Читать книгу Netz aus Lügen - Michael Bardon - Страница 7
-3-
ОглавлениеKnapp drei Stunden und etliche Kaffee später war es endlich so weit. Fariba rief auf meinem Smartphone an und teilte mir mit, dass die nervige Warterei ein Ende hatte.
Ich schaute mich in dem kleinen Büro des Starbucks-Filialleiters um, das uns die letzten Stunden als eine Art Einsatzzentrale gedient hatte.
Unruhe erfasste mich. Jetzt, wo es so weit war, konnte ich meine Ungeduld kaum noch im Zaun halten.
Ich schob das Smartphone in die Jackentasche und gab meinen beiden Kollegen das Zeichen zum Aufbruch.
»Das war Fariba. Es geht los. Die Feuerwehr hat gerade Entwarnung gegeben.«
»Großer Gott, danke!« Petermann schaute auf, Theatralik schwang in seiner Stimme. »Er hat schon befürchtet, er müsse den ganzen Tag hier sitzen und mit ansehen, wie sich ein gewisser beleibter Kollege ein Blaubeer-Muffin nach dem anderen einverleibt.«
Bräutigams Kopf flog herum. Sein Blick verhieß nichts Gutes. Petermann lächelte süffisant, nahm seine rahmenlose Brille ab und hielt sie prüfend gegen das Licht. Er wusste ebenso gut wie ich, was gleich passieren würde. Bräutigam konnte das nicht auf sich sitzen lassen. Er musste zurücktreten. Und zwar um jeden Preis.
Seine Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Ich hatte gerade einmal bis zwei gezählt, in Gedanken, als Bräutigam auch schon verbal zum Gegenschlag ausholte.
»Sagt ausgerechnet der, der sich ein halbes Dutzend Espresso reingezogen hat«, blaffte er.
Kurzes Schweigen. Petermanns Züge froren ein; in seinen Augen blitzte Schalk auf. Für ihn war das Ganze nicht mehr als ein Spiel. Eine Art Zeitvertreib, um sich selbst bei Laune zu halten.
»Espressos. Es heißt Espressos. Oder wenn er den zweiten Plural favorisieren möchte, kann er gern auch Espressi sagen.«
»Was bist du? Ein Deutschlehrer?«
»Nein!« Petermann wackelte tadelnd mit dem Kopf. »Er ist nur der deutschen Sprache mächtig. Was er von ihm nicht behaupten kann.«
»Er ist nur der deutschen Sprache mächtig …« Bräutigam äffte Petermann nach. »Hast du dir eigentlich schon mal selbst beim Reden zugehört? Gequirlte Scheiße ist Gold dagegen.«
»Es reicht!«
»Er hat aber damit angefangen.«
»Er hat aber damit angefangen …« Jetzt äffte Petermann Bräutigam nach.
»Ich sagte, es reicht. Das galt für euch beide.«
Mein Blutdruck schnellte in die Höhe, während meine Laune allmählich in den Keller sank. Wir hatten wirklich weitaus Besseres zu tun, als unsere Zeit mit unnützen Wortgefechten zu vertrödeln.
»Macht lieber was Sinnvolles und übermittelt das, was ihr an Fakten gesammelt habt, an Arnos Rechner«, sagte ich.
Schweigen als Antwort, dem ein schuldbewusstes Nicken folgte. Beide waren exzellente Ermittler, obwohl ihre Vorgehensweise nicht unterschiedlicher hätte sein können.
»Und vergesst nicht, dass der Browserverlauf noch gelöscht werden muss. Es darf nichts auf dem Computer des Geschäftsführers zurückbleiben, was nicht schon vorher drauf gewesen ist.«
Erneutes Nicken. Dieses Mal jedoch nur von Bräutigam. »Ist klar, Chef! Wird gemacht.«
Ich sah Petermann an, der mir vorhin ein knappes ›Er wird sich ihm später erklären‹ zugeraunt hatte. Er wusste, dass ich seine Lüge durchschaut hatte und keine Ruhe geben würde, bis er mir verriet, wen oder was er gesehen hatte.
Unsere Blicke trafen sich. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf, bevor er mit einem knappen Nicken auf Bräutigam wies.
Ich verstand: Er wollte nicht reden, solange ein Dritter mithören konnte.
Also gut, ich konnte warten. Noch.
»Dann geht er mal die Rechnung begleichen.« Petermann erhob sich von seinem Stuhl, trat um den Schreibtisch herum und kramte ein paar Scheine hervor, die er in einer goldenen Spange in der Vordertasche seiner schwarzen Jeans aufbewahrte. »Er hat heute die Spendierhose an«, sagte er. »Der Berg Blaubeer-Muffins geht auf seine Kappe.«
Du elender kleiner Stinkstiefel …
Bräutigam schaute kurz vom Bildschirm auf, verkniff sich jedoch einen neuerlichen Kommentar. Seine Mimik wirkte angespannt, drückte aber auch ein klein wenig Erstaunen, nein eher Unglaube, aus.
»Schaut mal her, Leute«, sagte er. »Ich glaube, ich bin da durch Zufall im Netz auf was gestoßen.« Er drehte den Monitor kurzerhand in unsere Richtung.
Ich schaute kurz hin, war aber nicht recht bei der Sache. Mir gingen zu viele Dinge durch den Kopf. Ich wollte los, wollte mir endlich ein eigenes Bild vom Ausmaß des Anschlags machen.
»Was soll das sein?«, fragte ich. Ungeduld schwang in meiner Stimme mit.
»Sag du es mir. Ich kann mir nämlich keinen Reim darauf machen. Ich kann dir nur sagen, dass das dritte Bild von oben …«, Bräutigams Zeigefinger stach auf den Monitor ein, »… einen alten Bekannten von uns zeigt.«
Ich beugte mich vor, sah mir die abgebildeten Männer jetzt etwas genauer an. Mein Kollege hatte recht: Der dritte Mann von oben war kein Unbekannter für uns.
»Das ist Jussuf Alkbari«, sagte ich. »Wie zum Teufel bist du denn jetzt auf den gestoßen?«
»Keine Ahnung.« Bräutigam zuckte mit den Achseln. »Ich hab bloß ein wenig im Darknet gestöbert. Und dann ist das da plötzlich aufgetaucht.«
Petermann, der den Raum schon beinahe verlassen hatte, blieb wie angewurzelt stehen. Sein Blick ruhte auf dem Monitor, der acht kleinere Porträts arabisch aussehender Männer zeigte. Neben jeder Fotografie stand ein kurzer Text, natürlich in arabischen Schriftzeichen, die, wen wundert’s, keiner von uns lesen konnte.
Petermann trat näher, den Blick weiterhin unverwandt auf den Monitor gerichtet. Lippenschürzen. Nachdenkliche Miene. Er beugte sich herunter, nahm die Brille ab und betrachtete gut eine Minute lang die Gesichter der Männer.
»Er kann es natürlich nicht beschwören …«, sagte er, seine Stimme klang belegt, beinahe schon ehrfurchtsvoll, »… aber er könnte sich gut vorstellen, dass dies eine Todesliste ist.«
Stille im Raum. Jeder von uns dachte über seine Worte nach. Meine Gedanken sprangen ein paar Wochen zurück.
Jussuf Alkbari.
Aufmerksam geworden auf ihn waren wir im Zuge unseres ersten gemeinsamen Falls: Es ging um einen Menschenhändlerring, der jungen Immigrantinnen aus dem Nahen Osten entführt, eingesperrt und meistbietend verkauft hatte. Jussuf, der der Bruder unseres ermordeten Informanten war, hatte in diesem Fall nur eine untergeordnete Rolle gespielt. In diesem Fall. Die Ermittlungen gegen ihn dauerten noch an; er stand unter Verdacht, Sympathisant einer islamistischen Terrormiliz zu sein.
»Wie kommst du denn auf das schmale Brett?«, fragte Bräutigam. Er klang wenig überzeugt.
Petermann wiegte den Kopf, sein Zeigefinger klopfte gegen seine Unterlippe. Er tat dies fast immer, wenn er angestrengt nachdachte.
»Er vermag zwar keine arabischen Schriftzeichen zu lesen, doch die Gestaltung und die Schaustellung dieser Liste, kommt ihm nicht zum ersten Mal unter.« Petermann schwieg einen Moment, trieb die Dramatik seiner nächsten Worte so gekonnt zum Höhepunkt. Als er schließlich fortfuhr, klang seine Stimme blechern. »Er hat dies schon einmal gesehen. Damals war es allerdings eine Todesliste, die die Al-Qaida im Zuge einer Hetzjagd auf fünf westliche Journalisten ins Netz gestellt hatte.«
Ich spürte ein Kribbeln im Bauch. Petermanns Worte lösten Kopfkino bei mir aus. Auch ich hatte solche Listen schon gesehen. Allerdings in Afghanistan, wo ich als KSK-Soldat hinter den feindlichen Linien gekämpft hatte.
»Druck das verdammte Blatt aus, vielleicht kann Fariba ja was damit anfangen.«
Bräutigam nickte, sagte jedoch nichts.
Meine Hoffnung, unsere Kollegin könne etwas mit den Schriftzeichen anfangen, war nicht ganz unbegründet. Sie war eine gebürtige Iranerin oder wie sie es auszudrücken pflegte: eine Perserin. Ihre Eltern, die in ihrer Heimat einer Minderheit angehörten – Christen, wie Fariba auch –, waren vor vielen Jahren nach Deutschland immigriert. Fariba, damals neun, hatte demnach gut die Hälfte ihrer Kindheit im Iran verbracht. Sie sprach fließend Arabisch – inwieweit sie die Sprache allerdings auch lesen konnte, entzog sich jedoch meiner Kenntnis.
Petermann nickte kurz. Sein schlohweißes Haar wippte im Takt seines Nickens. »Gute Idee! Er meint sich zu erinnern, dass die geschätzte Kollegin Sedate die arabische Sprache in Wort und Schrift beherrscht«, sagte er, fügte aber gleich darauf noch hinzu: »Natürlich gibt es Hunderte von Dialekten, bei denen verschiedenste Worte eine ganz andere Bedeutung haben, aber im Großen und Ganzen müsste sie das Dokument normalerweise für uns übersetzen können.«
»Dein Wort in Gottes Gehörgang …«
»Und wenn nicht, bestellen wir eben einen Dolmetscher ein, der uns das Ding übersetzt«, sagte ich und beendete so die Diskussion. Ich wollte los. Die Zeit brannte mir unter den Nägeln. Jede vertrödelte Minute erschien mir eine zu viel zu sein. Ich wollte endlich Klarheit, wollte mit eigenen Augen sehen, was in dem Einkaufszentrum geschehen war.
Ich dachte an den falschen Feuerwehrmann. Er hatte von vielen Toten gesprochen, deren Extremitäten durch die Sprengkraft der Bombe abgerissen worden waren. Lüge oder Wahrheit? Ich war hin- und hergerissen, neigte jedoch dazu, seinen Worten, zumindest in diesem Punkt, Glauben zu schenken. Weshalb hätte er uns auch anlügen sollen? Für ihn war unser Tod eine längst beschlossene Sache gewesen!
»Wie lange brauchst du noch?« Meine Frage galt Bräutigam, dessen beide Zeigefinger unaufhörlich auf die Tastatur einstachen. Er war des Zehn-Finger-Schreibens nicht mächtig, erreichte aber dennoch eine beachtliche Anschlagszahl.
»Hab’s gleich, Chef.« Bräutigam schaute nicht auf, sondern tippte munter weiter. »Muss nur noch den Browserverlauf löschen und den Systempapierkorb leeren.«
»Alles klar, Helmut. Ich geh dann schon mal mit Sebastian vor. Komm einfach nach, sobald du hier fertig bist.«
»Mach ich, Chef.«
»Und denk an die Liste.«
»Hab sie schon ausgedruckt. Kannst sie eigentlich gleich mitnehmen«, sagte Bräutigam, während er hinter sich griff und ein Blatt Papier aus dem Drucker fischte. »Ist aber leider nur in Schwarzweiß. Ich habe Arno das Dokument aber schon zugemailt, damit der schon mal checken kann, ob wir was über die Männer in den Datenbanken haben.«
Das war gut! Arno Strobel war unsere Drehscheibe: der Mann im Büro, der alle losen Enden miteinander zu verknüpfen suchte. Arno war ein Cybercop, ein studierter Nerd, der seinen Platz am Rechner, sofern es sich irgendwie vermeiden ließ, selten bis nie verließ. Wenn einer was über die Männer in Erfahrung bringen konnte, dann er.
Ich nickte Bräutigam zu, steckte das Blatt Papier ein und verließ das kleine Büro, das im hinteren Teil der Starbucks-Filiale lag, in einem schmalen lang gezogenen Korridor, der gleichzeitig als Zugang zu den Toiletten diente.
Stimmengemurmel. Auf der angrenzenden Damentoilette schienen sich mehrere Frauen angeregt zu unterhalten. Gelächter war zu hören – die Menschen kehrten in den Alltag zurück, versuchten zu verdrängen, was vor knapp vier Stunden in ihrer Stadt geschehen war. Ich kannte dieses Phänomen, hatte diese sture Ignoranz, manche nannten es auch Selbstschutz, schon mehr als einmal erlebt. Sofern sie nicht selbst betroffen waren, keine Freunde oder nahen Verwandten verloren hatte, fühlte sich viele nur am Rande betroffen. Das eigene Leben stand im Vordergrund. Empathie, Anteilnahme oder Mitgefühl waren zwar vorhanden, wurde jedoch auf ein Mindestmaß reduziert. Es gab natürlich auch Ausnahmen, die aber – wie sagt der Volksmund so schön? – nur die Regel bestätigten.
Ich eilte weiter und versuchte, nicht weiter über das Verhalten dieser Menschen nachzudenken. Flashbacks stürmten auf mich ein: Vor etwas mehr als vier Monaten hatte ich selbst nur mit knapper Not ein Sprengstoffattentat überlebt.
Die nächsten Stunden würden nicht einfach werden. Auch ich musste mich im Vergessen üben, durfte mich nicht von Gefühlen leiten lassen.
Nüchterne Distanz. Objektivität stand jetzt an oberster Stelle. Sobald man einen Tatort betrat, musste man ihn durch die Brille des eiskalten Ermittlers betrachten.
Für mich stellte dieser Teil unseres Jobs stets eine kleine Herausforderung dar; ich war ein Gefühlsmensch, die Dinge völlig nüchtern zu betrachten, lag einfach nicht in meiner Natur.
Mein Kollege Petermann war das genaue Gegenteil von mir. Er war ein Ass in dieser Disziplin, konnte seine Emotionen auf Knopfdruck ausschalten, beinahe jedenfalls. Seine Tatortbegehungen waren legendär. Ihm fielen Dinge auf, die für andere im Verborgenen blieben.
Ich dachte an den Einsatzleiter der Rettungsmannschaften, mit dem ich vor einer guten halben Stunde telefoniert hatte. Das Bild, das er mir vermittelt hatte, ließ wenig Spielraum für Zweifel: Wir hatten es mit einem Sprengstoffanschlag zu tun, was den Gedanken an einen terroristischen Hintergrund natürlich in den Vordergrund rückte. Ein Bekennerschreiben lag jedoch noch immer nicht vor. Zumindest nicht laut meinem Vorgesetzten, der, davon ging ich aus, als einer der Ersten davon erfahren müsste.
Wir tappten also weiterhin im Dunkeln, konnten noch immer nicht zuordnen, wer der Initiator dieser Wahnsinnstat war.
Ich schüttelte den Kopf – es geschah unbewusst.
Im Grunde spielte es keine Rolle, ob ein Bekennerschreiben vorlag oder nicht. Wir würden ohnehin in alle Richtungen ermitteln, da ein Bekennerschreiben über die eigentlichen Täter keinerlei Aussagekraft besaß.
Ich lief weiter, eilte durch das trendige Café, das vor lauter Gästen fast aus den Nähten platzte. Mein Blick suchte Petermann. Ich fand ihm am Tresen; er beglich gerade unsere Rechnung und bedankte sich bei dem Geschäftsführer, für dessen Entgegenkommen.
Ich nickte dem Mann kurz zu – nach Plaudereien stand mir jetzt wirklich nicht der Sinn. Meine Gedanken kreisten um die kommenden Stunden, die für unsere weiteren Ermittlungen wegweisend werden würden.