Читать книгу Netz aus Lügen - Michael Bardon - Страница 9
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ОглавлениеGrabesstille. Nahezu absolute Finsternis. Jussufs Blick zuckte durch das weitläufige Kellergewölbe, in das er sich auf der Flucht vor seinen Verfolgern zurückgezogen hatte. Sie waren ihm dicht auf den Fersen, es kam ihm vor, als könne er ihren Atem spüren.
Er presste die Lippen zusammen und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Ein leises Fiepen war zu hören, dem das schnelle Trippeln von kleinen Pfoten folgte. Ratten! Die Viecher waren wirklich überall, schienen aber an ihm keinerlei Interesse zu haben. Zum Glück. Er hatte da auch schon ganz andere Dinge erlebt.
Seine Gedanken schweiften in die Kindheit. Er sah die Massengräber, sah, das kleine Dorf, keine zwanzig Kilometer von Aleppo entfernt, in dem er die ersten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Die pelzigen Nager waren überall gewesen. Eine echte Plage, der sie trotz aller Anstrengungen nicht Herr geworden waren.
Er schauderte, versuchte, die Bilder von früher wieder aus seinem Kopf zu verbannen. Hier waren die Ratten nicht das Problem. Jedenfalls nicht die vierbeinigen. Bei den zweibeinigen sah es hingegen anders aus.
Drei Tage war er jetzt schon auf der Flucht. Er war am Ende, völlig fertig, wusste nicht mehr, wohin er sich noch wenden sollte. Die Handvoll Freunde, die er vor wenigen Tagen noch gehabt hatte, wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Was bestimmt auch gesünder für sie war - er hätte es umgekehrt nicht anders gehalten.
Der Geschmack von Galle stieg in seiner Kehle auf, als er daran dachte, dass er jetzt ein Ausgestoßener war, mit dem man auf keinen Fall in Verbindung gebracht werden wollte. Man hatte ein Kopfgeld auf ihn ausgelobt. Früher oder später, es war eigentlich nur eine Frage von Zeit, würde ihn jemand erkennen und an die Schakale des IS verraten. Im Grunde konnte er das Ganze auch abkürzen und sich selbst eine Kugel in den Kopf jagen. Am besten gleich hier und jetzt. Die verdammten Ratten, diese Aasgeier auf vier Pfoten, würden dann bestimmt den Rest erledigen.
Jussuf schloss die Augen. Seine Gedanken: ein einziges Tollhaus. Er stöhnte leise und versuchte, die Panik, diese alles dominierende Panik, wieder in den Griff zu bekommen. Ein sinnloser Versuch, seine Angst saß so tief, dass es keinen Spielraum für geordnetes Denken gab.
Was für ein Albtraum … dabei war er doch stets so vorsichtig gewesen, hatte sich nur klitzekleine Summen, im Grunde nicht mehr als eine Aufwandsentschädigung, für sich selbst abgezweigt.
Verdammt! Es ging hier doch nur um ein paar Zehntausender. Was war das schon im Vergleich zu den vielen Millionen, die er an die IS über die Jahre hinweg weitergeschleust hatte?
Ihr undankbaren Arschlöcher, dachte er. Ohne einen wie mich hättet ihr schon längst einpacken können.
Er schloss erneut die Lider und versuchte sich auf seinen Herzschlag zu konzentrieren. Das Pochen in seiner Brust nahm etwas ab, obwohl sein Herz nach wie vor viel zu schnell schlug. Ihm war schlecht. Er schwitzte, obwohl er fror.
Erneut hörte er das Fiepen einer Ratte, dem jedoch dieses Mal kein leises Trippeln folgte, sondern … ja doch, er hatte sich bestimmt nicht verhört … ein halblautes Scharren, so als wäre jemand mit dem Fuß gegen ein Stück Holz gestoßen, von dem es hier in dem muffigen Kellergewölbe der halb verfallenen Fabrikhalle wirklich mehr als genug gab.
Sein Herzschlag drohte auszusetzen, galoppierte dann aber los, als säße sein Herz in der Brust eines Rennpferdes.
Er hielt den Atem an, lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Erneut dieses seltsame Scharren. Keine Sekunde später glaubte er, das unterdrückte Atmen eines Menschen zu hören.
Jussuf nickte – es geschah unbewusst.
Bei Allah, dachte er. Sie haben mich gefunden.
Er schluckte schwer. Seine Kehle war jetzt so trocken wie das Ackerland, auf dem die Menschen in seiner alten Heimat versuchten, das Nötigste anzubauen.
Widerstand keimte in ihm auf, zu dem sich neben Verzweiflung nun auch Wut und verletzter Stolz gesellten. Er würde sich bestimmt nicht kampflos ergeben, oh nein! Wenn sie ihn haben wollten, mussten sie sich schon anstrengen. Jussuf war jetzt fest entschlossen, es seinen Häschern so schwer wie möglich zu machen.
Er zog sich noch ein wenig tiefer in den Schutz einer halb verfaulten Holzkisten zurück. Vorsichtig. Zentimeter um Zentimeter. Immer darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen.
Das Scharren wiederholte sich, war jetzt unmittelbar, rechts vor ihm.
Er kniff die Lider zusammen, versuchte zu erspähen, was es in der Dunkelheit zu erspähen gab. Das Ergebnis war ernüchternd. Er konnte seine Gegner nach wie vor nicht sehen, obwohl die doch nur noch wenige Schritte von seinem Versteck entfernt sein mussten.
Alles oder Nichts. Er musste es probieren, musste als Erster den Sprung nach vorne wagen.
Den Letzten beißen die Hunde. Er hoffte inständig, dass die alte Volksweisheit stimmte.
Mit dem Mut der Verzweiflung schnellte er hoch. Seine Rechte zitterte stark, weil er die Pistole darin eigentlich viel zu verkrampft hielt. Er wusste das, konnte aber nichts dagegen tun. Er brauchte jetzt einen Halt, brauchte einen Freund, der ihm in der Stunde der Not tatkräftig zur Seite stand. Die Pistole versprach ihm beides. Auch wenn er überhaupt nicht erfahren im Umgang mit Knarren war.
Sekunden im Nichts – sein Blick fraß sich in die Dunkelheit. Erneut ein scharrendes Geräusch. Dann ein leises Platschen, so als wäre jemand in eine Pfütze getreten.
Jussuf nickte grimmig. Er wusste jetzt genau, wo sich seine Gegner gerade aufhielten; er war vorhin selbst durch die Wasserlache gestiefelt, als er nach einem geeigneten Versteck für sich gesucht hatte.
Glück im Unglück. Das Schicksal schien es gut mit ihm zu meinen. Dennoch war er auf der Hut, versuchte seinen kleinen Vorteil nicht durch eine unbedachte Bewegung, wieder wettzumachen. Sein Timing war jetzt von entscheidender Bedeutung. Wenn es nicht stimmte, war er so gut wie tot.
Du musst schießen und abtauchen, dachte er. Am besten wechselst du auch noch gleich nach jedem Schuss die Stellung.
Wie viel Schuss hatte er eigentlich? Er wusste es nicht genau, glaubte aber, sich zu erinnern, dass der Libanese, der ihm die Waffe vor zwei Tagen auf dem Schwarzmarkt verkauft hatte, etwas von acht Patronen im Magazin genuschelt hatte. Sicher war er sich jedoch nicht. Egal. Er würde einfach so lange feuern, bis die verdammte Pistole leer geschossen war.
Jussuf hob den Arm und zielte in die Richtung, in der er seine Gegner vermutete.
Schießen und abtauchen … Schießen und abtauchen … Schießen und abtauchen!
Ein letztes Mal tief einatmen. Ein letzter Versuch, seine Feinde in der Finsternis doch noch zu erspähen. Dann klaubte er allen Mut zusammen und drückte den Abzug der Pistole bis zum Anschlag durch.
*
Ich nahm das Handy vom Ohr, steckte es jedoch nicht in die Jacke zurück. »Alles klar, Leute, es kann losgehen.«
»Ist der Durchsuchungsbeschluss schon da?«
Ich nickte. »Jep. Ist er. Arno hat gerade Bescheid gegeben. Der Richter hat die Hausdurchsuchung soeben genehmigt. Arno schickt mir den Beschluss aufs Smartphone und bringt das Original dann im Anschluss hier vorbei.«
»Das ging aber flott!«
»Der Generalbundesanwalt hat nachgeholfen«, sagte ich. »Von denen sind übrigens auch zwei auf dem Weg hierher.«
»Aha! Und wer braucht das Gesocks?«
Ich sah Bräutigam an, der die Frage in seiner unvergleichlichen Art gestellt hatte. Diplomatie zählte nicht zu seinen Stärken, obwohl er, zumindest Freunden gegenüber, bisweilen sogar recht einfühlsam sein konnte.
»Tu mir einen Gefallen, Helmut, und halt dich mit deinen Äußerungen zurück, wenn die beiden da sind. Ich will hier kein Kompetenzgerangel, nur weil sich die Herren Staatsanwälte von dir auf den Schlips getreten fühlen.«
Bräutigam nickte, sagte aber nichts. Sein Blick ging ins Leere, er schien über irgendetwas angestrengt nachzudenken.
»Dann mal los …«
Mein Kollege Peter Schuller stieß die Tür des schwarzen Mercedes-Vans auf, mit dem er uns vor einer guten halben Stunde in Frankfurt abgeholt hatte. Er sprang ins Freie; es sah kraftvoll und geschmeidig aus, obwohl auch er an die hundert Kilo wog. Doch im Gegensatz zu Bräutigam waren seine Pfunde nicht Hannelores gutem Essen geschuldet, sondern seiner Leidenschaft für sportliche Aktivitäten. Er war wie ich ein ehemaliger KSK-Soldat, der nun beim Bundesnachrichtendienst eine neue Herausforderung gefunden hatte.
»Wie gehen wir vor?« Schullers Blick streifte meinen, während er seine schusssichere Weste mit geübtem Griff festzurrte. »Fallen wir gleich mit der Tür ins Haus oder üben wir uns in Zurückhaltung?«
Gute Frage! Ich wusste es auch nicht. Wir mussten der Ehefrau und den beiden Kindern wohl die schlimmste Nachricht von allen überbringen. Ich hasste diesen Teil unseres Jobs – die Kinder taten mir dabei stets am meisten leid.
Die Frage war jetzt nur, ob die Ehefrau eine Unbeteiligte oder eine Mittäterin war. Erschwerend kam hinzu, dass wir Petermanns Einwand, der Attentäter hätte vielleicht unter Zwang gehandelt, auf keinen Fall vernachlässigen durften. Es sprach einiges für seine Theorie, was wiederum bedeuten konnte, dass die Frau und die Kinder von den eigentlichen Terroristen als Geiseln missbraucht wurden.
Verdammt! Für welche Möglichkeit ich mich auch entschied, es war, bestimmt die falsche.
Mein Blick flog zu dem schicken Mehrfamilienhaus, in dem die Wohnung des toten Feuerwehrmanns lag. Keine Menschenseele weit und breit, die Straße und das Haus lagen friedlich und verlassen da. Augenscheinlich. Ich schaute nach oben. Alles dunkel. In Grünbecks Wohnung brannte kein Licht.
»Sieht aus, als wäre niemand da …«, sagte Fariba.
Ich nickte. »Ja, sieht so aus.«
»Finden wir es doch heraus«, sagte Schuller. Er grinste schief und schob sich den kleinen Funksender ins Ohr, über den wir bei einem Einsatz wie diesen miteinander verbunden waren. »Lasst uns die verdammte Wohnung stürmen«, sagte er. »Wir wissen schließlich nicht, was uns da oben erwartet.«
Unsere Blicke trafen sich erneut. Schuller hatte recht: Wir konnten nicht absehen, was uns in Grünbecks Wohnung erwartete.
›Rechne mit dem Schlimmsten und hoffe aufs Beste‹. Eine alte Soldatenweisheit, die wohl nicht nur mir, in Fleisch und Blut übergegangen war.
»Okay. Wir stürmen die Wohnung. Haben alle das Headset und die Schutzweste an?«
Einhelliges Nicken. Es konnte also losgehen.
»Fariba und Peter gehen mit mir ins Haus. Sebastian behält die Vorderseite im Blick und du, Helmut, deckst die Rückseite ab. Sag Bescheid, sobald du hinterm Haus bist und dir einen groben Überblick verschafft hast. Und kontrollier auch gleich die Fenster, vielleicht ist ja in einem der hinteren Zimmer irgendwas zu sehen.«
»Alles klar, Chef. Bin dann mal unterwegs …«
Petermann blieb bei uns stehen, während Bräutigam sich seitlich in die Büsche schlug. Mein Blick folgte ihm, bis er durch die Sträucher des nachbarlichen Gartens, vollends verdeckt wurde.
Ich spürte eine Berührung an der Schulter. Petermann stand neben mir – seine Linke ruhte auf meiner Schulter. Ich war irritiert. Petermann hasste nichts mehr als körperliche Nähe oder direkten Kontakt zu seinen Mitmenschen.
»Er würde lieber selbst mit hochgehen. Sein Instinkt sagt ihm nämlich …« Petermanns Finger, bohrte sich schmerzhaft in meine Schultermuskulatur, während er mir beschwörend in die Augen starrte, »… dass uns dort oben nichts Gutes erwartet.«
Ich nickte, kam aber nicht mehr dazu, ihm zu antworten.
»Ich bin jetzt hinterm Haus«, verkündete Bräutigams Stimme in meinem rechten Ohr. »In der linken Erdgeschosswohnung, also von euch aus gesehen rechts, läuft ein Fernseher. Da müsste also jemand zu Hause sein.«
»Wie sieht es im zweiten Stockwerk aus? Siehst du in Grünbecks Wohnung irgendwo Licht?«
»Nicht direkt, Mark.«
»Was heißt ›nicht direkt‹. Ist da jetzt ein Licht oder nicht?«
»Ich sehe einen schwachen Schimmer. Mehr nicht. Könnte von einem Nachtlicht, Aquarium oder so’n Dings da, na wie heißt das jetzt gleich noch … Lichterkette, ja Lichterkette stammen.«
»Zu sehen ist aber niemand?«
»Nein! Niemand zu sehen.«
»Alles klar, Helmut. Wir gehen jetzt rein. Pass bitte auf, dass uns nach hinten keiner entwischt.«
»Aus dem zweiten Stock? Das will ich sehen.«
»Pass einfach auf, ja.«
Ich hörte ein kurzes Seufzen, dem ein gepresstes »Ja mach ich«, folgte. Mein Kollege wusste genau, worauf es ankam. Es war reine Gewohnheit, dass ich ihn dennoch zur Vorsicht mahnte.
»Dann los!« Fariba schob ihre Pistole wieder zurück ins Holster; sie hatte sie soeben - wie Schuller auch – aus purer Gewohnheit überprüft. Eine Marotte. Keine Frage. Doch lieber einmal zu oft kontrolliert als das entscheidende Mal zu wenig. Das konnte den Tod bedeuten. Für einen selbst oder die Kollegen.
Ich tat es den beiden nach und checkte ebenfalls kurz meine Glock. Dann wandte ich mich zu Petermann um und schaute ihm fest ins Gesicht. »Es bleibt so wie besprochen, Sebastian. Du hältst uns den Rücken frei und achtest darauf, dass niemand aus der Haustüre spaziert, während wir oben in die Wohnung eindringen. Sobald wir alles gesichert haben, kannst du dir die Bude gern in aller Ruhe vornehmen.«
Lippenschürzen. Kämpferischer Blick. Petermann war mit meiner Entscheidung nicht zufrieden, verzichtete jedoch auf eine fruchtlose Diskussion; er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass meine Entscheidung unumstößlich war.
Wenige Atemzüge später gab ich das Zeichen zum Aufbruch. »Es geht los«, sagte ich. »Passt bitte alle, gut auf euch auf!«