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Kapitel 5

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Der fremde Mann

1350

Die Sonne stand schon tief und würde in einer Stunde am westlichen Rand des Sees die Baumkronen berühren. Rudolf warf trotzdem noch seine Angelschnur in den Wassergraben neben dem Steintor aus. Er war nicht alleine. Neben ihm saß sein bester Freund Arnulf. Auch er hielt seine Angel gelangweilt in das Wasser. Bisher hatte noch kein Fisch angebissen. Vielleicht lag es am Köder? Sie hatten Regenwürmer am Ufer des Molner Sees ausgegraben. Aber noch wollten beide nicht aufgeben. Einmal – es mochten schon viele Wochen her sein – da hatten beide Jungen die grätenreichen Brassen an dieser Stelle geangelt. Schweigsam saßen die Freunde nebeneinander und starrten auf den Stadtgraben hinab.

Da hörte Rudolf, wie eine von einem alten Gaul gezogene Karre neben ihm, aber noch vor der Brücke, anhielt. Das war nichts Ungewöhnliches, denn ständig verkehrten hier Fuhrwerke und brachten Waren in die Stadt oder aus ihr heraus. Die Karre quietschte und klapperte auf dem unebenem Boden wie jede gewöhnliche Karre eines Händlers oder Bauern.

Aber diese Karre hatte eine andere Ladung als Salz, Getreide oder Tücher. Ein älterer Mann entstieg ihr. Er trug eine kunstvoll verzierte Kiste, die aber äußerst schwer wirkte, denn er mühte sich ab, sie von der Karre zu heben. Polternd und Staub aufwirbelnd glitt sie kurz vor seinen Füßen zu Boden. Stöhnend richtete er sich aus seiner gebückten Haltung auf und fasste sich, begleitet von einem schmerzverzerrten Gesicht und einem herausgekrächzten „Arrrghh“, an den Rücken. Der Bauer trieb seinen Ochsen derweil an, und der Karren fuhr weiter.

Dann winkte er überraschend Rudolf und Arnulf zu, die beide den Vorgang aufmerksam verfolgten. Neugierig folgten sie dem Wink und legten vorher ihre Angeln ab.

„Gottes Gruß.“ Artig begrüßten sie den Fremden mit der üblichen Ansprache.

„Wenn ich ihn sehe, werde ich ihn gerne von Euch grüßen.“

Üblicherweise war es Sitte, auf den Gruß mit Gottes Dank zu antworten. Angesichts der ungewohnten schelmenhaften Art der Grußerwiderung sahen sich die Freude jedoch verdutzt an. Rudolf fand als Erster die Worte wieder.

„Fremder Herr, was ist euer Anliegen? Ihr habt uns zu euch gewinkt. Womit können wir euch dienen?“

„Ihr seid ja zwei kräftige Knaben. Da seid ihr genau die richtigen Träger für mich. Wollt ihr meine Kiste tragen?“

Die Freunde sahen sich kurz an, nickten und wandten sich wieder dem Fremden zu.

„Aber natürlich. Nur, Herr, müsst ihr uns sagen, wo wir sie hintragen sollen.“

„Das werde ich, doch zuerst müsst ihr mir sagen, in welcher Herberge gut zu nächtigen ist. Außerdem muss ich noch zu einem Apothekermeister. Könnt ihr mir auch dabei einen empfehlen?“

Arnulfs Augen blitzen auf.

„Oh ja, zufällig befindet sich am Marktplatz eine Herberge, die auch einem Apotheker gehört. Seine Stube mit den Arzneien und Kräutern ist im gleichen Haus. So habt ihr beides unter einem Dach.“

„Das hört sich gut an. So lasset uns sogleich aufbrechen, damit ich mich beim Apotheker versorgen kann. Die Reise ist mir nicht gut bekommen. Seitdem ich unterwegs bin, fühle ich mich krank und unwohl.“

Nach diesen Worten musterten die Jungen den alten Mann genauer. Er trug keinen Hut. Sein Haar war fast weiß, und das Unwohlsein stand ihm im Gesicht geschrieben. Falten zeichneten sich schon ab. Aber dennoch war in seinen Augen etwas zu erkennen, was den Jungen von erst dreizehn Jahren noch unbekannt war. Die Augen des Fremden blitzten manchmal trotz seiner Krankheit und seines Alters auf. Es war dann ein Leuchten in ihnen, die ein schelmisches Wesen verrieten. Die Intelligenz war dann nicht zu übersehen.

Gekleidet war der Fremde mit einem dunkelblauen normalen Wams mit Kragen. Der Wams war in einem ordentlichem Zustand. Ein sauberes weißes leinenes Hemd lugte unter den langen Ärmeln hervor.

An den Beinen trug er eine weite Spießgesellenhose, die in zwei vertikal laufenden Farben genäht war. Die Enden verschwanden dann in zwei braunen Wildlederstiefeln, die vorne sehr spitz zuliefen. Zusammengefasst war der fremde Herr gut gekleidet, und schien anhand seiner Kleider, welche aus gutem Stoff waren, nicht gerade zu den Ärmsten zu zählen.

„Dann ist es besser, wenn wir euch gleich zu der Herberge bringen“, resümierte Rudolf. „Seine Stube mit den Heilmitteln ist wohl schon geschlossen, denn es ist schon spät. Doch bin ich sicher, dass er sie für euch öffnen wird. Der Apotheker verabscheut nämlich keinen zusätzlich verdienten Taler.“

„Dann zeigt mir den Weg.“

Die beiden Jungen hoben zusammen die Kiste auf. Sie war jedoch so schwer, dass sie sie nach wenigen Schritten ebenfalls polternd fallen ließen.

„Bei Gott“, fluchte Rudolf. „Was zum Teufel habt ihr denn in der Kiste? Sie ist so schwer, als wenn sie bis oben hin mit Goldmünzen gefüllt wäre. Habt ihr etwa euren ganzen Reichtum in dieser schönen Kiste?“

Der fremde Mann beugte sich umsichtig zu den Jungen herunter, und flüsterte ihnen etwas zu. Dabei war er bedacht, dass niemand – auch nicht die Wachen, die unweit an der Brücke standen – von seinen Worten etwas mitbekam.

„Versprecht mir, niemandem etwas davon zu sagen. Euch aber will ich es kundtun. In dieser Kiste befindet sich mein gesamtes Vermögen. Passt also gut darauf auf. Wir wollen doch nicht, dass üble Räuber mir alles stehlen, oder?“

Wie selbstverständlich stimmten die Jungen ein, als wenn es nichts anderes geben würde.

„Aber natürlich, mein Herr. Ihr könnt sicher sein, dass ich euren Schatz wie meinen Augapfel hüten werde.“ Rudolf nickte inbrünstig.

Erneut hoben die Freunde die schwere Kiste hoch, und nun ging es besser vorwärts. Gemeinsam passierten sie die Brücke und die Wache, welche den Fremden kurz kontrollierte, und durchschritten anschließend das Innentor. Als sie sich auf der breiten Hauptstraße befanden, wurde beiden die Kiste erneut zu schwer. Sie mussten sie für einen Moment auf dem lehmigen Boden der Hauptstraße absetzen.

„Verehrter Herr, verzeiht, doch müssen wir einen Moment verschnaufen.“

Völlig erschöpft, und mit schmerzenden Armen, welche sich anfühlten als wenn sie gar einen ganzen Klafter13 in die Länge gezogen worden wären, hockten sich die Knaben auf die Kiste, und pusteten schwer.

„Euer … Schatz … ist … wahrlich … schwer“, sagte Rudolf, der immer noch gierig nach Luft hechelte.

„Du sagst es. Mancher Reichtum kann schon eine große Bürde und schwere Last sein. Wenn ihr wieder bei Kräften seid, so lasst uns weiter gehen. Ich sehne mich nach der Kunst des Apothekers.“

„Gleich, mein Herr. Die Kräfte kommen bald wieder. Doch sagt uns inzwischen, wenn es kein Geheimnis ist, was euch nach Molne trieb.“

Da war er wieder, dieser schelmische Blick des Fremden, den Rudolf schon vor dem Steintor aufgefallen war. Doch der Fremde antwortete nicht schelmisch, sondern ernsthaft.

„Mir wurde Molne empfohlen. Ich suchte einen ruhigen und friedlichen Platz. Wenn ich mich hier umsehe, so meine ich ihn gefunden zu haben.“

„Sicherlich“, schnell redete Arnulf dazwischen, weil er den Grund dafür zu wissen meinte, „braucht ihr einen ruhigen Ort zum Ausruhen, nach eurer langen Reise.“

Der Blick des Fremden klärte sich auf, doch die Worte die nun folgten waren nicht diejenigen, welche die Knaben erwartet hatten.

„Wisst ihr, ich habe schon viel gesehen. Ihrer zahlreich sind die Städte, durch die ich gekommen bin. Es sind Namen von Städten und Ländereien darunter, von denen ihr sicherlich noch niemals gehört habt. Doch das allein ist es nicht. Sicherlich bedarf es der Ruhe für mich nach den langen Reisen. Doch ich benötige Ruhe für lange Zeit. Und dies ist der eigentliche Grund meiner Reise. Ich suche eine ruhige und friedliche Stadt zum Sterben. Und wenn ich mir diese wohlhabende Stadt hier genauer ansehe, die großen Häuser mit ihren reich verzierten Türen und Giebeln, so meine ich den Ort gefunden zu haben, welcher mir ewigen Frieden für alle Zeit geben kann.“

Verdutzt sahen sich die Freunde an. Dies hatten sie nicht erwartet.

„Aber“, stammelte Rudolf, „ist nicht jeder Ort gleich gut zum Sterben? Vorausgesetzt Gott meint, die Zeit wäre gekommen euch heimzurufen.“

„Weit gefehlt. Ich bin durch Orte gekommen, da wollte ich schon nach wenigen Stunden wieder weg. Und schon gar nicht die Ewigkeit dort verbringen. Hier jedoch fühle ich mich heimisch. Doch jetzt lasst uns weitergehen. Nennt mir noch eure Namen.“

Arnulf erhob stolz das Wort.

„Dies ist Rudolf, und ich bin Arnulf. Und wie sollen wir euch rufen?“

„Nennt mich Dyl.“

Die Jungen hoben die Kiste an und trugen sie den Berg hinauf, bis sie den Marktplatz erreicht hatten. Auf ihm herrschte kein reges Treiben mehr. Der Markttag war zu Ende. Der Bäcker baute seinen Stand ab, ebenso der Obsthändler. An seinem Schrangen hatte der Knochenhauer seine fleischige Ware schon auf seine Handkarre geladen.

Die Knaben trugen die Kiste zu einer Herberge. An der Tür prangte neben dem Herbergsschild noch ein weiteres, welches den Besitzer außerdem als Apotheker auswies. Die drei betraten den Raum. Sogleich trat aus dem Nebenraum, der mit einem Vorhang abgetrennt war, ein kleiner schmächtiger Mann hervor. Listige Augen lugten oberhalb der spitzen Nase hervor. Einzelne Haarsträhnen, die auf seinem fast kahlen Kopf vereinsamt wirkten, hingen wirr durcheinander.

Der Apotheker Werinhard war für seine Schläue und seinen Hang zum Neckischen bekannt.

„Was kann ich für euch tun?“

Werinhards neugieriger Blick war kurz auf die verzierte Truhe gerichtet, welche mit lautem Geräusch unsanft von den Jungen abgestellt wurde. Sein geübter Blick verriet ihm sofort, dass er einen wohlhabenden Fremden vor sich hatte. Bei dem Fremden war viel zu holen. Dies konnte er für seinen Säckel ausnutzen. Aber da war noch sein uneingeschränkter Hang zur Neckerei. Für einen kurzen Moment zuckte sein linker Mundwinkel.

„Ich brauche eine Medizin für mein Unwohlsein. Und ein Zimmer benötige ich.“ Dyl war wahrlich nicht wohl. Er sehnte sich nach einem Ruhelager.

„Oh, ihr seht leidlich krank aus“, erkannte Werinhard mit einem Klang seiner Stimme, die voll von Mitleid war. „Ihr habt sicherlich Fieber. Euch kann durch mich geholfen werden. Ich habe ein wohliges Zimmer für euch, in dem ihr euch erholen könnt. Und die passende Arznei habe ich wohl. Seht hier in diese Büchse. Von dem pulvrigen Inhalt fülle ich diesen Becher halbvoll. Mit Wasser aufgefüllt wird es die richtige Medizin sein. Gleich morgen wird es euch wieder besser gehen.“

Dyl nickte und folgte Werinhard, der mit dem Becher in der Hand voranschritt. Die Knaben folgten den Männern mit der schweren Truhe die Treppe hinauf. Sie stellten erschöpft die Truhe ab. Werinhard gab Dyl den Becher zu trinken, welcher den Inhalt in einem Zug hinunterstürzte. Dann bettete er den Kranken der Länge nach hin. Sofort schloss Dyl seine Augen und fiel in einen tiefen Schlaf. Werinhard warf noch einen kurzen Blick auf die Truhe, entschied sich dann aber dafür, die beiden Dreizehnjährigen zur Tür zu begleiten. Sie ließen den Apotheker wissen, dass sie gleich morgens wieder erscheinen würden, um sich nach dem Zustand des Dyl zu erkundigen.

„Wenn es denn sein muss!“ Werinhard war darüber wenig erfreut. Er schob die Freunde unsanft auf den schon dunklen Marktplatz hinaus und schloss die Tür.

Dyl erwachte irgendwann in der Nacht. Er hatte keine Ahnung wie spät es war; in seinem spärlich eingerichteten Zimmer herrschte absolute Dunkelheit. Sofort ergriff ihn wieder das Unwohlsein. Er fasste sich an die Stirn. Die Arznei des Apothekers hatte nicht geholfen. Aber nicht seine Schmerzen im Kopf hatten ihn geweckt. Es war etwas anderes, welches er noch nie so stark verspürt hatte.

Da war es wieder. In seinem Unterleib rumorte es, und der unwiderstehliche Drang sich sofort zu entleeren hatte ihn ergriffen. Noch nie war der Drang so stark bei ihm gewesen. Da erinnerte er sich an die Medizin, welche der Apotheker ihm verabreicht hatte. Aber darum wollte er sich später kümmern. Zuerst war es am Wichtigsten das Haus zu verlassen, um sich der drückenden Last zu entledigen. Eilig verließ er das Zimmer und ging unsicher die Treppe herunter. Trotz der Dunkelheit, in der er die Gegenstände nur schemenhaft erkennen konnte, fand er bald die Tür. Doch sie ließ sich nicht öffnen. Sie war abgeschlossen, und der Schlüssel abgezogen. Er torkelte genervt zur Rückseite des Hauses. Dort fand er auch eine Tür. Doch auch diese war versperrt. Furcht machte sich in ihm breit. Was nun, fragte er sich? Sein zielloser Gang führte ihn in den Raum, in dem der Apotheker seine Arzneien deponiert hatte. Da sah er die Büchse, aus der Werinhard das Pulver genommen hatte. Dyl hob sie hoch, ging zum Fenster und las im fahlen hereinscheinenden Mondlicht, welches durch das Fenster herein schien: Purgatz.

Oh, was für ein Schelm, dachte sich Dyl. Auf seinen vielen Reisen hatte er Purgatz als äußerst starkes Abführmittel kennengelernt. Und dieses hatte Werinhard ihm verabreicht, und somit Schabernack mit ihm getrieben. Dyl liebte es selbst Schabernack zu treiben. Aber es war nur allzu menschlich, dass man nicht selber gern das Opfer war. Lieber war er derjenige, der seinen Spaß hatte und trieb. Dyl lächelte verschmitzt, als er sich seiner Hose entledigte und die geöffnete Dose zwischen seine Backen hielt. Es war allerhöchste Zeit, denn es hatten sich schon Bauchschmerzen angezeigt. Als sich Dyl entleerte, tat er dies mit folgenden Worten:

„Hier kam die Arznei heraus, hier muss sie wieder hinein. So verliert auch der Apotheker nichts, da ich ihm ja ohnehin keine Münzen geben kann.“

Dyl legte den Deckel wieder auf die prallgefüllte dampfende schwere Büchse und stellte sie wieder an ihren Ort. Dann schritt er entspannt und entleert wieder in sein Zimmer, und konnte sogleich zufrieden wieder einschlafen.

Als Dyl das nächste Mal erwachte, war es schon heller Tag. Er war dennoch nicht von alleine wach geworden. Fakt war, dass ein zornesroter Werinhard schäumend vor Wut in der Tür stand und ihn erbost anschrie.

„Du nichtsnutziger Landstreicher. Verschwinde von hier. Ich will dich nicht mehr sehen. Was fällt dir ein, meine Arznei zu ruinieren. Sofort hinaus!“

Dyl dagegen konnte sich nur schwerlich ein Lachen verkneifen und antwortete dem aufge­regten Mann in vollster Ruhe und mit einer Stimme, mit der er nicht nur Verwunderung über den Wutausbruch signalisieren, sondern sogar noch Lob erheischen wollte.

„Beruhigt euch, Herr. Ihr solltet mir dankbar sein. Ich verstehe eure Aufregung nicht. Zum einen habt ihr so am besten feststellen können, wie gut eure Arznei wirkt. Wir sollten dies jedem Bürger sofort mitteilen. Wenn sich dies kundtut, wird jeder bei Beschwerden zu euch kommen. Ihr werdet viel verdienen. Zum anderen müsst ihr mir noch dankbar sein, dass ich gar nichts von diesem wertvollem Pulver verschwendet hab. Jedes Körnchen befindet sich wahrlich noch in der Büchse.“

„Fort mit euch! Ihr wagt es noch Dank zu fordern?“

„Ihr wollt doch nicht einen kranken Mann fortjagen. Wo soll ich denn hin?“

„Oh doch, und ob ich euch hinauswerfe. Und nehmt eure Truhe sogleich mit. Keine Sekunde länger lasse ich euch in meinem Haus. Geht doch in das Heilig-Geist-Hospital, wenn ihr so krank seit, oder geht einfach zum Teufel. Mir einerlei.“

„Außerdem kann ich noch nicht gehen. Ich schulde euch noch Geld für die Medizin und das Nachtlager.“

„Verschwindet endlich. Ich will euer verfluchtes Geld nicht. Und jetzt hinaus!.“

Nur schwer konnte sich Dyl ein Lachen verkneifen. Aber das hätte Werinhard nur noch mehr aufgebracht. Dyl kannte die Unzulänglichkeiten der Menschen nur zu gut und wusste aus Erfahrung, dass er den Bogen nicht überspannen durfte.

Mühsam trug er die schwere Kiste die Treppe hinab. Werinhard half nicht dabei. Als Dyl durch die Tür schritt, wollte ihn der hinter ihm gehende Werinhard noch mit einem Fußtritt hinausbefördern. Doch Dyl wich flink aus, und Werinhard trat gegen den Holzrahmen. Ein Schmerzensschrei ertönte.

Dyl drehte sich um, weil er ein Lachen vernommen hatte. Da erblickte er Rudolf und Arnulf, die die Szene verfolgt hatten. Voller Häme verlachten sie den Apotheker, der wutentbrannt die Tür ohne ein weiteres Wort schloss

„Was ist denn mit dem alten Werinhard passiert? So wütend habe ich ihn noch nie gesehen. Das haben hier noch nicht einmal die Knaben mit ihren Streichen geschafft.“ Arnulf musste immer noch feixen.

„Ach, wisst ihr“, versuchte Dyl die Angelegenheit herunterzuspielen. „Ich wollte dem Apotheker nur helfen, Geld zu sparen. Und das war ihm auch nicht recht. So sind die Menschen eben. Doch sagt mir, wo das Heilig-Geist-Hospital ist. Dort werde ich nächtigen und gesundgepflegt werden. Tragt ihr wieder meine Truhe?“

„Natürlich, Dyl. Wir waren gerade auf dem Weg zu euch, weil wir uns nach eurem Befinden erkundigen wollten. Wir führen euch zum Heilig-Geist-Hospital in die Seestrate.“ Arnulf hob wichtig seine Brust hervor.

„Seht ihr, Jungens, so ist das Leben. Ich habe stets danach getrachtet und Gott allezeit gebeten, dass der Heilige Geist in mich kommen möge. Doch nun schickt Gott mir das Gegenteil: ich komme in den Heiligen Geist. Er bleibt außer mir, und ich komme in ihn.“

Die beiden Freunde hoben die Truhe auf und lachten angesichts des Wortspiels, welches Dyl von sich gegeben hatte. Sie kannten wohl den Spruch aus dem Johannes-Evangelium.

Vergnügt schritten sie mit der Truhe voran. Dyl folgte ihnen zum Hospital.

Dyl lag auf dem Bett. Eingefallen und müde war sein Gesicht. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Die Stimmen und Geräusche um ihn herum in dem Hospital störten ihn nicht. Seine Gedanken kreisten um eine ferne Person. Er hatte daher einen Wunsch. Damit gedachte er sich an seine zwei Freunde zu wenden. Langsam drehte er seinen Kopf zur Seite und blickte müde die Freunde an.

„Ihr seht, dass ich immer schwächer werde. So werdet ihr mir einen Gefallen tun?“

„Jeden den ihr wünscht, Herr.“

„Sendet eine Nachricht nach Cletlinge.14 Dort soll meine Mutter Ann Witcken benachrichtigt werden, dass ich hier im Sterben liege. Vielleicht wünscht sie mein Antlitz noch einmal zu sehen, und begibt sich auf die Reise.“

Rudolf, der wie Arnulf von dem Fremden bezaubert war, antwortete sogleich.

„Sofort werden wir einen Boten senden. Vertraut uns. Wir kümmern uns darum.“

„Ihr seid gute Jungen.“

Die Jungen rannten aus dem Hospital. Dyl fiel darauf in einen tiefen Schlaf.

Rudolf war ein intelligenter Junge. Da er des Schreibens nicht kundig war, lief er zum Schreiber der Stadt in das theatrum. Dort bat er ihn, ein paar Zeilen zu schreiben. Der Schreiber kam der Bitte nach und sorgte sogar dafür, dass ein Bote, der sowieso nach Süden aufbrechen wollte, den Brief einsteckte.

Täglich besuchten Rudolf und Arnulf den kranken Dyl. Wenn Rudolf dann abends zu Hause war, berichtete er beim Abendessen von den Erzählungen des Dyl. Weit war er demnach gereist. Er sprach von seinen Erlebnissen in Einbeck, Nürnberg, Magdeburg, Frankfurt, Bremen und vielen anderen Städten. Ein um das andere Mal lachten Arnulf und Rudolf herzhaft angesichts der lustigen Geschichten, in denen Dyl die Menschen dort zum Narren gehalten hatte. Dyl hatte demnach die Reden der Menschen dort allzu wörtlich genommen, womit er sich in einige brenzlige Situationen gebracht hatte. Ein um das andere Mal ernteten die Jungen daher wegen des Gelächters ernsthafte Blicke von den anderen Kranken und Beginen15 im Raum.

Aufmerksam hörte Rudolfs Vater zu. Er war nur ein einfacher Zimmermann. Seit Genera­tionen führte er die Familientradition fort, die sein Großvater Eckhart begonnen hatte. Der Vater hatte Sinn für lustige Geschichten, und hörte gerne zu.

Einige Tage vergingen, bis an einem trüben Tag mit Nieselregen eine Frau in das Hospital trat. Unsicher blickte sie sich um, bis sie den Gesuchten in einer Ecke fand. In ihren Augen lagen Trauer und Sorge. Trauer empfand sie wegen ihres Mannes Claus, den sie beerdigt hatte, und Sorgen um ihre Zukunft. Sie war eine arme Frau, die nicht wusste wie es weitergehen sollte. Sie war den weiten Weg aus Cletlinge gekommen, um von ihrem Sohn, den sie im Sterben wähnte, ein paar Münzen zu erben. Weinend fasste sie die Hand ihres Sohnes an.

„Mein lieber Sohn, wo quält dich denn die Krankheit?“

Da blitzte es wieder in den Augen des Dyl auf, und trotz seines kränklichen Zustandes war ihm der Schalk nicht abhanden gekommen. Er war noch bei klarem Verstand.

„Genau hier zwischen der Bettstelle und der Wand quält mich die Krankheit.“

„Ach mein lieber Sohn, sag deiner alten Mutter doch ein süßes Wort.“

„Honig, liebe Mutter. Honig ist ein süßes Wort. Bist du jetzt zufrieden?“

Ann ließ sich ihren Unmut über den Schalk ihres Sohnes nicht anmerken. Sie kannte seinen Sinn nur zu gut. Daher sprach sie von den zwischenzeitlichen Geschehnissen in Cletlinge.

„Du kannst dich sicherlich noch an den Abt Arnold Papenmeyer aus dem Aegidienkloster erinnern. Er war derjenige, der dich getauft hatte. Er ist auch schon von uns gegangen.“

„Siehst du“, scherzte Dyl. „Auch vor dem Klerus macht der Tod nicht halt. Und bald wird er mich ereilen.“

„Lieber Sohn, du hast ja viele Reisen als Wahrheitssager getan. Dann gib mir doch noch eine gute Lehre mit auf den Weg, bei der ich deiner gedenken kann.“

Dyl neigte langsam seinen Kopf zur Mutter hin und sprach belehrend wie ein Lehrer zu seinem Schüler. Dabei dämpfte er etwas die Stimme, als wenn diese Lehre so wichtig, geheimnisvoll und einzigartig sei, dass nur wenige Menschen von ihr Kunde haben sollten.

„Ich habe für meine liebe Mutter eine gute Lehre. Wenn du deine Notdurft verrichtest, so kehre am besten den Arsch von dem Winde weg. So kommt der Gestank nicht in die Nase.“

Allmählich ärgerte sich Ann über ihren Sohn. Bevor er sie aber noch mehr reizte, kam sie auf den eigentlichen Grund ihres Besuches zu sprechen.

„Lieber Dyl. Du weißt, dass ich dich liebe. Ich hoffe auch, dass ich dir nicht egal bin. Jetzt wo es zu Ende geht, so solltest du dein Gut verteilen. Ich bitte dich, mir von deinem Gut zu geben.“

„Weißt du, Mutter, wahrlich liebe ich dich. Aber du weißt doch, wer nichts hat, dem soll man geben, und wer etwas hat, dem soll man etwas nehmen. Und wie es sich mit meinem Hab und Gut verhält ist folgendermaßen: Mein Gut ist verborgen, sodass niemand etwas davon weiß. Bist du vom Glück gesegnet und findest etwas, was mir gehört, so magst du es nehmen. Ich gebe dir von meiner Habe alles, was krumm und was gerade ist.“

Seine Mutter verstand den Sinn der Worte nur zu gut. Es war von ihrem Sohn nichts zu erben. Sie war den ganzen weiten Weg aus dem Braunschweigischem Land gereist, und würde nun ohne eine wohlklingende Münze wieder abreisen. Schluchzend stand sie auf und verließ das Hospital. Sie war dermaßen enttäuscht, dass sie noch am gleichen Tag nach Cletlinge zu dem Wald Melme zurückreiste.

Rudolf und Arnulf hatten an diesem sonnigen Tag im Jahre 1350 wieder Dyl besucht. Auch diesmal hatte er wieder Geschichten erzählt. Gebannt hatten die Freunde gelauscht, denn lustig waren die Geschichten allemal. Er hatte gerade ein Erlebnis erzählt, in dem er damals in Helmstedt sich auf Kosten eines Bäckers vollgegessen hatte und der Bäcker Dyl auch noch auf eigene Kosten einen kranken Zahn ziehen ließ, als eine Begine an sein Bett trat.

„Lasst uns allein.“

Diese herrischen Worte waren an die Jungen gerichtet. Unsicher, ob sie dem Befehl folgen sollten, blickten sie Dyl hilfesuchend an. Er nickte.

„Geht, meine Freunde. Doch kommt bald wieder. Dann werde ich euch weiter von meinen vielen Reisen berichten.“

Die Knaben gehorchten und gingen aus dem Hospital. Sogleich setzte sich die Begine Adelheid auf seinen Bettrand. Sie hatte ein ernstes Gesicht aufgesetzt.

„Ich muss mit euch sprechen. Ihr wisst selber zu genau, dass eure Tage auf Erden gezählt sind. Damit ihr vor den Herrn treten könnt, ist es nötig, dass ihr das Abendmahl empfangt. Doch zuvor müsst ihr allerdings Reue und Leid wegen eurer Sünden empfinden. Dann könnt ihr auch zufrieden und süß sterben.“

Dyl schüttelte den Kopf.

„Da irrt ihr euch. Mein Sterben wird nicht süß sein, denn der Tod an sich ist bitter. Und warum soll ich heimlich beichten? Was ich in meinem Leben getan habe, das ist vielen Leuten in vielen Landen nur allzu gut bekannt. Wem ich Gutes tat, der wird auch gut über mich sprechen. Andersherum genauso. Wem ich Böses tat, der wird dies trotz meiner Reue verkünden. Also sei’s drum. Aber trotzdem will ich euch wissen lassen, dass ich drei Dinge unterlassen habe, und nicht tun konnte. Und dies ist das Einzige, was ich zutiefst bereue.“

Die Begine richtete ihren Oberkörper auf. Sie glaubte, den Todkranken zu ehrlicher Reue gebracht zu haben. Ein gewisser Stolz erhob sie innerlich, dass gerade sie es sein sollte, der er seine Reue zeigen würde.

„So sprecht doch. Was sind das für Dinge, die ihr unterlassen habt? Waren es gute oder böse?“ Ein wenig drängelte sie ihn zu seiner Reue. Dyl dagegen ließ sich nicht drängeln. Er lag auf dem Rücken, den Blick auf die schäbige Decke gerichtet, und sprach ruhig und langsam mit einem ernsthaften Ton.

„Wie ich schon sagte, waren es drei Dinge. Wie gerne würde ich das Versäumte nachholen. Wenn ich zum Einen in meinen jungen Jahren sah, dass ein Mann auf der Straße ging, dem der Rock lang unter dem Mantel heraushing. Dies ärgert mich noch bis heute, dass ich es unterlassen habe das heraushängende Stück abzuschneiden.

Des Weiteren sah ich einen Mann, wie er sitzend mit einem Messer zwischen seinen Zähnen stocherte. Oh, wie gern hätte ich ihm die Arbeit abgenommen und ihm das Messer vollends in seinen Hals gestoßen. Denn ein Messer ist – wie jeder weiß – eine tödliche Waffe, und nur jemand, der des Lebens müde ist und es beenden will, fuchtelt damit in seinem Mund herum. Wie gern hätte ich also dabei geholfen, sein Leben zu beenden. Dies bereue ich bis heute, nicht getan zu haben. Wie gern würde ich die Zeit zurückdrehen.“

Dyl seufzte hörbar und blickte weiter sehnsüchtig an die Decke.

Die Begine glaubte sich verhört zu haben. Redete der kranke Mann wirr? Vernebelte die Krankheit seinen Verstand? Erschrocken hörte sie Dyl von seiner dritten Reue berichten.

„Als Letztes bereue ich, nicht allen alten Frauen ihre Hintern zugenäht zu haben. Denn diese alten Weiber sind zu nichts mehr nütze, als das sie nur noch das Erdreich bescheißen, auf dem die Frucht steht.“

Die Augen der Begine verengten sich zu schmalen Schlitzen. Ihre Körperhaltung nahm die gleiche Stellung ein, wie sie eine Raubkatze kurz vor dem Sprung auf ein Opfertier einnimmt, welches es zu reißen gilt.

„Ihr sprecht wirr.“ Sie bemühte sich ruhig zu bleiben, doch fiel es ihr sichtlich schwer, ihn nicht empört zurechtzuweisen. „Das hieße gar, das auch ihr mir den Hintern zunähen würdet, wenn ihr gesund wäret, da ich schon über sechzig Jahre zähle.“

Dyls Augen blitzten trotz seines schlechten Zustandes auf. Er drehte seinen Kopf zu der erregten Beginne, und sprach im ruhigem Ton:

„Es tut mir wahrlich leid, dass es bisher noch nicht geschehen ist, aber in eurem Fall kann Abhilfe geschaffen werden. Ein paar Stiche mit der Nadel bekomme ich sicherlich noch hin. Wenn ihr also Nadel und Faden holen, und euer Hinterteil entblößen würdet, wäre ich euch recht dankbar. Dann könnte ich wenigstens ein Versäumtes in meinem Leben nachholen. So wäre mir das Sterben wirklich leichter.“

Die Augen der Begine glühten vor Zorn. Es war schwer für sie, sich im Zaum zu halten und den kranken Mann nicht vor Zeugen zu schlagen, wie sie es zu gern getan hätte.

Sie erhob sich vom Bettrand. Zornesrot war inzwischen ihr Gesicht angelaufen.

„Ich – ich weiß nicht was ich sagen soll. Euch soll der Teufel behüten. Aber vorher soll euch der Teufel holen, wenn ihr den alten Frauen so etwas antun wollt. Doch mich werdet ihr hier nicht mehr sehen. Dann sterbt eben ohne ehrlich empfundene Reue.“

Mit einem verschmitzten Lächeln verfolgte er, wie die aufgebrachte Begine wie eine Furie davonstob. Deshalb bekam sie nicht mit, wie Dyl ihr seufzend hinterherrief.

„Keine Begine ist so fromm, dass sie nicht, wenn sie zornig wird, ärger ist als der Teufel.“ Dann legte Dyl wieder sein Haupt auf das Lager und blickte schmunzelnd an die Decke.

Rudolf und Arnulf hatten die Begine weglaufen sehen. Neugierig schlichen sie wieder in das Hospital hinein und traten erneut an Dyls Lager. Sie blickten in ein zufriedenes Gesicht. Verwundert stellten sie ihrem todkranken Freund eine Frage.

„Sprecht, Herr. Warum ist die Begine so schnell davongelaufen?“

Wie der eines unschuldigen und unwissenden Kindes, welches keiner Fliege etwas zuleide tun könnte, war der Gesichtsausdruck des Kranken. Zur Bekräftigung zuckte er mit den Schultern.

„Ich weiß auch nicht, was in sie gefahren ist. Vielleicht muss sie ihre Notdurft verrichten, bevor ihr dies unmöglich ist.“ Dyl schmunzelte.

Die beiden Freunde jedoch sahen sich verständnislos an. Sie verstanden kein Wort.

Aber das war den Jungen dann auch egal, und so setzten sie sich wieder hin und lauschten einer weiteren Geschichte, die der fremde Mann von sich gab. In ihr erzählte er von einem Erlebnis, welches sich an der Saale zugetragen hatte. Dort hatte er sich als Seiltänzer versuchen wollen. Nachdem er mit seiner Kunst geprahlt hatte, wollten die Leute viel sehen. So ließ er sich von jedem bereitwillig einen linken Schuh geben, den er in einen Sack steckte. Mit dem vollem Sack war er dann oben an das Fenster des Hauses getreten, an dem das Seil angebracht war. Aber anstatt mit den Schuhen zu jonglieren, entleerte er den Sack voll Schuhe aus der Höhe. Sogleich stürzten sich die Leute auf die Schuhe und prügelten sich darum, weil jeder meinte, seinen eigenen Schuh erblickt zu haben, den ein anderer in der Hand hielt.

Die Freunde lachten über die lustige Geschichte. Aber Rudolf und Arnulf waren nicht blind. Sie sahen, dass Dyl das Erzählen sichtlich schwer fiel. Die Pausen wurden länger, und die Schwäche war an seinen müden Augen abzulesen. Bald ließen sie ihn allein, und Dyl fiel sofort in einen tiefen Schlaf.

Der zunehmend schlechtere Gesundheitszustand wurde nicht nur den beiden Jungen offenbar. Auch die Beginen sahen das Ende kommen. So befahl eine blonde und herzensgute Begine, nach dem Vikar des Hospitals zu rufen. Der Vikar Albert war ein frommer Mann und stets um das Wohl seiner Schäfchen bedacht. Aber er hatte einen Fehler. Zu sehr war er der Anziehungskraft des weltlichen Mammons erlegen.

So sprach er gleich zu sich, nachdem er gerufen wurde, dass Dyl sicherlich ein wohlhabender Mann sein müsse. Auf seinen vielen abenteuerlichen Reisen, von denen Vikar Albert inzwischen auch erfahren hatte, hatte der Kranke sicherlich viele Münzen sammeln können. Jetzt kam es dem Vikar in den Sinn, die Situation auszunützen, um einige davon abzuzweigen.

Vikar Albert wollte dem Todkranken die Beichte abnehmen. So sprach er zu Dyl:

„Lieber Dyl, wie ich hörte, habt ihr viele abenteuerliche Reisen unternommen. Da war es euch doch sicherlich vergönnt, Geld zu sammeln. Nun, wo euer Ende naht, so solltet ihr euch um euren Nachlass Gedanken machen. Bereut nun eure Sünden und gebt euer Geld einem zuverlässigen Mann wie mir. Ich werde wissen es zu Ehren Gottes einzusetzen. Ich werde euer mein Lebtag gedenken, und für euch Totengebete und Seelenmessen lesen.“

Dyl war erschöpft. Sein Körper war von der Krankheit gezeichnet, seine Kraft erloschen, und er war dem Tode nahe. Trotzdem funktionierte sein Gehirn noch ohne Einschränkungen.

Er war zwar todkrank, aber nicht dumm. Deshalb arbeitete er fieberhaft schnell einen Plan aus, mit dessen Hilfe er dem Vikar eine Lehre für seine offensichtlich zur Schau gestellte Gier verabreichen konnte. Er wusste sogleich, diese Gier des Vikars nach dem schnöden Mammon für einen Schabernack auszunutzen. Gerissen warf er seinen Köder aus.

„Eure Worte sind Balsam für meine geschundene Seele. Deshalb will ich an euch denken. Auch ihr sollt etwas von mir erhalten. Doch dafür müsst ihr aber am Nachmittag wiederkommen. Dann werde ich euch selbst ein Stück Gold in die Hand geben. Dessen könnt ihr gewiss sein. Glaubt mir, ihr werdet wegen meiner Freigebigkeit überrascht sein.“

Glücklich und voller Erwartung an den Nachmittag stolzierte Vikar Albert gleich davon. Die Abnahme der Beichte war ihm mit einem Mal nicht mehr so wichtig. Das musste Zeit haben.

Im Verlauf des Vormittags meldete sich Dyls Darm. In eine leere Kanne entleerte er sich. Zur Täuschung legte er einige Münzen oben drauf. Allein diese Vorbereitung kostete die letzten Kräfte, doch war dieser Schabernack es ihm wert. Erschöpft sank er auf sein Lager zurück.

Vor dem Hospital traf Vikar Albert zur angegebenen Stunde die beiden Freunde. Unfreundlich herrschte er sie an.

„Wo wollt ihr hin?“

„Zu unserem Freund Dyl. Wir wollen nach seinem Befinden sehen.“

„Jetzt nicht. Kommt später wieder. Ich nehme ihm die letzte Beichte ab. Ihr versteht es doch sicher, dass wir dabei allein sein müssen.“

„Ja, sicher verstehen wir das“, bestätigte Arnulf. „Geht es ihm denn wirklich so schlecht, dass er schon die letzte Wegzehrung benötigt?“

Vikar Albert deutete mit einem mitleidvollen Blick ein Nicken des Kopfes an.

„Oh ja, seine letzten Tage sind angebrochen. Geht nach Hause, und lasst mich mit ihm allein.“

Mit hängenden Köpfen trotteten die Knaben von dannen.

Vikar Albert dagegen betrat voller freudiger Erwartung das Hospital. Er sah den Goldklumpen schon vor seinem geistigem Auge. Ein Klumpen wartete zwar wohl auf ihn, doch sollte er nicht aus Gold sein.

„Hier bin ich. Ihr hattet mir etwas versprochen. Wollt ihr nun so gütig sein, und mir davon geben. Ich bin bereit, es zu empfangen.“

„Das freut mich. Doch möchte ich an eure Bescheidenheit appellieren. Seid doch nicht allzu gierig, um tief hineinzugreifen. Andere möchten auch noch davon haben.“

Dyl machte den Deckel der Kanne auf, und ließ den Vikar hineinsehen.

„Seht hier. Die Kanne ist voller Geld. Doch greift bescheiden zu. Ich bitte euch, nicht zu tief zu schürfen.“ Ihm war wohl klar, wie gierig Vikar Albert war.

„Macht euch keine Sorgen. Ich weiß mich zu beherrschen. So tief werde ich schon nicht greifen. Es wird noch was für andere übrigbleiben.“

Feierlich sprach der Vikar, und schon kreiste seine rechte Hand wie ein Geier über der erspähten Beute, die keine Chance hatte zu entkommen. Schnell glitt seinen Hand in die Kanne, um eine Handvoll des begehrten Metalls zu umschließen. Doch plötzlich stutze er. Etwas Nasses und Weiches hatte er ergriffen. Wie Geldmünzen fühlte es sich wahrlich nicht an. Sein Schrecken war riesengroß, als er die Hand zurückzog und auf dieser eine braune und stinkende Substanz erblickte. Wütend schmiss er die Kanne auf den Boden. Die wenigen Münzen rollten heraus, und die braune Substanz schüttelte er energisch von seiner Hand. Überall hin spritzten Teile davon. Dann schrie er seine Wut heraus.

„Was seid ihr nur für ein hinterhältiger Schalk. Jetzt, wo du dem Tode nahe bist betrügst du mich noch. Was hast du dann erst mit den Menschen gemacht, als du noch jung warst?“

Ganz ruhig antwortete der Gescholtene.

„Seid ruhig. Ich habe euch mehrfach gewarnt. Erinnert euch. Mehrfach sagte ich, dass ihr nicht so gierig zugreifen sollt. Das ist nun die verdiente Strafe dafür. Also beschwert euch nicht. Wenn ihr nicht auf mich hörtet, so ist es allein eure Schuld.“

„Wollt ihr mir etwa Gier unterstellen? Eine der sieben Todsünden? Das ist nicht wahr. Wahr aber ist, dass ihr selbst jetzt, kurz bevor ihr vor dem Herrn stehen werdet, eure schalkhaften Spiele spielen wollt. Schämt euch dafür.“

Wütend verließ der Vikar ohne eine einzige Münze, dafür aber mit besudelter Hand, den Raum des Heilig-Geist-Hospitals. Er hörte auch nicht mehr, wie Dyl hinter ihm herrief:

„Kommt zurück, lieber Vikar. Ihr habt eure Münzen vergessen, die ich euch versprochen habe. So nehmt sie. Sie mögen euer sein.“

Ungehört verklangen die Worte. Dennoch sank Dyls Kopf zufrieden zurück auf sein Lager. So, wie er immer gelebt hatte, so wollt er auch sterben. Ob es nun gierige Pfarrer, oder herrschsüchtige Bürger in allerlei Städten waren. Stets hatte er sich einen Scherz daraus gemacht, die Unzulänglichkeiten der Menschen schonungslos offenzulegen.

Und dies gedachte er auch noch mit seinem letzten Atemzug zu tun. Und der sollte bald kommen. Das spürte er. Deshalb ließ er nach seinen Freunden, einem Notar, dem Bürgermeister Johann Dannemann und dem Pfarrer Burkhard von der St. Nicolai-Kirche schicken. Vikar Albert wäre sicherlich auch nach einer Einladung nicht erschienen.

Als alle um ihn versammelt waren, versuchte er den Kopf zu heben, doch fiel ihm das ersichtlich schwer. So ließ er es bleiben, und sah die Umherstehenden an. Nach einer Pause sprach er mit schwacher Stimme:

„Es erfüllt mich mit Freude, euch alle zu sehen. Ich spüre, das das heute mein letzter Tag sein wird. Deshalb will ich mein Testament machen. Unter meinem Bettlager ist eine Kiste. Dazu gehören die Schlüssel. Mit dieser Kiste will ich euch steinreich machen. Aber ich möchte, dass alles zu drei Teilen aufgeteilt wird. Einen Teil erhalten meine treuen Freunde Rudolf und Arnulf. Der zweite Teil soll an den Rat der Stadt gehen. Bürgermeister Dannemann wird dafür sorgen. Und der dritte Teil des Erbes soll dem Klerus vermacht werden.

Doch möchte ich eine Bedingung stellen. Wenn der Herr mich heimgerufen hat, so soll mein Leichnam in geweihter Erde begraben werden. Und für meine Seele soll vier Wochen lang in Totengebeten und Seelenmessen nach christlicher Ordnung und Gewohnheit gebetet werden. Nach diesen vier Wochen soll die Truhe geöffnet werden, sodass sie euch alle wohlhabend machen kann. Teilt sie so auf, wie ich gewünscht habe. Einigt euch gütlich.“

Dyls Augen fielen zu, und das Sprechen fiel ihm schwer. Die umherstehenden Erben bestätigten seinen Wunsch. Dann konnte Dyl nicht mehr sprechen, und Pfarrer Burkhard spendete die letzte Ölung.

So starb Dyl aus Cletlinge, und sein Atem stand still.

Rudolf und Arnulf standen Tränen in den Augen. Sie hatten ihren Freund sehr gemocht. Seine Geschichten waren unterhaltsam und lustig gewesen. Sie ahnten, dass Dyl diese Geschichten nicht alle selbst erlebt hatte. Sicherlich entsprangen sie wohl seiner Phantasie. Sie waren zu lustig und unglaubwürdig, um wahr zu sein. Aber das war ihnen egal. Dyl hatte es verstanden sie zu unterhalten, und etwas Abwechslung in den Alltag gebracht. Sie vermissten ihn.

Die Kunde von Dyls Tod verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der gesamten Stadt. Nach nur einer Stunde wusste jeder Bescheid. Es war nicht der Tod eines Menschen, der diese Anteilnahme hervorrief. Dyl war in Molne nur kurz und zwar ausschließlich zum Sterben gewesen. Menschen starben viel, und auch in jungen Jahren. Das war nichts Ungewöhnliches. Doch der Umstand, dass durch seinen Tod der Stadt viel Geld vermacht werden würde, ließ die Trauer der Bürger ins Frenetische anschwellen.

Es war seltsam, welche Anziehung der fremde Mann Dyl nach seinem Tode auf die Menschen hatte. Sie strömten in Scharen zum Heilig-Geist-Hospital in der Seestrate. Dort beweinten sie ihn aufrichtig. Denn die Aussicht auf Bares ließ bei einigen Menschen ungeahnte Emotionen aufkommen. Die einzigen ehrlich Trauernden waren Rudolf und Arnulf. Ihnen war nur eins unangenehm. Es war ihnen peinlich, dass ihr Freund Dyl sie in seinem Testament bedacht hatte. Lag es daran, dass sie noch zu jung waren, um eine gewisse Gier auf Geld zu empfinden? Für sie zählte Freundschaft noch was. Und da Dyl für sie ein Freund geworden war, wollten sie eigentlich nichts von dem Erbe abhaben.

Am nächsten Tag sollte sein Leichnam auf einer Bahre in der Diele des Hospitals aufgebahrt werden. So hatten alle Leute die Möglichkeit, ihre ehrliche oder gespielte Trauer effektiv vor allen anderen zur Schau zu stellen. Vikar Albert ließ sich nicht sehen, aber Pfarrer Burkhard sang eifrig die Totengebete, so wie er es versprochen hatte.

In der Stadt hatte es sich eingebürgert, dass die Haustiere frei herumliefen. In den Straßen sah man Ziegen, Hühner, Gänse, Enten und Schweine auf der Suche nach Futter ungehindert umherlaufen. Auch das Hospital nannte Schweine sein Eigen, die sich ihren eigenen Weg suchten, wie es in ihrem kleinen Hirn gerade ausgebrütet wurde.

So kam es, dass die Sau des Hospitals mit ihren Ferkeln unter die Bahre des Verstorbenen gelangte. Sie war wohl auf der Suche nach einer Kratzgelegenheit, da es sie offensichtlich juckte. An dem einen der Holzbeine schien sie das Richtige gefunden zu haben und kratzte sich hingebungsvoll. Dabei geriet die Bahre ins Wanken, und der Leichnam kippte von der herunter auf den Boden. Die trauernden Frauen erschraken zutiefst und waren irritiert.

„Hinaus mit ihnen.“

Burkhard übernahm daraufhin das Kommando über die Frauen, um mit ihrer Unterstützung die Sau und ihre Ferkel aus dem Hospital zu jagen.

Doch das war nicht so einfach. War es aufkommende Angst wegen des hysterischen Geschreis der Weiber, welches allerorten erklang, oder einfach nur Sturheit der Sau? Jedenfalls wurde es nicht so einfach wie gedacht, die Tiere aus dem Hospital zu vertreiben. Die Ferkel waren aufgeschreckt und liefen quiekend kreuz und quer durch die Räume. Die Sau wirbelte grunzend wie ein Orkan dazwischen und riss sogar gestandene Leute von den Beinen. Das jedoch war erst der Beginn des heillosen Durcheinanders. Denn da die Sau nicht gewillt war, stehen zu bleiben, wurden die Frauen und Geistlichen weiter aufgeschreckt.

Wer nicht umgerannt wurde, versuchte sich in Sicherheit zu bringen. Aber der einzige Ausweg waren die umherstehenden Betten der anderen Kranken. So schien es nicht Wunder, dass einige Frauen und Trauernde rücklings oder bäuchlings auf den Bäuchen der Kranken landeten. Diese wiederum schrien vor Schmerzen auf. Andere prallten mit ihren Köpfen gegen irgendwelche Gegenstände und Wände. Es folgte ein heilloses Durcheinander. Die Röcke der Frauen flogen hoch, und so mancher verlor seine Kopfbedeckung. Einer flog zwischen die Beine einer Begine und kam mit dem Kopf auf ihrem Schoß zu liegen, welches ein seltsames und prekäres Bild abgab. Ein Weiterer brach sich sein Bein, als er über das Bett eines Kranken flog und auf der anderen Seite herunterfiel. Eine Begine dagegen verstauchte sich einen Knöchel, als sie unglücklich nach einem Rettungssprung aufkam.

Doch dann ebbte das Geschrei der Leute langsam ab, und die Sau und ihre aufgebrachten Ferkel beruhigten sich endlich. Nun konnten sie mit vereinten Kräften und Fußtritten aus dem Spital hinausbefördert werden.

Nun kehrte wieder Ruhe ein, und jeder richtete zuerst seine Kleidung. Röcke wurden ordentlich gezupft, und die Kopfbedeckungen wieder gerichtet. Burkhard klopfte sein Gewand, sein habit, von dem Staub ab.

Währenddessen griffen die Beginen zu und wollten den Leichnam mit vereinten Kräften wieder auf die Bahre bugsieren. Doch sie stellten sich dabei ungeschickt an, und so kam es, dass Dyl dabei bäuchlings zu liegen kam. Sein Rücken war nun von allen zu begaffen.

Am folgenden Tag wurde ein prächtiger Sarg geliefert. Die Beginen füllten ihn mit dem Leichnam und trugen ihn zum Friedhof neben der St.Nicolai-Kirche, denn Burkhard hatte sich mit seinem Gefolge davongemacht.

„Ihr könnt den Unglücklichen ruhig beerdigen, wenn ihr wollt. Ich habe nichts dagegen.“ So hatte er sich anfangs aus der Verantwortung gestohlen. Doch in seiner Pfarrei besann er sich eines Besseren. Schließlich hatte er dem Sterbendem versprochen, für ihn zu beten und sich um seine Beerdigung zu kümmern. Das Gewissen trieb Burkhard also doch noch zur Beerdigung.

An der ausgeschachteten Grube, am höchsten Punkt der Stadt nahe der Kirchenmauer, hatten sich schon viele Menschen versammelt. Dyl galt schon zu Lebzeiten bei den wenigen Menschen, die ihn kannten, als komischer Kauz. Aber das Geschehnis mit der Sau hatte sich schnell herumgesprochen. So hatten sich auch viele Sensationslustige eingefunden, um einfach dabei zu sein, sollte sich bei der Beerdigung wieder etwas Seltsames ereignen. Natürlich war so etwas unwahrscheinlich. Aber man wusste ja nie. – Sie sollten nicht enttäuscht werden.

Rudolf und Arnulf standen ebenfalls dabei, als die Beginen den Sarg neben der Grube abstellten. Burkhard trat hinzu und hob den Deckel an. Sofort stimmte er in ein lautes Gelächter ein. Alle Leute reckten ihre Hälse, um den Grund für den unpassenden Heiterkeitsausbruch zu erspähen. Sofort sprach sich der Grund des Gelächters herum. Auch die Bürger lachten sogleich auf, denn Dyl lag wieder verkehrt herum auf seinem Bauch. Nachdem sich das Gelächter gelegt hatte, hob Burkhard seine Arme, und sprach für alle vernehmbar:

„Dyl war schon im Leben ein seltsamer Gesell. Wie es scheint, mag er nicht wie alle anderen Christenmenschen beerdigt werden. So sei es. Er zeigt selber an, dass er verkehrt herum liegen will. Wollen wir also nach seinem Willen handeln.“

Wie der Pfarrer sprach, so wurde getan. Zwei Seile wurde am jeweiligen Ende unter dem Sarg durchgezogen. Kräftige Männer hoben nun auf das Zeichen Burkhards ihre Seilenden an und hoben den Sarg direkt über das Loch. Dann begannen sie, den Sark herabzulassen.

Just in diesem Moment riss das Seil, welches sich am Fußende befand. In dem Zeitraum eines Wimpernschlags flog der Sarg mit dem Fußende voran in das Grabloch hinab. Polternd kam der Sarg senkrecht stehend zum Halten.

Alle Leute reckten die Hälse und starrten so gut sie konnten in die Grube hinab.

Die anfangs verdutzten Sargträger wollten sogleich hinabsteigen, um den Sarg in die richtige Lage zu bringen, als Burkhard sie zurückhielt.

„Lasst den Sarg so, wie er jetzt steht. Dyl war wunderlich und seltsam zu Lebzeiten. Lassen wir ihn auch wunderlich in seinem Tode sein.“ Alle versammelten Leute stimmten ein, und so wurde das Grab nach einem Gebet zugeschaufelt. In Aussicht auf eine fette Erbschaft, wurden sodann Blumen auf das Grab gelegt. Außerdem bewirkte das Erbe, dass einige Männer sich dazu veranlasst sahen, einen Grabstein zu bestellen, der nach einigen Tagen auf das frische Grab gestellt wurde.

Auf der oberen Hälfte war ein Mann eingeritzt worden, der in der einen Hand eine Eule hielt, die wiederum einen Spiegel in ihren Krallen hielt.

Darunter befand sich die Inschrift:

Diesen Stein soll niemand erhaben16

Hie stat Ulenspiegel begraben

Anno domini MCCCL iahr.” 17

Vier lange Wochen dauerte es, dem Testament entsprechend, bis zur sehnlichst erwarteten Verteilung des Erbgutes. Jeder im Testament Vorgesehene freute sich schon erwartungsfroh darauf, außer Arnulf und Rüdiger. Die beiden gingen widerwillig, und nur unter dem Druck ihrer münzensüchtigen Eltern, zur Öffnung der Truhe. Viel lieber hätten die beiden ihre Angelschnur an einem der vielen Seen rund um die Stadt ausgeworfen. Aber auf Geheiß ihrer Eltern mussten sie ihren Erbteil in Empfang nehmen.

Dann war der große Tag gekommen. Im theatrum trafen sich die Jünglinge, die Freunde, der Bürgermeister Johann Dannemann samt einigen Ratsherren, und zuletzt Pfarrer Burkhard als oberster Kirchherr. Es waren noch andere Herren anwesend, die als Zeugen bei der Öffnung fungieren sollten. Freudig waren die Blicke auf die kunstvoll verzierte Truhe gerichtet. Wenn diese Truhe schon von außen so kunstvoll verziert, und somit wertvoll war, welche unsag­baren Schätze mochten dann erst in ihrem Innern stecken? Die Erwartungen waren gigantisch.

Stolz nahm mit breiter Brust Johann Dannemann die Schlüssel in seine Hände. Wichtig führte er den ersten Schlüssel in das Loch des Schlosses. Doch sieh da, er passte nicht. Das störte ihn anfangs nicht. So nahm er den zweiten mit der Erwartung, dass sogleich das Schloss aufschnappen würde. Doch auch diese Hoffnung erwies sich als zerplatzte Seifenblase.

Nun, schon verunsichert, führte er den letzten Schlüssel zum Schloss. Doch siehe da, auch dieser ließ sich nicht drehen.

„Sie lässt sich nicht öffnen“, verkündete Dannemann an die Umstehenden. Ihm war es sichtlich peinlich.

„Hm“, sprach Burkhard. „Lasst mich mal versuchen.“ Der Pfarrer trat hervor und versuchte sich am Schloss, doch gleichfalls ohne Glück.

„Es ist nutzlos“, verkündete er. Die Schlüssel passen alle nicht. Sind wir wieder einem seiner Späße aufgesessen?“

Ratmann Hermann Dusekop ergriff kopfschüttelnd das Wort.

„Das glaube ich weniger. Ich glaube vielmehr, dass dies von ihm nur zum Schutz getan wurde. Bedenkt doch, wie viele Reisen Dyl unternommen hat. Ständig verkehrte er in fremden Herbergen. Sicherlich hatte er Angst davor, bestohlen zu werden. Ist es da nicht verständlich, dass er solche Vorsichtsmaßnahmen wie falsche Schlüssel getroffen hat? Ich selbst hätte ebenso getan.“ Einstimmig erntete Hermann dafür Zuspruch. Ratsherr Bruno Grothe gar lobte die Umsicht des Verstorbenen über alle Maßen.

„Seine Weisheit und Umsicht ist sehr lobenswert. Er war sehr vorausschauend. Vielleicht ist dies auch der Grund dafür, dass die Truhe in den letzten vier Wochen nicht ausgeraubt wurde? Wer weiß. Dafür müssen wir Dyl noch zusätzlich dankbar sein. Ansonsten würden wir jetzt ohne Schatz hier stehen.“

Der junge Bruno Grothe erntete viel Lob. So einigte man sich darauf, einen Schlosser herbeizurufen, der die Truhe zu öffnen verstand. Den besten Schlosser nahm man dafür. Denn es galt vorsichtig vorzugehen. Die kunstvolle Truhe sollte auf keinen Fall bei der Anwendung von Gewalt beschädigt werden. Schließlich wollte man die so kunstvoll in Eisen gearbeitete Truhe zum Andenken an den Verstorbenen aufbewahren. Das war man dem Wohltäter der Stadt für sein hinterlassenes Erbe ja wohl mindestens schuldig.

Endlich fand sich ein fähiger Schlosser. Aber er war nicht leicht zu haben und wollte seine Arbeit gut entlohnt wissen. Ihm waren die gierigen Blicke auf die Truhe nicht entgangen. So ließ er sich v o r Beginn der Arbeit dreißig Mark lübsch auszahlen.

Gerne zahlten die erwartungsvollen Erben großmütig das verlangte Honorar.

Der Schlosser war sein Geld wert. Endlich ließ sich die Truhe öffnen. Das Schloss war ohne größere Schäden geknackt, und mit einem quietschenden Geräusch hob Johann Dannemann den Deckel empor. Alle Blicke waren sehnsüchtigst auf das Innere der Truhe gerichtet.

Was folgte, war ein kräftiger Schock.

Das konnte nicht wahr sein. Nein, nein, und nochmals nein.

Steine, Steine und nochmals Steine. Die Truhe war bis obenhin mit Steinen gefüllt.

Die meisten sahen sich um ihr Erbe betrogen. Da niemand gleich wusste, warum die Steine in der Truhe lagen, bildete sich gleich Misstrauen den anderen gegenüber. Plötzlich hatte jeder den anderen in Verdacht, sich diesen Betrug ausgedacht zu haben. Jeder sah den anderen mit Zorn und Misstrauen an und beschuldigte ihn der offensichtlichen Tücke.

Burkhard fand als erster die Worte wieder. Und sogleich begangen die offen ausgesprochenen Beschuldigungen.

„Es ist ja nur zu offensichtlich, wo sich der Inhalt der Truhe befindet.“

„Was soll das heißen?“, entgegnete Johann Dannemann, der den versteckten Verdacht gegen sich selbst nicht überhört hatte.

„Wer hatte denn die letzten vier Wochen die Truhe in seiner Obhut? Na, wer denn? Wer hatte vier Wochen Zeit, in aller Ruhe die Münzen herauszunehmen und die Truhe mit Steinen zu füllen? Wer hat zu Beginn der Truhenöffnung denn gesagt, die Truhe ließe sich nicht öffnen? Ja wohl nur derjenige, der daran Interesse hatte, dass sich sein Betrug nicht zeigen würde. Jedenfalls ist es ganz offensichtlich, dass der Rat das Geld hat.“

Sofort wüteten die Ratsmitglieder und der Bürgermeister gegen diese infame Beschuldigung. Heftige Wortgefechte entstanden. Bruno Grothe wiederum versuchte die Schuld weiterzu­geben und seinerseits die Freunde des Verstorbenen zu beschuldigen.

„Wir waren es nicht. So einen Betrug haben wir nicht nötig. Aber überlegen wir doch einmal genauer. Wer war noch stundenlang neben der Truhe und hätte die Möglichkeit des Tausches gehabt?“ Mit ausgestrecktem Arm zeigte er auf die Freunde Dyls.

„Sie waren es“, schrie er voller Überzeugung.

Arnulf und Rudolf wussten gar nicht, wie ihnen geschah. Sie waren einfach nur sprachlos. Ohne ein Wort des Widerspruchs ließen sie die Beschuldigungen über sich ergehen. Nicht so aber Gerald, der als Freund Dyls ebenfalls als Erbe berücksichtigt worden war. Er hatte überhaupt kein Interesse daran, dass die Schuld auf seine Schultern geladen wurde. Wie in einem Spiel gab er die Schuld weiter. Diesmal waren die Pfarrer dran.

„Ihr beschuldigt uns? Das ist eine bodenlose Frechheit. Aber nicht nur ihr hattet lange Zeit zum Austausch. Was ist mit dem Pfarrer Burkhard? Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass er, als er dem Verblichenen die Beichte abnahm, uns alle hinausgeschickt hat. Da hätte auch er genug Zeit gefunden, die Steine hineinzutun.

Mir ist jedenfalls aufgefallen, als die Truhe geöffnet wurde, dass Pfarrer Burkhard sofort einen anderen beschuldigte. Dies tun Betrüger immer, um von sich abzulenken.“

Das Gesicht Burkhards wurde knallrot. Seine Stellung verbot ihm, handgreiflich zu werden. Doch hätte er den Gernot für diese Beschuldigung am liebsten körperlich gezüchtigt.

Der Streit ging weiter. Sie schrien sich an. Jeder beschuldigte den anderen.

Dann erkannte Dannemann in der hitzigen Atmosphäre, dass der Schlosser sein Werkzeug einsammelte und gehen wollte. Er hielt ihn zurück. Darauf verstummte der Streit, und alle Blicke wandten sich dem Bürgermeister und dem Schlosser zu.

„Wo wollt ihr hin?“

„Meine Arbeit ist hier getan. Und wer von euch das Geld in seinem Sack hat, ist mir einerlei. Ich jedoch habe meinen Lohn und werde nun zu meinem Weib heimgehen.“

„Werdet ihr davon berichten, was sich hier zugetragen hat?“

„Ha“, lachte der Schlosser auf. „Warum nicht? Es ist doch eine gar lustige Geschichte.“ So wandte sich der Schlosser der Türe zu.

„Wartet.“ Es war dem Bürgermeister peinlich. Deshalb zog er schnell seinen Beutel unter seinem Rock hervor und zählte zehn Mark lübsch ab.

„Hier habt ihr Geld, sodass niemand davon erfahrt. Nehmt außerdem die Truhe mit und zerschlagt sie. Das Holz wird euch im Winter wärmen. Wir wollen sie nicht mehr sehen, da sie uns an diesen unglückseligen Tag erinnert.“

Der Schlosser nahm das Geld, die Truhe und verschwand. Doch sobald er verschwunden war, gingen die gegenseitigen Beschuldigungen weiter.

Als Nächste gingen Rudolf und Arnulf nach Hause. Sie waren es leid, sich ständig die gegenseitigen Beschuldigungen anhören zu müssen

Am nächsten Tag versammelten sich alle wieder. Auch Rudolf und Arnulf waren dabei. Die gegenseitigen Beschuldigungen hatten aufgehört. Nachdem die Männer nämlich eine Nacht darüber geschlafen hatten, hatte Burkhard die Lösung parat.

„Hören wir doch mit den albernen Schuldzuweisungen auf. Ich glaube inzwischen viel mehr, dass wir einem Scherz des Dyl aufgesessen sind. Er hat sicherlich nie Geld besessen. Erinnert ihr euch, dass er davon sprach, uns steinreich zu machen, als er uns sein Testament verkündete? Das mit dem ,steinreich‘ hat er wohl wörtlich genommen. So war es gemeint.

Er hat uns getäuscht. Es gab wohl nie Geld zu erben. Und wir waren so töricht, uns gegenseitig die Schuld zu geben und uns fast die Schädel einzuhauen.“

„Da ist etwas dran“, sprach Dannemann. „Er war zu Lebzeiten schon ein wunderlicher Gesell. Es hat ihm Spaß gemacht, uns gegeneinander auszuspielen. Doch was sollen wir nun tun?“

„Wir graben ihn aus. So eine ehrenvolle Beerdigung hatte er nicht verdient. So eine jedenfalls nicht, wenn er uns absichtlich zum Narren machte. Das können wir uns nicht gefallen lassen. Verscharren wir ihn woanders.“ Gernot sprach es, und alle sahen auf.

Auf einmal waren die noch kurz vorher völlig zerstrittenen Parteien einer Meinung, und sofort zogen sie gemeinsam zur Kirche. Am Grab des Dyl ließen sie aufbuddeln. Bald stießen sie auf den Holzsarg, und ließen ihn öffnen. Es wurde als Erstes der in Verwesung befindliche Schädel sichtbar. Ein ekelhafter Gestank entwich dem Sarge.

Angewidert wandten sich alle ab. Bürgermeister Dannemann winkte ab. So ließen sie von ihrem ursprünglichen Plan ab, und den Toten in Ruhe. Jeder ging von nun an seinen Geschäften wieder nach, aber mit der Gewissheit, von einem Schelm genarrt worden zu sein.

Arnulf und Rudolf waren beim Angeln am Stadttor, wo die Geschichte des fremden Mannes begonnen hatte. Sie saßen erst schweigsam nebeneinander.

„Weißt du, was ich glaube?“ Rudolf sprach, ohne seinen Blick vom Wasser zu wenden.

„Nein, was denn?“

„Du kannst dich doch noch an die vielen lustigen Geschichten erinnern, die Dyl uns erzählte.“

„Aber natürlich. Sie waren wirklich witzig.“

„Zuerst habe ich geglaubt, dass Dyl sich die Geschichten nur ausgedacht hat“, gestand Rudolf.

„Ich auch“, erwiderte Arnulf darauf, als ob dies peinlich wäre.

„Doch jetzt glaube ich das nicht mehr. Jetzt bin ich mir sogar ganz sicher, dass dies keine Märchen waren, sondern das Dyl die Geschichten wirklich selbst erlebt hat.“

„Da hast du wohl recht. Ich traue es ihm auch zu. Er war schon ein wunderlicher Mann. Aber eines kannst du sicher sein.“

„Was denn?“

„Ich werde Dyl nie vergessen“, seufzte Rudolf und starrte auf das Wasser.

Möllner Zeiten

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