch andere Höfe wo was zu holen ist.“

Petrus Riebe drehte sich kurz zu seinem Gefährten um.

„Nachher, Konrad. Ich bin hier noch nicht fertig. Ich glaube wir haben hier einen Bauern, der es nicht versteht einem Ritter Respekt zu zollen.“

Petrus Riebe war ein stolzer Adeliger. Ungern sah er es, wenn sich ein Bauer gegen ihn auflehnte. Schließlich war er nicht irgendein Ritter, sondern ein Verwandter des Ritters Hermann Riebe, welcher als Statthalter des askanischen Herzogs Albrecht II. fungierte. Der Herzog weilte nämlich derzeit am Hofe von König Rudolf von Habsburg, dem Patenkind Kaiser Friedrich II. Mit Hermann Riebe hatte Albrecht II. einen Hauptmann für seine Truppen eingesetzt, wie er fähiger hätte nicht sein können. Hermann Riebe war weise, fromm und milde. Die Ritter und Knechte dienten deshalb gern unter seinem Schilde. Jeder Fürst wäre froh gewesen, so einen Mann als Hauptmann seiner Truppen zu haben.

Aber Petrus war nicht wie sein Verwandter geartet. Ihn trieb es von seiner Ritterburg in die Umgebung hinaus um zu rauben, zu plündern und zu vergewaltigen. Darin sah er seine Bestimmung. Er und andere Ritter nutzten ergo die Abwesenheit des Herzogs aus, um sich zu bereichern. Für Hermann Riebe war es trotz seines guten Charakters eine undankbare Aufgabe, gegen seinen raubenden Verwandten vorzugehen. Dies stürzte ihn nämlich in einen Gewissenskonflikt. Petrus wandte sich wieder dem aufmüpfigen Bauern zu.

„Du hast hier gar nichts zu sagen. Das Einzige, was ich dir erlaube zu sagen ist, wo sich dein Säckel befindet.“

„Nichts bekommt ihr, ihr ehrlosen Räuber. An wehrlosen Mägden könnt ihr euch wohl in der Überzahl vergreifen, aber sonst seid ihr feige.“ Winfried schrie wütend die Worte.

Nachdenklich schaute der Ritter den Widerspenstigen an. Er war es nicht gewohnt, dass ein überfallener Dorfbewohner hartnäckig Widerstand leistete. Er erlebte es normalerweise, dass die Opfer jammerten, wimmerten und um ihr armseliges Leben flehten. Das mochte er, und das tat seinem Ego gut. Doch dieser Mann war anders. Er wehrte sich ohne Rücksicht auf seine Familie und sein eigenes Leben. Es galt daher ein Exempel zu statuieren.

„Welches ist dein Haus?“

Er erhielt keine Antwort. Dafür sammelte Winfried aus seinem Innersten den gesamten Speichel den er erreichen konnte, und zog ihn hoch. Mit voller Wucht spuckte er ihn dem Anführer der Räuber ins Gesicht. Der Speichel rann von dessen Augen und dem Bart langsam hinunter. Der Gedemütigte war von diesem Gefühlsausbruch so überrascht, dass er zuerst nur still dastand. Seine Augenlider verengten sich gefährlich zu schmalen Schlitzen. Alle Dorf­bewohner sahen ängstlich zu Winfried hinüber. Dazu hatten sie allen Grund.

Petrus Riebe wischte sich den Speichel aus dem Gesicht. In den Augen war purer Zorn zu lesen. Dann ging es schnell. Seine Fäuste droschen auf den Wehrlosen ein. Es ging so lange, bis Winfrieds Gesicht blutig verschmiert war. Einer seiner wenigen Zähne fiel heraus.

„Das geschieht allen, die sich mir widersetzen. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, ihn zu töten. Wer es weiterhin wagen sollte, sich mir zu widersetzen, den werde ich mit meinem Schwert durchbohren. Haben wir uns verstanden? Jetzt gebt mir eure Barschaft. Aber schnell. Und zeigt mir endlich, welches Haus diesem unvorsichtigem Trottel gehört.“

Keiner wagte sich mehr gegen die gewalttätigen Männer aufzulehnen. Gehorsam folgten sie den Anweisungen. Sie ließen Walter bewusstlos liegen. So sah Winfried nicht, wie sein Haus in Flammen aufging. Das trockene Holz und Reet brannte schnell herunter. Oberhalb der hohen hellen Flammen stieg schwarzer Qualm wie eine Drohung gen Himmel und war weithin sichtbar.

Dann durchsuchten die Räuber intensiv alle Höfe des Dorfes. Deren Besitzer ließen die Stärkeren gewähren. Doch sie trugen nicht viel heraus. Gering war die Beute der Raubritter. Deshalb machten sie sich bald auf den Weg nach Nordosten. Genauso schnell wie sie gekommen waren, ritt Petrus Riebe mit seinem Gefolge von dannen. Die Räuberbande ließ eine wütende und trauernde Dorfgemeinschaft zurück. Jolanthe lief sofort zu ihrem Mann und kümmerte sich um den Verletzten. Gernot, ein hagerer Bauer, trat zu Eckhard.

„Es tut mir leid.“

„Was nützt das jetzt. Unser Hof ist niedergebrannt und unser Haus und alles Eigentum verbrannt. Für dein Mitleid kann ich mir nichts kaufen.“

„Deine Verbitterung ist verständlich. Wenn wir dir helfen können, so lass es uns wissen.“

Wütend starrte Eckhard auf den hageren Mann.

„Spare dir dein falsches Mitleid. Vorhin hätte mein Vater eure Hilfe gebraucht. Aber ihr feigen Leute habt nur ängstlich daneben gestanden und alles geschehen lassen. Danke, aber wir brauchen eure Hilfe nicht. Macht euch von dannen.“

„Du tust uns Unrecht. Du weißt genau, dass jeder der aufbegehrt hätte, sofort getötet worden wäre. Auch du hast nur untätig danebengestanden und nicht deinem Vater in der Gefahr geholfen. Also werfe uns nicht Feigheit vor, wenn du selber feige warst.“

Diese Worte trafen Eckart schwer, doch beinhalteten sie auch eine gewisse Wahrheit. Dies konnte Eckhard nicht leugnen. Auch er war feige gewesen. Aber was geschehen war, war nicht mehr zu ändern. Wortlos stand Eckhard da. Nachdem der erste Zorn abgeschwächt war, fragte Gernot weiter. Der Rauch stieg ihnen in die Nase.

„Was werdet ihr jetzt tun?“

„Ich werde erst mal meinen Vater pflegen. Und dann sehen wir weiter.“

In den nächsten Tagen erholte sich Winfried. Die Schwellungen im Gesicht gingen zurück. Genächtigt hatten sie bei Gernot. Aber dies war kein dauernder Zustand. Eine langfristige Lösung musste gefunden werden. Hinzu kam noch, dass Jolanthes Niederkunft sich durch die Aufregung des Überfalles beschleunigt hatte. Vorzeitig kam sie nieder und gebar einen Sohn, genau wie ihr der benässte Weizenhaufen geweissagt hatte.

Gernot, Winfried, Eckhard und andere Männer saßen bei einem Krug Met beisammen, um die Zukunft zu besprechen. Gernot hatte um eine Zusammenkunft aller Bauern gebeten.

„Wir bauen euer Haus wieder auf. Alle Bewohner von Lutowe werden euch helfen. Die Arbeit auf den Feldern ist bis auf die Aussaat fast getan. Das bekommen wir schon hin. In wenigen Wochen könnt ihr wieder unter einem eigenem Dach nächtigen. Schließlich sind wir ein Dorf, und helfen uns gegenseitig.“

Winfried hatte sich in den letzten Tagen viele Gedanken gemacht. Dann hatte er sich zu einem Entschluss durchgerungen, den er Jolanthe und den Kindern schon mitgeteilt hatte. Lediglich die Nachbarn wussten es noch nicht.

„Danke für euer Angebot, doch braucht ihr nicht zu helfen. Das Haus wird nicht wieder aufgebaut werden. Wir ziehen von hier weg.“

„Wie bitte? Aber … wo wollt ihr denn hin?“ Ungläubig hatte Gernot die Worte vernommen.

„Wir gehen nach Mulne. Ich war gestern in der Stadt und habe mit meinem Bruder Gregor gesprochen. Wir können vorerst bei ihm wohnen, bis wir ein eigenes Haus inmitten der Stadt beziehen können.“

„Aber warum?“ Gernot konnte es nicht glauben.

„Ach, weißt du“, Winfried beugte sich nach vorne, „ich habe in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht. So ein Überfall kann immer wieder geschehen. Diesmal sind wir noch gut davongekommen. Sie haben nur meinen Hof abgebrannt. Aber das nächste Mal kann es für mich, meine Kinder oder meine Frau tödlich enden. Adelheid ist bald in dem Alter, in dem sie die Blicke der Burschen auf sich zieht, sodass sie geschändet werden könnte. Das will ich ihr ersparen. Gudrun war mir eine Warnung. In der Stadt ist sie eher davor geschützt. In der Stadt kann sie auch Arbeit als Magd finden. Darüber hinaus, sieh doch was mir mein Palisadenzaun und der Graben genützt haben. Nichts, rein gar nichts. Nein, Gernot. Ich habe lange darüber nachgedacht, und bin zu dem Entschluss gekommen in die Stadt zu ziehen.“

Eine Pause entstand, in der Gernot das Gehörte erst einmal verdauen musste.

„Was wird aus deiner Hufe?“

„Deswegen wollte ich mit dir sprechen. Ich werde am Tag herauskommen und meine Äcker bearbeiten. Pflügen, säen, ernten. Alles wird normal weitergehen. Nur nach der vollbrachten Arbeit werde ich wieder in die Stadt zurückgehen. Nur dafür bräuchte ich deine Hilfe. Ich wollte dich bitten, den Ochsen und die anderen Tiere bei dir unterzubringen, weil ich sie nicht mit in die Stadt nehmen kann.“

Gernot zögerte, was Winfried nicht verborgen blieb. Er scheute die Mehrarbeit. Gernot hatte selbst schon genug zu tun, und das Leben als Bauer war wahrlich nicht einfach. Deshalb versuchte Winfried ihm seine Bitte schmackhafter zu machen. Er wusste auch schon, wie er den Freund locken konnte.

„Du sollst auch dafür mit einem Drittel der Milch, der Eier und des Fleisches belohnt werden, wenn das Viehzeug geschlachtet wird. Bist du damit einverstanden?“

Einen kurzen Moment war Gernot unschlüssig, doch dann blitzte es in seinen Augen auf, und er roch schon das zusätzliche Fleisch, welches ihm beschieden sein würde. Ein guter Braten lockte immer. Winfried hatte darauf spekuliert. Mit einem Lächeln gab Gernot deshalb Winfried seine Hand darauf, und der Handel war getätigt, wie es unter Männern üblich war.

Zwei Tage später durchschritt Winfried mit seiner Frau und seinen fünf Kindern das südlich gelegene Steintor, das extra valvam stendore. Es war gerade erst fertiggestellt worden. Gregor hatte als Zimmermann mit daran gearbeitet. Zuerst mussten die Neuankömmlinge über eine Holzbrücke am Vortor gehen. Darunter lag der äußere Wallgraben. Dahinter lag rechts vom Weg gelegen das erste Gebäude, in dem die Wache untergebracht war. Unmittelbar daneben schloss sich der imposante runde Zwingerturm mit seinem kreiselartigen und spitz zulaufenden Dach an. Der Zwingerturm war kurz unterhalb des Daches mit mehreren Fenstern versehen, die als Schießscharten dienen sollten.

Gleich dahinter schloss sich das hoch gebaute Außentor an, durch das eine vollbeladene Karre gelangen konnte. Darauf folgten drei Gebäude auf der rechten Seite, zwei davon als Torbuden bezeichnet, und das hintere wurde als Torfstall benutzt.

Hinter diesem Wall folgte der Innengraben, der wiederum von einer Brücke überspannt war.

Ein weiteres Tor folgte, welches den Namen Innentor trug. Daneben waren entlang des Innengrabens mehrere Wehrtürme in verschiedenen Formen erbaut worden. Darunter befanden sich kleine, auch hohe runde, auch eckige Türme sowie ein vierkantiger Turm.

Die Familie durchschritt an den Wachen vorbei all diese Tore ungehindert und gelangte in die Bleystrate, in der ihr neues Zuhause sein sollte. Freudig wurden sie von Gregor begrüßt. Er zeigte den Neuankömmlingen ihren Raum. Es mochte zwar für sieben Leute eng sein, doch sollte dieser Zustand ja nicht ewig dauern.

Gregor betonte, wie froh er sei, dass Mulne endlich über eine wehrhafte Anlage mit Gräben, vielen Türmen und einer Stadtmauer verfügte, die Überfälle erschweren, wenn nicht sogar unmöglich machen würde. Winfried konnte dem nur zustimmen, da das ja auch der Grund dafür war, warum er von Lutowe nach Mulne umzog.

Am nächsten Sonntag gingen fast alle Bürger der Stadt in die St. Nikolaikirche. Aber nicht jeder fand dort Platz wo es ihm beliebte. Es gab in der Stadt eine Rangfolge der Stände. Es war undenkbar, dass ein Bauer neben einem Patrizier stehen konnte. Das war in der Kirche nicht anders. In den vorderen Reihen standen die Familien der Honoratioren der Stadt. Danach folgten die Stände der Handwerker. Erst hinten fand sich das übrige Gesinde wie Bauern, Mägde und Knechte wieder. Bänke oder Stühle gab es keine, sodass alle während des Gottesdienstes stehen mussten.

Eckhard stand neben seinem Vater und Adelheid. Winfried lauschte der Predigt des Pfarrers Ludulfus, in der es um die Auslegung der zehn Gebote ging. Voller Inbrunst und innerer Überzeugung schmetterte Ludulfus seine Worte in den hohen Raum des Kirchenschiffes hinaus, die von den Wänden widerhallten. Doch Eckhard hörte die Worte trotzdem nur halb. Mit seinen Gedanken war er überall und nirgends. Langeweile hatte ihn ergriffen, sodass er sich nach der Beendigung des Gottesdienstes sehnte. Deshalb wanderte sein Blick umher. Zu auffällig durfte er dies allerdings nicht tun, weil er sich sonst Schelte seines neben ihm stehendem Vaters zugezogen hätte. Zwischen den Köpfen der vor ihm stehenden hindurch erblickte er viele weiße Hauben der Fräuleins, welche diese trugen.

Plötzlich war hinter Eckhard ein polterndes Geräusch zu vernehmen, worauf einige Leute neugierig ihre Köpfe nach hinten wandten. Aber Eckhard nicht. So sah er, dass eine junge Frau mit ihrer weißen Haube auch ihren Kopf wandte.

Für einen kurzen Moment sah er in das schönste Gesicht welches er je gesehen hatte.

Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Und dieser kurze Moment sollte ausreichen.

Danach sehnte er sich umso mehr, dass der Gottesdienst beendet sei. Er musste sie kennen lernen. In den wenigen Wochen, seit er in der Stadt wohnte, war sie ihm noch nicht begegnet. Aber nach der Kirche wollte er sie ansprechen. Für Kopfzerbrechen sorgte allerdings der Umstand, dass sie weit vorne stand, und somit zu den besser gestellten Ständen gehörte. Er dagegen war nur ein Bauernsohn. Doch war ihm das egal. Er musste sie wiedersehen, egal auf welche Widerstände er treffen würde.

Als der Gottesdienst beendet war, leerten sich zuerst die vorderen Reihen. Sie hatten ein Anrecht darauf. Eckhard und seine Familie mussten warten, bis sie an der Reihe waren, obwohl sie näher am Ausgang standen. Deshalb hatte er Gelegenheit, seinen Blick weiterhin wie gebannt auf die Dame seines Herzens zu richten. In dem Moment, als sie vorbei ging, schweifte auch ihr Blick in seine Richtung. Für einen Moment trafen sich wieder ihre Blicke.

War das ein Lächeln gewesen? Sein Herz mochte nahezu zerspringen.

Bald darauf war die Kirche geleert, und er streckte den Hals angestrengt, um einen Blick auf seine Angebetete zu erhaschen. Aber sie war schon die Treppe zum Marktplatz herunter­gegangen.

„Geht nur schon nach Hause, Vater. Ich komme nach.“ Diese Worte raunte er Winfried zu, während er am Rande des Menschenstroms die Treppe hinuntereilte. Aus dem Augenwinkel sah er gerade noch , wie sie rechts zum Ziegenmarkt den Hügel hinunter entschwand. Er eilte hinterher, so schnell wie er konnte, doch dann sah er sie nicht wieder. Wohin war sie entschwunden? Nach rechts oder links? Hatte sie ein Haus der Seestrate betreten?

Es nützte nichts. Nach einer endlos wirkenden Zeit des Herumirrens gab er auf und ging in die Bleystrate zurück.

In den folgenden Wochen hatte Eckhard keine Zeit mehr, sich um den Verbleib des Fräuleins zu kümmern. In der Kirche hatte er sie an den Sonntagen auch nicht mehr erblicken können, auch wenn sein Blick ruhelos suchend umherwanderte. Täglich gingen er und sein Vater nach Lutowe, und erst abends zur Dämmerung kehrten sie nach harter körperlicher Arbeit durch das Steintor zurück. Allein, sie ging ihm nicht aus dem Kopf.

Seit Tagen war in diesem Sommer eine Gauklertruppe in der Stadt. Es war schon etwas Besonderes für die Bürger. An Kurzweil und Ablenkung vom harten Alltagsleben gab es sonst nicht viel. Daher waren die Darbietungen willkommen. Nachdem der Gottesdienst vorbei war, stellte sich die Truppe in der Mitte des Marktplatzes auf. Sofort wurden sie von einer großen Zahl von Bürgern umringt. Voller Freude verfolgten die Menschen mit offenen Mündern und voller Begeisterung die Attraktionen. Eine ältere Frau in einem knallbunten Kleid hatte den Reigen mit einer farbenprächtigen Vorstellung begonnen. Trotz ihres Alters verstand sie sich graziös zu bewegen, und während ihrer Verrenkungen ein langes Band in immerwährende schlangenartig sich windenden Schwingungen zu versetzen. Sie hatte noch gar nicht geendet, da gesellten sich zwei Jünglinge dazu, die um sie herum im Kreise auf Händen liefen, ohne abzusetzen.

Als die Frau geendet hatte, gesellte sich zu der bunten Truppe ein Flötenspieler hinzu, der es verstand, seinem Instrument schöne Melodien zu entlocken.

Bald waren die Menschen von der Unterhaltung eingenommen. Welche Abwechslung dies doch in der Abfolge der alltäglichen Tristesse war. Strahlende Augen überall.

Der Flötenspieler hörte auf, während eine Gruppe Artisten in der Mitte erschien. Vier Männer stellten sich nebeneinander auf, ihre Arme jeweils auf die andere Schulter des Nachbarn legend. Dann kamen drei weitere schlanke Artisten dazu, die sich breitbeinig auf die Schultern der vier unteren stellten. Die beiden Jünglinge, die vorher auf Händen gelaufen waren, krabbelten behände an der Vorderseite empor und stellten sich auf die drei. Ein wenig wackelte darauf die Konstruktion, doch behielt sie die Form, weil die untersten Männer es verstanden, das Gleichgewicht zu halten. Auf die Spitze der Pyramide kletterte zum Abschluss ein junger Mann, der sich jubelnd mit weit ausgebreiteten Armen von der applaudierenden Menge feiern ließ.

Die Pyramide löste sich auf, während ein Mann mit langen Beinkleidern auf Stelzen erschien. Ein wenig wackelnd stolzierte er auf dem Marktplatz umher. Öfters jauchzten die Männer und Frauen auf und führten die Hand – in Erwartung eines baldigen Sturzes – vor den Mund. Aber dieser blieb aus. Der Mann verstand es geschickt, das Gleichgewicht zu halten. Währenddessen gingen kleine Mädchen der Gauklertruppe mit Holzschalen herum und sammelten bare Münzen für ihre Vorstellung ein. Sie wurden gerne gegeben, da es den Menschen gefallen hatte.

Eckhard folgte lächelnd mit seinem Blick den Mädchen beim Geldeinsammeln. Da verharrte seine gleitende Bewegung.

Dort drüben stand sie. Auch ihr Blick war herumgewandert und haftete mit einem Mal auf ihm. Sie lächelte. Es war ihm selbstverständlich, dass dieses herzerfrischende Lächeln nur ihm gegolten haben konnte. Wie sein Herz auf einmal einen Sprung machte.

Eckhard verfolgte, wie sie ein paar Worte mit ihrer ebenfalls hübschen Freundin sprach, die neben ihr stand. Er sah, wie beide kicherten, wie es nur Mädchen können. Beide trugen sie ihre weißen Hauben. Seine Angebetete sah daraufhin kurz zu ihm hinüber und lächelte wieder. Aber dieses Lächeln endete abrupt, weil sie sich umdrehte und in der hinter ihr stehenden Menge verschwand, während ihre Freundin stehen blieb und den turnenden Männern zuschaute, die nun ihre Radschläge, Überschläge und turnerischen Übungen darbrachten. Zwei Fräuleins übten sich im Spagat. Mit weniger Freude an diesen Kunsttücken sah er der Gauklertruppe zu. Warum war sie fortgegangen?

Sofort war seine nie gänzlich erloschene Sehnsucht wieder völlig entbrannt. Es verlangte ihn nach ihr, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Natürlich hatte er schon viele Mädchen gesehen, die auch hübsch waren. Sicherlich war ihm auch bewusst, dass sein Vater es gerne gesehen hätte, wenn er Gudrun aus Drusen geehelicht hätte, aber obwohl sie nicht hässlich war, empfand er eben nichts für Gudrun. Das war für ihn entscheidend. Dann wollte er doch lieber warten, bis die richtige Frau kam, die sein Herz berührte. Und das schien diese unbekannte Schöne zu sein. Aber sein Traum war wieder zerplatzt, weil sie einfach verschwunden war. Er musste seufzen und sah zu, wie die Artisten ihre Kunsttücke vorführten.

„Bist du auch so gelenkig?“

Galten diese Worte ihm? Es war der süße Klang einer jungen Frau. Aber es konnte unmöglich ihm gelten, sondern eher einem der vielen, die hinter ihm standen.

„Bist du etwa mit Taubheit geschlagen?“

Mit einem Mal beschlich ihn das Gefühl, dass die Worte doch an ihn gerichtet waren. Unsicher drehte er sich um und sah geradewegs in das niedlichste Gesicht, welches sich ihm jemals offenbart hatte. Sie war es und lächelte in dieser verfänglichen Art, der er schon in der Kirche erlegen war. Aber auch eine Spur Frechheit und Verschlagenheit war nicht zu übersehen. Es war der Blick, der Frauen und Männern zu eigen ist, die es gewohnt sind ihren Willen durchzusetzen und zu bekommen, was sie begehren. Es war unüblich, dass eine Frau einen Mann ansprach. Es ziemte sich nicht, und das war genau das, was Eckhard sprachlos machte. Er fand nicht die richtigen Worte, so überrumpelt fühlte er sich.

„Du scheinst außerdem mit Stummheit gestraft zu sein. Wahrlich eine arme Seele bist du. Welche körperlichen Gebrechen quälen dich denn noch?“

Da wurde Eckhard bewusst, dass sie mit ihm spielte. Sie neckte ihn, weil sie bemerkt hatte, welche Wirkung sie auf ihn hinterlassen hatte. Aber er fand sich nicht gerne mit der Rolle des Opfers ab. Da er auch nicht auf den Mund gefallen war, gelang es ihm bald seine Fassung wieder zu erlangen und verstand es nun geschickt, mit ihrem Spiel mitzuhalten.

„Nein, ich bin nicht mit der Blindheit und Stummheit geschlagen, dafür habe ich aber ein anderes Gebrechen. Es ist das Gebrechen, von einer holden Jungfer bezaubert zu sein. Dadurch sind meine Glieder wie gelähmt, und ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich kann nur noch starren und mich an der Schönheit ergötzen. Bin ich nun weiterhin deines Mitleides sicher? Dann wäre mir unendlich wohler. Und solltest du dich sogar auf die Heilkünste verstehen und mich von meinem Leiden heilen, so wäre mein ewiger Dank dir gewiss.“

„Kaum ein Ritter versteht es, gefälligere Schmeicheleien so gekonnt von sich zu geben. Ich bin arg beeindruckt.“

Sie sah sich kurz um, um gleich darauf Eckhardt eine Aufforderung leise zuzuraunen.

„Lass uns von hier verschwinden.“ Sie lösten sich aus dem Pulk, dessen Lücken sofort hinter ihnen geschlossen wurden. Die Bürger sahen lieber den Artisten zu, als den balzenden Tönen junger Leute zu lauschen. Als sie abseits standen, hielt der Bauer das Fräulein auf.

„Was hast du vor? Wo willst du hin?“

„Wo wir ungestört sind. Folge mir.“

Sie gingen die kurze schmale Schrangenstrate hinab. Als sie an dem rechts gelegenen Haus des carnifex, des Knochenhauers vorbei kamen, drang ihnen der intensive Geruch von frischem und altem Blut entgegen. Sie liefen den Hügel weiter hinab, und dann die Pinnowerstrate entlang. Das Pinnower Tor war zwar noch nicht gänzlich vollendet, dennoch harrten am Tor zwei Wachmänner und kontrollierten diejenigen, welche in die Stadt wollten. Da dies Tor noch neu war, und nicht an der Hauptstrecke gelegen, waren es nicht viele Leute, die an dem Tor Einlass begehrten. Für die Wachmänner war es stets ein ruhiger Dienst. Als die beiden durch das Tor schritten, ließen sie zwei schmunzelnde Wachmänner zurück.

Ihr Weg führte sie weiter an dem Bach entlang, bis sie linker Hand den Hegesee vor sich liegen sahen. Dort fanden sie einen entwurzelten Baum, auf den sie sich setzten. Sie schwiegen beide und sahen auf den See hinaus. Die Vögel zwitscherten in den Wipfeln der Bäume um sie herum. Nach einer Weile drehte Eckhard den Kopf zu ihr und sah sie an. Er war unfähig, den Blick von ihr zu wenden. Dann begann sie zu reden.

„Hier komme ich öfters alleine hin. An dieser schönen romantischen Stelle finde ich Ruhe. Warst du schon einmal hier?“

„Nein, das ist neu für mich. Ich bin bisher noch nicht aus Lutowe hinausgekommen. In Mulne wohne ich noch nicht so lange.“

„Ich weiß.“ Ein verschmitztes Lächeln durchzog ihr Gesicht. Ein wenig peinlich berührt gestand sie: „Ich habe nämlich Erkundigungen über dich eingeholt. Natürlich bin ich dabei dezent vorgegangen.“

„Ach ja? Und was war das Ergebnis dieser Erkundigungen? Warst du zufrieden?“

„Das Ergebnis siehst du daran, dass wir hier sind.“

Ein größeres Lob hätte sie ihm nicht geben können. Da wurde ihm bewusst, dass er noch nicht einmal ihren Namen kannte.

„Wie heißt du eigentlich?“

„Ich bin Agnes, Tochter des Kämmerers.“

Blitzartig baute sich vor Eckhard eine zwar unsichtbare doch schier unüberwindbar scheinende Wand auf. Die Wand, welche Standesunterschied hieß. Er war zwar noch nicht lange in der großen Stadt, wusste dennoch, dass Agnes eigentlich unerreichbar für einen Bauernsohn wie ihn war. Ein schwerer Kloß machte sich in seinem Hals breit.

Die Bewohner der Stadt waren eigentlich in zwei Klassen aufgeteilt. Das hatte sich in den Jahren herausgebildet. Es war zum einen die der Patrizier, welche aus den Kaufleuten, den Handwerkern und den sonst gewerbetreibenden Bürgern hervorging. Zu der anderen gehörten die Arbeitsleute, Bauern sowie die Mägde und Knechte.

Eckhard fasste sich mutig ein Herz und trug ihr die Frage vor, die ihn bedrückte.

„Bist du jemandem versprochen?“

Wie erleichtert war er, als sie ihm ein Lächeln schenkte.

„Nein. Mein Vater Bruno hätte es wahrlich gern gesehen. Durch sein Amt kennt er all die Kaufleute, Ratsherren, Gutsbesitzer und Adeligen der Grafschaft. Sogar Ritter sind darunter. Viele buhlen um seine Gunst. Sogar bis nach Lubecke gehen seine Verbindungen. Er hat mir schon öfters zu wissen gegeben, dass einige wohlhabende Herren um meine Hand anhalten würden. Es würde mir wahrlich zum Vorteil gereichen, und um mein Auskommen müsste mir nie bange sein. Aber er weiß auch, dass er mir das nicht vorschreiben kann. Niemals würde ich mich zu einer Hochzeit zwingen lassen. Ich will selbst entscheiden, wem ich mein Herz schenke. Nenne mich ruhig aufrührerisch, doch so bin ich nun einmal.“

Sie redeten so lange, bis die Baumwipfel im Westen von der untergehenden Sonne berührt wurden, und ein langer Schatten sich über den See ausbreitete. Dann gingen sie wieder durch das Pinnower Tor zurück in die Stadt, bevor bei Sonnenuntergang das Tor für die Nacht geschlossen werden würde.

Sobald sich für Agnes und Eckhard die Möglichkeit ergab, trafen sie sich am Hegesee. Der Platz wurde für sie ein Hort der Ruhe, der Zweisamkeit und des Glückes.

An einem milden Abend saß Eckhard nach der Feldarbeit alleine am Tisch im Hause seines Onkels. Winfrieds Familie wohnte immer noch in dem engen Raum, weil er noch kein bezahlbares Haus gefunden hatte. Und so, wie es augenblicklich in Winfrieds Beutel aussah, würde die Familie entgegen der ursprünglichen Absicht noch lange in dieser Enge wohnen müssen.

Langsam trat Gregor an den Tisch heran und beugte seinen Kopf zu Eckhard herunter, der in Gedanken versunken den Kopf geneigt hielt.

„Darf ich mich zu dir setzen?“

„Ja …ja … natürlich.“

„Du bist ja so verwirrt und scheinst mit deinen Gedanken in einem fernen Land zu weilen.“

„Mit meinen Gedanken bin ich beileibe in keinem fernen Land. Im Gegenteil. Meine Gedanken sind so nah innerhalb dieser Mauern.“

„Dann kann es nur die Liebe sein.“

Wie ein beim Diebstahl erwischter Knabe, sah Eckhard plötzlich auf. Sogleich nahm er eine abwehrende Körperhaltung ein. War er so leicht zu durchschauen?

„Ich bin nicht verliebt.“

„Oh doch, das bist du. Streite es nicht ab. Ich sehe es dir an deinen Augen an. Außerdem munkelt man in der Stadt, dass du mit der Tochter des Kämmerers gesehen wurdest, als ihr durch das Pinnower Tor geschritten seid, wie zwei Verliebte. Vergiss nicht, Mulne ist nicht so eine große Stadt wie Lubecke, wo einer den anderen nicht kennt. Hier weiß jeder über den anderen Bescheid, und so wird viel gemunkelt. Also Junge, schütte mir dein Herz aus.“

Eckhard war irgendwie erleichtert, dass er einmal mit jemandem darüber reden konnte, was ihn bedrückte. Er erzählte ihm die Geschichte mit Agnes, und das er sich nichts sehnlicher wünschte, als sie zu ehelichen.

„Aber du glaubst doch nicht, dass der Kämmerer seine Tochter einen Bauern zum Weib geben würde, vor allem, wenn sie einen ehrbaren Mann gehobenen Standes haben könnte.“

„Sie sagt, ihr Vater wäre voller Verständnis für ihre Wünsche.“

„Ja sicher. Ich glaube ihm, dass er sie nicht zwingen wird, einen anderen zu heiraten. Dafür liebt er sie zu sehr. Aber wenn er ihr auch viele Freiheiten gewährt, so wird bei einem Bauern die Grenze der Freiheiten erreicht sein. Das ist es, was mich so bedrückt.“

„Und das ist es was mich zermürbt.“ Eckhard sah wieder nach unten. „Ich liebe sie über alles, doch sehe ich keinen Weg, sie heiraten zu können. Ich bin froh, wenn der Ertrag der Hufe ausreicht, unsere Familie ernähren zu können. Niemals wird sie einen Bauern wie mich heiraten dürfen. Er wird nicht zulassen, dass seine Tochter nach Misthaufen stinkt, und ich bin mir darüber hinaus auch nicht sicher, dass es für Agnes das ist, was sie sich wünscht und begehrt. Ihre Hände sind so zart, und der harten Hofarbeit völlig ungewohnt.“

Gregor lehnte sich zurück und dachte nach. Unverhofft richtete er sich auf und hob den Kopf des Verzweifelten an.

„Ich habe da eine Idee. Was wäre, wenn Agnes’ geliebter Freier kein Bauer, sondern ein Handwerker einer angesehen Zunft wäre, dessen Säckel bald nicht zu den leersten gehörte?“

Verwundert sah Eckhard ihn genau an.

„Wie meinst du das? Von welchem Nebenbuhler sprichst du?“

„Ganz einfach: von dir. Du gehst bei mir und meiner Zimmermannszunft in die Lehre. Danach kannst du Frau und Familie ernähren. Du siehst doch, dass es mir nicht schlecht geht. Handwerkern geht es in Mulne nicht schlecht. Ich biete dir also an, Zimmermann zu werden. Morgen werde ich mit den anderen meiner Zunft sprechen. Einem Zimmermann und Handwerksgesellen wird er eher seine Tochter zum Weib geben als einem verarmten Bauern. Der Beruf ist gut angesehen. Was sagst du dazu?“

Eckhard konnte es nicht glauben. Wenn dem so wäre, so hätte ein gemeinsames Leben mit Agnes eine Zukunft. Allerdings würde dies einige Jahre dauern, doch wäre es nicht das Problem. Das eigentliche Problem wäre ein anderes, sein Vater Winfried.

„Wenn dies machbar ist, so wäre ich der glücklichste Mensch der Welt. Doch sehe ich das Problem darin, dies deinem Bruder klarzumachen. Er wünscht sich, dass ich von ihm die Hufe übernehme. Darauf hat er sich stets verlassen, und es würde mir leid tun, ihn enttäuschen zu müssen.“

„Hm“, Gregor kannte seinen Bruder nur zu gut. Eckhards Einwand war nicht von der Hand zu weisen. Aber da kam ihn eine weitere Idee. „Du hast doch noch zwei Brüder. Gut, der jüngste ist zwar noch ein Säugling, aber Thomas ist schon vierzehn Jahre alt. Er könnte Bauer wie dein Vater werden. Thomas ist doch ein geschickter Junge. Wenn du als Erstgeborener dein Recht auf die Hufe abtrittst, und Thomas dies übernehmen will, so sehe ich keine unüberwindlichen Schwierigkeiten. Ich werde mit deinem Vater reden.“

„Aber wir haben auch noch nicht über die Lehrzeit und das Lehrgeld gesprochen, welches ich doch bestimmt zu entrichten habe. Wie viel ist es denn?“

Gregor schmunzelte über die Weitsicht seines Neffen. Er ging auf dessen Frage ein, und versuchte ihn gleichzeitig zu beruhigen.

„Sicherlich wirst auch du dem Meister ein Lehrgeld zahlen müssen Es sind zur Zeit dreißig Mark. Es ist Brauch, sollte der Lehrling nicht in der Lage sein das Lehrgeld zu entrichten, so verlängert sich die Lehrzeit um ein Jahr. Ich weiß was du meinst. Sicherlich ist ein Lehrling ein gutes Geschäft für den Meister. Deshalb darf ein Meister auch nicht mehr als zwei Lehrlinge auf einmal haben, damit nicht die Lehrlinge umsonst die ganze Arbeit tätigen. Die eigentliche Lehrzeit ist also drei Jahre. Aber mach dir mal darüber keine Gedanken. Solltest du nicht in der Lage sein, das Lehrgeld zahlen zu können, so wird dein alter Oheim dir einen Kredit gewähren.“

Gregor erzählte seinem Neffen, wie es ihm in seiner Lehrzeit und danach ergangen war. Auch für ihn war es eine schwere und harte Zeit gewesen. Es war nie leicht, sich hochzuarbeiten und dann noch anerkannt zu werden. Denn die soziale Trennung zwischen Lehrling und Gesellen wurde bei den Zimmerleuten, und andere Zünften auch, streng gehandhabt.

Als Gregor die Gesellenprüfung bestanden hatte, durfte er sich nicht mehr mit den Lehrjungen abgeben. Sollte er dagegen verstoßen, so musste er eine Strafe in der Höhe eines Wochen­lohnes bezahlen, was für ihn viel Geld war. Darauf hatte Gregor peinlichst geachtet.

Gerade bei den Zimmerleuten gab es genaue Vorgaben. Dem Altgesellen war auch als Geselle Folge zu leisten, denn er vermittelte auch die Arbeitsstellen. Der Meister kündigte ein Arbeitsverhältnis persönlich, was er nur am Sonntag beim Mittagessen tat. Danach musste der Geselle jedoch noch vierzehn Tage bleiben. Jedoch, kündigte der Geselle selber, so durfte er in Mulne keine Arbeit mehr annehmen und musste sein Glück in der Wanderschaft suchen. Gregor warnte seinen Neffen noch davor, nach neun Uhr in der Nacht das städtische Bier Lauke zu trinken, denn die Gesellen sollten am nächsten Arbeitstag wieder erholt sein. Die Arbeitszeit war für die Zimmerleute im Sommer lang. Sie ging von vier Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Darin war jeweils eine Stunde Frühstücks- und Mittagspause enthalten. Allein der Sonntag war frei, damit sie in die Kirche gehen konnten.

Eckhardt hatte aufmerksam zugehört und versprach, seinen Oheim nicht zu enttäuschen.

„Das weiß ich, mein Junge. Du wirst es auch schaffen. Auch ich habe es geschafft, auch wenn es wahrlich nicht leicht war. Doch jetzt werde ich deinen Vater aufsuchen, und mit ihm über Thomas sprechen. Keine Angst, er wird schon auf meinen Vorschlag eingehen.“

Sofort erhob sich Gregor und verließ den Raum, um nach Winfried zu suchen.

„Aber wenn er …“

Mehr brachte Eckhard nicht hervor. Sein angefangener Einwand verhallte ungehört. Er kannte seinen gutherzigen Onkel und wusste nur zu gut, das er stur sein konnte, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Das war die Eigenschaft gewesen, die aus Gregor, der eigentlich als Bauernsohn aus Lutowe stammte, einen angesehenen Zimmermann mit Grundbesitz gemacht hatte. Stur und zielstrebig, so war er.

Der Kämmerer saß in seiner Amtsstube und überprüfte die Rechnungen. An den Wänden standen hohe Regale, welche mit Pergamentrollen gefüllt waren. Fein säuberlich waren sie sortiert und geordnet. In diesen waren die Einnahmen und Ausgaben der Stadt verzeichnet. Der Rat wünschte bei der nächsten Stadtratssitzung einen genauen Bericht über die finanzielle Lage der Stadt. Brunos Aufgabe war es nun, die Summe der Rechnungen zu addieren. Ach, wie viel einfacher waren doch die neu eingeführten arabischen Zahlen. Vor sechzig Jahren hatte der damalige Kaiser Friedrich II., ein höchst gebildeter und gegenüber dem Neuen aufgeschlossener Herrscher, ein neues Zahlensystem in seinem Heiligen römischem Reich deutscher Nation eingeführt. Bis sich diese neue Rechenart in den entferntesten Winkeln seines Reiches durchgesetzt hatte, war viel Zeit vergangen, denn in den Amtsstuben der Städte und Klöster war man dem Neuen nicht so zugetan. Aber die Kaufleute, bei denen die Zeit sich in barer Münze auszahlte, hatten den Nutzen, den sie von dem beschleunigten Rechenvorgang hatten, schnell erkannt, und so war die neue Art, zu rechnen, nicht mehr aufzuhalten.

Bis dahin wurde nur mit römischen Zahlen gerechnet. Es war schwer, diese Kolonne von Zeichen zu addieren. Wie sollte man beispielsweise MMCXI und CVI zusammenzählen? Die Zahlen mussten umständlich und zeitraubend von den Kämmerern und Notaren auf den Abacus übertragen werden. Auf dem Abacus wurden die Zehnerkügelchen von links nach rechts, und von rechts nach links geschoben, um sie dann je nach Notwendigkeit zu addieren, zu dividieren oder zu multiplizieren. Dann hatte eines Tages der aus Pisa stammende Leonardo Fibonacci beim Kaiser vorgesprochen. Er hatte von seinen Reisen aus Arabien und Indien einen Vorschlag mitgebracht. Danach wurde jeder Zahl ein unverrückbares Zahlzeichen zugeordnet. Es galt von eins bis neun. Die nulla figura wurde durch ein Loch in Form eines Kreises dargestellt. So konnte er Einer-, Zehner- und Hunderterwerte darstellen. Auf einer Pergamentrolle hatte er dem Kaiser bei seiner Vorstellung die Zahl 807 dargestellt. Als er erwähnte, dass jede beliebige Zahl, die darunter stehen würde, leicht zu addieren oder abzuziehen sei, jubelte Friedrich II. vor Entzücken. Die neue Schreibweise würde eine schnellere Übersicht vermitteln, und die Stärke seines Heeres sei leichter zu berechnen. Allein die Arbeit der Kämmerer im gesamten Reich würde enorm vereinfacht werden.

So war es auch. Auf einer Liste hatte Bruno alle Zahlen fein säuberlich untereinander aufgeführt. Er war gerade dabei die Zahlen zu addieren, als er unversehens in seiner konzentrierten Arbeit unterbrochen wurde.

Die Tür öffnete sich leise, und hinter der schweren Eichentür lugte ein weiblicher Kopf hervor. Zwar hatte dieser Kopf die gängige weiße Haube auf, doch erkannte Bruno sofort, um wen es sich dabei handelte. Es konnte nur seine lebenslustige Tochter sein. Und es wurde ihm bewusst, dass sie etwas wollte. Denn sie hatte schon als kleines Mädchen immer die Angewohnheit gehabt, ihren Vater in seiner Scrivekamere aufzusuchen, wenn sie von ihm etwas dringend begehrte. Es war für sie immer alles so dringend und unaufschiebbar, dass sie damit nicht warten konnte, bis er zu Hause war. Für einen Aufschub fand Agnes nie die Gelassenheit und die Geduld. Das kannte er nur zu gut. Aber sie war nun einmal seine Tochter, die er über alles liebte. Deshalb lächelte er Agnes sogleich an.

„Was ist denn nun so dringend?“

„Nichts, ich bin nur gekommen, um dich zu besuchen.“

„Und das soll ich dir glauben?“

„Natürlich. Wie könntest du daran zweifeln?“

„Agnes!“ Bruno dehnte ihren Namen in die Länge, mit einem warnenden Unterton.

„Na ja“, druckste sie herum. „Es gäbe da etwas, womit du mir eine große Freude machen könntest. Du willst mich doch glücklich sehen, oder?“

„Da weißt du doch. Aber lass’ uns reden, wenn ich nach Hause komme. Ich habe zu tun.“

„Vater, ich bin doch extra hergekommen. Das musst du verstehen. Es ist so wichtig für mich und erlaubt keinen Aufschub. Bis heute Abend kann ich wahrlich nicht mehr warten.“

„Sicherlich geht es um Leben und Tod, Agnes?“

„Natürlich“, erregte sie sich voller Inbrunst, als wenn eine andere Antwort völlig unsinnig wäre.

Seines Widerstandes beraubt und erneut von seiner Tochter entwaffnet, legte Bruno seinen Schreibgriffel zur Seite. Er lehnte sich zurück.

„Also Tochter, was ist dein Begehr?“

„Vater, ich weiß das du es gerne sehen würdest, wenn ich heiraten würde. Doch all die Bewerber haben mich bislang nicht im Herzen berührt. Doch nun habe ich den Mann meines Lebens kennen gelernt, und er will mich ehelichen.“

„Ist es der Bauer“, unterbrach Bruno, Unheil ahnend, „mit dem du gesehen wurdest?“

„Ja, aber bevor du dich aufregst und gleich abwinkst, solltest du wissen, das Eckhard ein fleißiger Mann ist, bei dem ich es gut haben werde. Er wird für mich sorgen.“

„Willst du in einem Schweinestall schlafen?“ Brunos Worte klangen ruhig.

„Das ist es ja, Vater. Er will nicht länger Bauer sein. Er fängt eine Lehre als Zimmermann an. Sein Onkel Gregor, der in der gleichen Zunft ist, hat ihm den Weg geebnet. Danach wird er genug verdienen, um für uns ein Haus bauen zu können. Ich bitte dich darum, solange von anderen Heiratsplänen abzusehen, bis Eckhard und ich heiraten können.“

„Und du bist dir sicher, solange warten zu können?“

„Sicher Vater. Das werde ich.“

„Das ehrt dich, doch weiß ich um deine Ungeduld. Ich sehe darin die Gefahr. Wahrscheinlich wird dir die Zeit des Wartens zu lange, und du wirst dich inzwischen neu verlieben. Mein Großvater Prabislaw hatte dereinst zehn Jahre auf seine Frau Helene gewartet, während sie in Geiselhaft weilte. Zehn Jahre waren damals eine lange Zeit, und sind es noch heute. Doch da er sie so sehr liebte, hat er es geschafft. Wahre Liebe kann Berge versetzen. Aus diesem Grunde möchte ich dich nicht zu einer standesgemäßen Hochzeit zwingen, die du verab­scheust. Ich kenne dein Wesen und weiß, dass du dabei wie eine gepflückte Blume ohne Wasser verwelken würdest. Es steht dir eine schwere Zeit bevor, das solltest du wissen und nicht vergessen. Bist du dir absolut sicher, diesen Weg gehen zu wollen?“

„Ja Vater, da ich ihn liebe.“

Bruno nickte, während er aufstand, und wusste, als er ihr in die Augen blickte, dass sie die Standfestigkeit haben würde. Anscheinend war es ihr wirklich ernst. Jedoch war er froh darüber, dass Eckhard den Ehrgeiz besaß, mehr aus seinem Leben zu machen. Das beruhigte ihn. Angesichts dieser Überlegungen gab es nur eine bedingte Zustimmung.

„Wenn dein Eckhardt die Durchhaltekraft besitzt, die für sein Vorhaben von Nöten sein wird, so werdet ihr meinen Segen haben. Sollte er jedoch ein einfacher Bauer bleiben, so werde ich dich in wenigen Jahren standesgemäß verheiraten. Das ist mein letztes Wort.“

Voller Glück umarmte Agnes ihren Vater. Tränen der Freude liefen ihr an den Wangen herab.

„Er wird dich nicht enttäuschen. Das verspreche ich. Danke, Vater.“

Sogleich rannte Agnes davon, um ihrer Mutter die frohe Botschaft zu verkünden.

„Dieses Kind, ach je, dieses Kind.“ Ein langer Seufzer folgte.

Kopfschüttelnd setzte sich Bruno wieder hin und nahm seinen Schreibgriffel in die Hand. Dann beugte er sich wieder über seine Liste und begann neu zu rechnen.

Nahezu fünf Jahre sollte es dauern, bis Agnes und Eckhard ihre Hochzeit feiern konnten. Sie mussten für ihre Ehe viele Opfer bringen. Wie zu erwarten war, wurde es für Eckhard eine schwere Zeit, die er letztendlich doch bewältigte.

Gegen die Plage des Raubrittertums wurde endlich auf breiter Front etwas unternommen. Im Landfrieden zu Rostock vom 13. Juni 1283 wurde unter dem askanischen Herzog Johann von Sachsen als Haupt des Bündnisses für eine tatkräftige Truppe gesorgt. Es waren die Fürsten von Pommern und Rügen, Herren von Werle, Mecklenburg und Rostock, der Graf von Schwerin und die Städte Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald, Stettin, Demmin und Tanslim beteiligt. Vor allem die Hansestädte waren der ständigen Überfälle auf die Kaufleute überdrüssig und wollten die Handelswege sicherer wissen. Sollte keine friedliche Lösung zu realisieren sein, so sollten die Vertragspartner ihre festgelegten Kontingente zur Hilfe schicken. Demnach hatten die Städte einhundertfünfzig Reiter zu stellen, und es war ihnen freigestellt, statt weiterer fünfzig Reiter tausend Mark lübsch beizusteuern. Die Fürsten und Herren kamen wiederum den Städten mit vierhundert schweren Reitern zu Hilfe. Für je sechs Hufen Land war jeweils ein Reiter abzustellen. Jeder war vertraglich verpflichtet, Hilfe bei Bedrohung des anderen zu leisten. So sollten die Straßen sicherer werden.

Sollte gegen diese Vereinbarungen verstoßen werden, so wurde zuerst die Erfüllung angemahnt, und im Wiederholungsfall drohte sogar ein Angriff der Bündnispartner. Ziel war es, jeden Räuber seiner gerechten Strafe zuzuführen und letztendlich zu hängen.

Am Tag der Enthauptung des St. Johannes, dem 29. August 1288, traf ein ähnliches Schicksal den Petrus Riebe in Lubecke. Nachdem er verurteilt wurde, folgte der Galgen. Aber damit war die Angelegenheit für Herzog Albrecht II noch nicht erledigt. Albrecht II hatte nämlich auf den Rat des Hermann Riebe gehört, und den Fehler begannen, dem flüchtigen Räuber Petrus Unterschlupf zu gewähren. Dies schrie nach Vergeltung.

Dazu vereinigten sich am 16. Oktober des folgenden Jahres die Städte Lübeck, Hamburg, Wismar und Lüneburg gegen Albrecht II. Nach dem Winter zogen sie gen Racisburg. Um die Racisburg von allen Seiten angreifen zu können, bauten sie viele Prähme, flache Kähne. Darauf wurden Fußtruppen transportiert. Außerdem schossen sie mit ihren Bliden, das waren Wurfmaschinen für Steinkugeln. Doch trotz ihrer unermüdlichen Angriffe vermochten sie nicht, Albrecht II . in seiner Burg zu ergreifen.

Auch wenn das Landfriedensbündnis nicht des Herzogs habhaft werden konnte, so hatte der Abschluss des zweiten Landfriedens vom 1. Januar 1291 doch einen Erfolg zu verbuchen. Herzog Johann war nicht mehr daran beteiligt, weil er sechs Jahre zuvor verstorben war. Das Ziel des neuen Bündnisses war nämlich die Zerstörung der Ritterburgen. Doch kam es zu einer Vereinbarung zwischen dem Landfriedensbündnis und Hermann Riebe und seinem räuberischen Anhang, welche unter anderem den freiwilligen Abbruch von Teilen der Befestigungsanlagen der Ritterburgen Wehningen und Walerwo, welche dem Grafen von Dannenberg gehörten, beinhaltete. Klocksdorf, Karlow und Schlagsdorf aus dem Gebiet des Bistums Racisburg traf es ebenfalls, genau wie die Ritterburgen Mustin, Dutzow, Borstorf, Linau und Nannendorf.

Dies schürte allerdings nur den Hass der Adeligen, die daraufhin Fehde schworen.

Möllner Zeiten

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