Читать книгу Netz aus Lügen - Michael Bardon - Страница 10
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ОглавлениеIch hielt den Atem an und lauschte. Alles ruhig. Nur aus der Wohnung im Parterre drang leises Stimmengemurmel zu uns herauf, unterlegt von dramatischer Musik, wahrscheinlich ein Krimi im Zweiten.
»Na, wenn das Mal nicht passt …« Schuller grinste mich kurz an und wackelte vielsagend mit den Brauen.
Mein Blick eilte durchs Treppenhaus, flog die Stufen zum darunterliegenden Stockwerk hinunter. Schlichte Eleganz. Der weißliche Marmor sah edel aus, wirkte aber kalt, abweisend beinahe steril, die Wände wie die Decke in einem nüchternen Weiß. Keine Bilder, keine Grünpflanzen auf dem Treppenabsatz. Selbst der obligatorische Fußabstreicher fehlte. Wer auch immer in diesem Haus das Sagen hatte, legte auf eine heimelige Atmosphäre augenscheinlich keinen Wert.
Mein Blick checkte die Wohnungstür, vor der wir links und rechts Stellung bezogen hatten. Ein verchromtes Schildchen im oberen Drittel der ebenfalls weißen Tür trug eine Gravur, die die Wohnung dahinter als Domizil der Familie Grünbeck auswies.
»Seid ihr bereit?«
Fariba nickte. Schuller auch.
»Auf drei. Du zählst.«
Schuller nickte erneut, hob die Linke, zählte jedoch noch nicht herunter. Unsere Augen trafen sich – ich wusste, welche Fragen ihm durch den Kopf spukten.
»Ich gehe zuerst«, sagte ich. »Dann kommt Fariba und zum Schluss du.«
»Dann los!« Schullers linker Daumen klappte gut sichtbar nach oben.
Ich war bereit. Fariba auch, wie mir ihre gezogene Waffe zeigte.
»Zwei …« Schullers Zeigefinger schnellte in die Höhe. Mein Blick war jetzt stur auf den Türknauf gerichtet. Ich war wie im Tunnel, konzentrierte mich voll und ganz auf das, was gleich passieren würde.
»Drei …«
Zeit zum Handeln. Ich nahm Maß, traf das Türblatt mit dem Fuß knapp über dem silbern mattierten Knauf. Ein kurzer Gegendruck, als wolle das Türschloss der brachialen Gewalt meines Trittes standhalten, dann gab die Wohnungstür nach und flog krachend gegen die dahinterliegende Wand.
Freier Einblick in die Wohnung – das Licht aus dem Treppenhaus streute bis in den Flur hinein.
Ich stürmte los, wollte das Überraschungsmoment nutzen. Vor uns tat sich eine kurze Diele auf, von der links und geradeaus jeweils eine Tür abging.
Eine Sekunde später eilte ich an der Garderobe vorbei, die mit all den Jacken und Schuhen, hauptsächlich Kinderbekleidung, völlig überfordert schien. Für mich nicht mehr als eine Randnotiz. Im Moment jedenfalls. Mein Fokus lag auf der Verbindungstür, die den Flur von der restlichen Wohnung trennte.
»Bundesagent … Er soll sich vom Haus fernhalten!«
Petermanns Stimme in meinem rechten Ohr. Sie klang scharf, glich einem Befehl. Verdammt! Was ging da unten vor?
»Bundesagent! Keinen Schritt weiter. Er soll bleiben, wo er ist.«
Meine Nackenhaare stellten sich auf. Irgendetwas lief hier nicht nach Plan – ich konnte es mit jeder Faser meines Körpers spüren.
Ein Hinterhalt? Durchaus denkbar! Vielleicht aber auch nur ein Hausbewohner, der völlig unbedarft in unseren Einsatz geraten war und Sebastians verquere Art zu reden nicht richtig deuten konnte.
Schuller reagierte, während ich mich mit der vorgestreckten Schulter gegen die geschlossene Zimmertür warf.
»Ich gehe runter«, zischte er. »Da stimmt was nicht.«
Keine Zeit zu antworten. Das Türblatt gab unter Knirschen nach. Ich nahm den Schwung mit, tauchte nach unten weg und rollte mich schulmäßig über das linke Schulterblatt ab. Einen Wimpernschlag später war ich schon wieder auf den Knien und zielte auf eine Frau, die mich aus großen Augen angstvoll anstarrte.
*
»Bin auf dem Weg, Sebastian.«
Petermann nickte – es geschah unbewusst. Sein Blick hing unverwandt auf dem jungen Mann, der Schritt um Schritt näher kam, obwohl er ihn bereits zweimal aufgefordert hatte, sich vom Haus fernzuhalten.
»Hände aus den Taschen!«
Keine Reaktion! Es kam ihm vor, als würde ihn der Mann nicht verstehen. Lächerlich. Selbst wenn der Typ seine Worte nicht verstand, ließen die Waffe in seiner Hand, die Schärfe in seiner Stimme und seine Körpersprache, keinen Platz für Zweifel. Nein! Jeder normale Mensch wäre sofort stehen geblieben, hätte wahrscheinlich sogar verschreckt, die Arme in den Himmel gereckt.
»Letzte Aufforderung.« Petermanns Finger lag am Druckpunkt seiner Dienstwaffe. »Er sollte jetzt wirklich stehen bleiben und die Hände aus den Manteltaschen nehmen. Und zwar unverzüglich.«
»Bin gleich bei dir, Sebastian …«
Schullers Stimme klang gelassen, obwohl sie unverkennbar auch eine Spur Sorge transportierte.
»Soll ich auch kommen?«
»Nein! Bleib, wo du bist, Helmut.« Schuller. Er hörte ihn gleichzeitig aus dem Ohrhörer und hinter sich aus dem Hausflur.
»Alles klar! Dann bleib ich halt, wo ich bin«, knurrte Bräutigam. Er klang enttäuscht, fühlte sich wohl hinterm Haus aufs Abstellgleis geschoben.
Petermann brummte zustimmend, sagte jedoch nichts. Sein Fokus lag weiterhin auf dem Mann, der seine Hände nach wie vor in den Manteltaschen hatte und nur noch wenige Schritte von der Grundstücksgrenze entfernt war, von Petermanns Position, dem verzinkte Gartentürchen.
»Letzte Warnung, Mann! Keinen Schritt näher. Sonst zwingt er ihn, auf ihn zu schießen.«
Abermals keine Reaktion. Der Typ hielt – trotz der Warnungen - stur auf ihn zu, schien ihn oder die Walther PPK überhaupt nicht wahrzunehmen.
Petermanns analytischer Verstand suchte zu erkunden, weshalb der junge Mann, der vom Erscheinungsbild europäisch wirkte, die Gefahr für sein leibliches Wohl mit solch einem Gleichmut ignorierte? Das warf eine Menge Fragen auf, die, sofern man sie zu Ende dachte, wiederum eine ganze Flut an weiteren Fragen nach sich zogen.
Fakt war für Petermann nur eins: Die Frage war nicht ob, sondern inwieweit, der Kerl eine Bedrohung für sie war. Er dachte an den Feuerwehrmann, der sie alle hatte mit in den Tod reißen wollen. Jetzt standen sie vor dessen Haus und prompt tauchte einer auf, der, dafür sprach so einiges, ganz Ähnliches im Schilde führte.
Was für ein Dilemma! Bei der Annahme, dass der Kerl wie Grünbeck eine Sprengstoffweste trug, gab es für ihn eigentlich nur eine Option: Er musste den finalen Todesschuss anwenden, auch wenn ihm dies ganz und gar nicht gefiel.
Er schüttelte erneut den Kopf. Nein! Er war Ermittler. Sein Job war es, den Dingen auf den Grund zu gehen. Fürs Richten und Hängen fühlte er sich nicht berufen. Diese Arbeit überließ er gern denen, die damit weniger Probleme hatten. Feller und Schuster waren solche Kandidaten, beide ehemalige Elitesoldaten, zu deren Aufgaben auch das finale Ausschalten ihrer Feinde gehört hatte.
Er nickte und bekräftigte so seinen Gedanken. So fühlte es sich richtig an. Er musste schließlich nicht immer und bei allem in der vordersten Reihe stehen.
Während er weiterhin mit sich, dem Schicksal und dem mutmaßlichen Attentäter haderte, schlenderte der – ja verdammt, ein anderes Wort als Schlendern fiel ihm bei der Gangart des Mannes nicht ein – mit versteinerter Miene auf ihn zu.
Noch vier Schritte bis zum Gartentor. Vielleicht waren es auch fünf. Mehr aber auf keinen Fall. Petermann wusste, dass er reagieren musste, der Abstand zwischen ihm und dem Mann war eigentlich schon jetzt viel zu gering.
Er hob den Waffenlauf und korrigierte über Kimme und Korn sein Ziel, das nun nicht mehr aus dem oberen Drittel des Oberkörpers bestand, sondern aus der kleinen Einkerbung, die der Kerl, direkt über dem Ansatz der Nasenwurzel hatte. Seine Hand zitterte leicht. Er war sich nach wie vor nicht sicher, ob er das Richtige tat.
Was, wenn …?
Sein Gedanke brach, als aus der linken Manteltasche des Mannes eine Feuerblume wuchs. Er spürte einen Schlag, dann noch einen, konnte aber nicht genau sagen, wo oder von was er getroffen worden war. Keine Luft zum Atmen. Die Gedanken in seinem Kopf zerplatzten zu kleinen Mosaiken. Dunkelheit nahm ihn ein. Er schien zu schweben, tat es seinen Gedanken gleich, löste sich jetzt selbst in Tausende Mosaikteilchen auf.
Das Letzte, das er bewusst wahrnahm, war das Donnern weiterer Schüsse. Einen Wimpernschlag später – er glaubte zumindest, dass es nur einer war – zog ihn die Dunkelheit in die Tiefe und löschte all seine Empfindungen aus.
*
Schießen und abtauchen … Schießen und abtauchen … Schießen und abtauchen …
Jussuf zog die Luft scharf ein, wischte seine Zweifel zur Seite und drückte ab. Seine Finger verkrampften. Der Rückstoß der Pistole überraschte ihn ebenso wie der laute Knall, viel stärker, als er es für möglich gehalten hatte. Kalter Stahl auf seiner Haut. Es fühlte sich gut an, auch wenn er alles andere als geübt in solchen Dingen war.
Jussuf blinzelte. Die Helligkeit des Mündungsfeuers blendete ihn, ließ vor seinen Augen, gleißend helle Kreise entstehen.
Schießen und abtauchen …
Genau! Nach dem Schießen kam der Stellungswechsel. Das war wichtig. Überlebenswichtig! Das hatte er sich doch fest vorgenommen.
Er drückte erneut ab, auch wenn er wie beim ersten Mal kein rechtes Ziel vor Augen hatte. Dieses Mal kam er mit dem Rückstoß der Waffe schon besser zurecht. Und auf die Blendwirkung des Mündungsfeuers war er ebenfalls gefasst gewesen.
»Nicht mit mir«, knurrte er. »Wenn ihr mich haben wollt, dann kommt doch her und versucht mich zu holen.« Die letzten Worte schrie er laut heraus, schleuderte sie seinen Jägern entgegen. Er war jetzt wie im Rausch. Mit der Pistole als seinem Verbündeten kam er sich mit einem Mal so unbezwingbar vor wie auf der Krak des Chevaliers. Eine Ritterburg. In Syrien. Die die Kreuzfahrer im frühen Mittelalter über Generationen hinweg errichtet hatten. Die Burg stand in den Ausläufern des Alawitengebirges. Er war als Kind einmal dort gewesen und aus dem Staunen überhaupt nicht mehr herausgekommen.
Ein leises Scharren. Irgendwo von rechts. Er schwenkte die Waffenhand herum und zog den Stecher erneut bis zum Anschlag durch.
Klick …
Verdammt! Kein Knall, kein Mündungsfeuer. Nur ein metallisches Klicken, als der Schlagbolzen der Waffe auf die Zündvorrichtung der leeren Patronenhülse schlug.
Jussuf schauderte. Sein Herzschlag drohte vor Schreck einfach auszusetzen.
Nur ein Blindgänger, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Das kommt schon mal vor. Du bist bestimmt nicht der Erste, dem das im falschen Moment passiert.
Keine Zeit, mit dem Schicksal zu Hadern. Keine Zeit, sich über irgendetwas Gedanken zu machen. Jussuf nahm all seinen Mut zusammen, versuchte zu verdrängen, dass ein neuerliches Versagen seiner Waffe für ihn einem Todesurteil gleichkommen würde.
Das Scharren wiederholte sich, war aber jetzt schon deutlich näher als zuvor. Jussuf hielt die Luft an, lauschte, starrte in die Dunkelheit, die hier unten im Kellergewölbe sowohl sein Verbündeter als auch sein größter Feind war. Wie in Allahs Namen sollte er jemanden bekämpfen, den er überhaupt nicht sah? Er blinzelte, starrte weiter in die Finsternis. Das war ja beinahe so, als wollte man seinen eigenen Schatten niederringen.
Er zog sich noch ein wenig tiefer in den Schutz der maroden Holzkiste zurück. Seine Gegner befanden sich nun im Vorteil, mussten ziemlich genau wissen, wo er sich vor ihnen versteckt hielt. Mist! So weit hatte er natürlich nicht gedacht. Das Mündungsfeuer seiner Waffe kam einem Leuchtfeuer gleich; es zeigte seinen Häschern an, wo er sich gerade befand.
Seine Nerven versagten. Geduld war noch nie seine Stärke gewesen. Er kam hoch, blickte sich gehetzt nach allen Seiten um. Er musste von hier weg, musste sein Heil in der Flucht suchen. Sekunden der Ratlosigkeit. Seine Füße wollten rennen, doch sein Verstand, oder das, was davon noch übrig war, konnte sich einfach nicht entscheiden, in welche Richtung er seine Flucht fortsetzen sollte.
Panik. Sein gesamtes Ich war von Panik erfüllt.
Ihn schwindelte, er bekam kaum noch Luft. Seine Kleidung klebte an seinem Leib, als wäre er in ein nasses Tuch gehüllt. Wenn er das hier überlebte, egal wie, würde er nie wieder Unrecht tun. Bei Allah, das schwor er sich und allen Heiligen.
Er stürzte los, kam jedoch nur zwei Schritte weit, weil sich seine Füße, in – er wusste selbst nicht, in was – verhakt hatten. Jussuf schrie auf, ruderte mit den Armen, konnte seinen Sturz jedoch nicht mehr abfangen. Er schlug auf dem Boden auf, schmeckte Blut und glaubte ein paar Sekunden lang, keinen heilen Knochen mehr im Leib zu haben.
»Das war’s dann, Mann …«
Er spürte den kühlen Lauf einer Waffe, der sich in seinen Nacken bohrte.
Aus und vorbei, dachte er, während er registrierte, dass seine Hose im Schritt langsam feucht wurde, weil sich seine Blase zu entleeren begann. Es war ihm egal. Er konnte sich Schlimmeres vorstellen, als mit eingenässter Hose zu sterben.
»Hände auf den Rücken! Mach ja keine Faxen, Freundchen.«
Bei Allah … Er war sich nicht ganz sicher, glaubte aber, die Stimme einer Frau gehört zu haben. Konnte das wirklich sein? Oder war er vom Sturz noch zu benommen – er hatte sich an irgendwas, wahrscheinlich der maroden Holzkiste, den Kopf angeschlagen. Seine Schädeldecke pochte, schien bei jedem Atemzug platzen zu wollen.
Jussuf hob den Kopf ein wenig an und versuchte, einen Blick auf die Person zu erhaschen, die nun rücklings auf ihm saß und seine Handgelenke mit irgendetwas, wahrscheinlich einem Kabelbinder, zusammenband.
Keine Chance. Er konnte den Kopf nicht weit genug drehen, weil sich der Druck der Waffenmündung in seinem Nacken sofort verstärkte.
»Du sollst stillhalten, verdammt. Noch einmal sage ich es dir nicht.«
Eine Frau. Jussuf war sich jetzt sicher, jeder Zweifel ausgeschlossen. Und sie hatte Deutsch mit ihm gesprochen. Allerdings mit einem leichten ausländischen Akzent.
Jetzt verstand er gar nichts mehr. Seit wann gingen denn Frauen für den IS auf die Jagd?
»Hast du ihn?«
Die Stimme eines Mannes. Jussuf war beinahe erleichtert, auch wenn seine beschissene Lage durch die Anwesenheit eines Mannes keinesfalls besser wurde.
»Ja! Hab ihn. War ein Kinderspiel.« Die Frau lachte kurz, es klang gefühllos. »Der Kerl ist dumm wie Brot. Soll ich ihn gleich umlegen oder hast du noch Fragen an ihn?«
»Nein! Leg den Penner um. Der weiß doch eh nix, was wir nicht schon selbst wissen. Wir streichen einfach das Kopfgeld ein und schnappen uns einen, der mehr über den IS weiß als der hier.«
Jussufs Körper erzitterte, als ein Fußtritt seine Rippen traf. Sein Geist erwachte. Sein Überlebenswille auch. Das war seine Chance. Der Kerl wollte Informationen, die er ihm nur zu gern liefern würde.
»Wartet!«
War das wirklich seine Stimme gewesen? Sie klang fremd, ganz anders als sonst.
Ein neuerlicher Tritt – sein Magen rebellierte, er musste sich übergeben.
»Worauf?« Die Stimme des Mannes klang wenig interessiert.
Jussuf rang nach Luft und nach Worten. Er durfte diese Chance nicht verstreichen lassen. Überleben war jetzt alles. Er musste dem Mann unbedingt begreiflich machen, dass er viel mehr wusste, als der dachte.
»Ich verwalte Spendengelder und leite sie an den IS weiter.« Seine Stimme brach, er hustete, musste sich erneut übergeben. »Ich kenne mich gut aus«, keuchte er, als er wieder Luft bekam. »Wenn Sie mich am Leben lassen, erzähle ich Ihnen alles, was ich über den Islamischen Staat weiß.«