Читать книгу Netz aus Lügen - Michael Bardon - Страница 6
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Оглавление»Verdammt! Achtung Leute! Er trägt einen Sprengstoffgürtel!«
Neben mir spritzte Petermann zur Seite; er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich jetzt ein wenig Platz brauchte. Ich nahm es nur am Rande wahr, da ich mich voll und ganz auf den Feuerwehrmann konzentrierte, der den Reißverschluss seiner schweren Einsatzjacke bereits zu gut zwei Dritteln heruntergezogen hatte.
Die Zeit schien still zu stehen - unsere Blicke verschmolzen miteinander. Ich sah, die Entschlossenheit, ich sah das fanatische Glimmen in seinen Augen. Es war ihm ernst. Er wollte uns alle mit in den Tod reißen.
Zeit zum Handeln! Über das Warum und Weshalb konnte ich mir später noch Gedanken machen.
Meine Hand fuhr zur Waffe. Ich war schnell, zweifelte jedoch, ob ich dieses Mal fix genug sein würde; ich verfluchte mich im Stillen selbst, weil ich nicht sofort, auf Petermanns Hinweis zu den Schuhen reagiert hatte - der Kerl trug schwarze Boots statt der üblichen schweren Einsatzstiefel. Ein dummer Fehler, der uns jetzt alle das Leben kosten konnte.
Meine Finger ertasteten die hölzernen Griffschalen der Pistole, die in einem Schnellziehhalfter an meinem Gürtel steckte. Ein Gefühl der Vertrautheit stellte sich ein. Meine Glock und ich, gemeinsam hatten wir schon eine Menge brenzlige Situationen gemeistert.
Ich hielt den Atem an, während ich die Glock aus dem Holster riss und meine Waffenhand wie von selbst nach oben flog. Der Abstand zum Attentäter betrug nur wenig Meter. Es brauchte also keinen Kunstschuss, um den falschen Feuerwehrmann auszuschalten. Er oder wir – eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Ich zwang mich zur Ruhe, zwang mich, nicht überhastet zu schießen. Während ich mein Gegenüber noch ins Visier nahm, geschahen zwei Dinge fast gleichzeitig: Ein Schuss fiel – und mehrere Detonationen verbreiteten sich über den Gehweg. Ich kniff die Augen zusammen, da ich im ersten Moment davon ausging, dass der Attentäter die Sprengung ausgelöst hatte. Sie können mir glauben , meine Erleichterung war grenzenlos, als ich registrierte, dass der falsche Feuerwehrmann nach wie vor an seinem Platz stand und mich ebenso verständnislos anstarrte wie ich ihn.
Er schwankte. Auf seinem weißen T-Shirt breitete sich auf Höhe des Herzens rasend schnell ein roter Fleck aus. Sein Blick fiel nach unten – unser Augenkontakt brach. Er riss den Mund auf, aus dem ein dünner roter Faden sickerte. »Ich muss das tun«, keuchte er, während er fassungslos an sich herabstarrte. Die Finger seiner linken Hand zitterten – sie hielten eine dünne Schnur, die irgendwo im Inneren des sprengstoffbesetzten, gut vierzig Zentimeter breiten Gürtels verschwand.
Keine Zeit, über seine Worte nachzudenken. Seine Augen verrieten ihn; er würde die Sprengung auslösen. Und zwar jetzt!
Ich zog den Stecher durch, jagte zwei Kugeln aus dem Lauf. Beide trafen ihr Ziel. Der Attentäter wurde buchstäblich von den Füßen gerissen.
Gänsehaut. Mich fröstelte. Ich hoffte inständig, dass der Attentäter die Bombe nicht noch in einer Art Reflex hatte auslösen können.
Sekunden im Nichts; ich hielt den Atem weiter an, unfähig mich zu bewegen oder etwas anderes Sinnvolles zu tun.
Bräutigam reagierte als Erster von uns vieren. Er trat zwei Schritte vor, beugte sich zu dem Feuerwehrmann herunter und zog behutsam dessen schlaffen Arm aus dem Inneren der Jacke. Die verkrampften Finger des Toten umklammerten nach wie vor die Zündvorrichtung.
»Hey, kann mir vielleicht mal einer helfen oder wollt ihr die ganze Zeit nur blöde glotzen?«
Ich erwachte aus meiner Schockstarre und eilte zu Bräutigam. Dessen Finger zitterten. Er hielt in der Rechten seine Dienstwaffe, aus deren Lauf noch ein wenig Rauch kräuselte, und in der Linken die Hand des toten Attentäters. Er schwitzte stark, atmete flach und gepresst.
»Mach hin, Alter. Ich scheiß mir gleich in die Hose.«
Unsere Blicke trafen sich. Ich sah das Flackern in seinen Augen, er war nahe dran, die Nerven zu verlieren.
»Guter Schuss!« Bräutigam und seine Dienstwaffe: Er trug sie eigentlich nur, weil er musste.
Bräutigam schnaubte wie ein gereizter Bulle. Schweiß rann von seiner Stirn und tropfte auf den Sprengstoffgürtel.
»Hör auf zu quatschen, Chef, und tu endlich was. Du weißt, ich hab Rücken. Wenn ich noch länger so gebückt stehe, komm ich nie wieder hoch.«
Ich nickte, zog mein Schweizer Taschenmesser aus der Hosentasche und schnitt vorsichtig die Schnur durch, die eine ganz gewöhnliche braune Kordel war.
»Du kannst seinen Arm jetzt loslassen.«
»Bist du dir sicher?«
Ich schaute Bräutigam nur an. Der nickte nach ein paar Sekunden – sein Gesicht war vom Vornübergebeugtstehen rot angelaufen.
»Hast dir ja reichlich Zeit gelassen«, murrte er, während er den Arm des Toten losließ und sich mit verkniffenen Gesicht langsam aufrichtete.
Keine Zeit zum Atemholen, keine Zeit, sich länger als ein paar Sekunden mit dem toten Attentäter zu beschäftigen. Die Staubwolke war nun ganz nah. Uns trennten nur noch wenige Meter vor der nächsten tödlichen Gefahr.
»Komm, Helmut, wir müssen weg.«
»Aber …«
Ich packte Bräutigam am Arm und zog ihn hinter mir her. Mein Ziel war eine kleinere Gruppe Feuerwehrmänner, die fassungslos zu uns herüberstarrten und nicht so recht einschätzen konnten, was da soeben geschehen war. Fariba stand bereits bei den Männern, hielt ihren Ausweis in die Luft und sprach beruhigend auf sie ein.
»Und was ist mit dem da?« Bräutigam sträubte sich, schien die tödliche Gefahr, die von hinten herangekrochen kam, überhaupt nicht wahrzunehmen.
»Um den kümmern wir uns später«, sagte ich und verdoppelte meine Anstrengung. Mein Kollege wog knapp hundert Kilo. Denn konnte man nicht so einfach mit sich fortziehen.
»Und wenn das verdammte Ding doch noch hochgeht?«
»Dann ist niemand mehr da, der Schaden nehmen kann«, erwiderte ich gereizt. Das Atmen fiel mir immer schwerer. Meine Augen tränten, ich musste ständig husten. Der falsche Feuerwehrmann hatte nicht übertrieben, als er die Staubwolke als gefährlich bezeichnet hatte.
Ich sah mich um, suchte nach Petermann, konnte ihn jedoch nirgendwo ausmachen.
»Suchst du was?« Bräutigam, der endlich seinen Widerstand aufgegeben hatte, trabte neben mir her. Er schien noch schlechter Luft zu bekommen als ich, wahrscheinlich wegen seines Asthmas.
»Ja! Ich kann Sebastian nirgendwo entdecken. Hast du gesehen, wo er hingegangen ist?«
»Nee, hab ich nicht. Ich hatte Besseres zu tun, als auf unseren abgetretenen Herrn Professor zu achten.«
Ich nickte. Die alte Leier. Helmut und Sebastian waren sich nach wie vor nicht grün. Die beiden waren einfach zu unterschiedlich, um gut miteinander auszukommen.
Mein Blick machte erneut die Runde, während wir zügig auf die Feuerwehrmänner zuliefen. Von Petermann war auch weiterhin nichts zu sehen. Ich wurde langsam unruhig, machte mir Sorgen, konnte mir selbst aber nicht erklären weshalb. Petermann war ein Eigenbrötler. Ein kleiner selbstverliebter Egomane. Seine Alleingänge waren legendär. Dass er sich damit manchmal in Schwierigkeiten brachte, nahm er billigend in Kauf. Er war eben ein Individualist, dessen brillanter Geist nicht wie unser funktionierte. Und gerade deshalb schätzte ich ihn als festen Bestandteil unseres Teams. Auch wenn er uns allen des Öfteren gehörig auf die Nerven ging.
Ich sah mich erneut nach ihm um. Das Sebastian so einfach verschwunden war, konnte eigentlich nur bedeuten, dass er irgendetwas entdeckt hatte, das es seiner Meinung nach sofort zu ergründen galt.
Der Druck auf meinen Magen nahm zu, während in meinem Kopf ein kleiner Film an möglichen Szenarien ablief.
Ich zog mein Smartphone aus der Tasche, verscheuchte meine düsteren Gedanken und wählte Petermanns Nummer, bekam jedoch keine Verbindung. Das Netz schien komplett überlastet zu sein. Logisch! Die Menschen sorgten sich um ihre Liebsten und versuchten einander zu erreichen.
»Hey, mach dir um Sebastian keinen Kopf. Wer den klaut, bringt ihn nach wenigen Stunden wieder zurück.«
Ich sah Bräutigam an, der ein schiefes Grinsen aufgesetzt hatte. Er schnitt eine Grimasse und winkte mit der Linken ab.
»Schau nicht so. Ich habe doch recht, oder?«
»Haha, wirklich sehr hilfreich, Helmut. Ich lach dann mal später, ja.«
Bräutigam grinste vielsagend, verzichtet jedoch auf einen weiteren Kommentar. Wenige Augenblicke später hatten wir unsere Kollegin Fariba Sedate erreicht, die gerade einer Handvoll Feuerwehrmännern zu erklären suchte, auf was sie bei der Absperrung des Tatorts achten sollten.
Die Zeit drängte. Der Körper des Attentäters war bereits zu gut zwei Dritteln von der Staubwolke verschluckt. Da der Sprengstoffgürtel jedoch noch aktiv war, mussten wir den Tatort sichern, damit niemand, versehentlich oder aus Absicht, die Sprengung doch noch auslösen konnte.
Mein Blick checkte erneut die Umgebung, während ich darauf wartete, dass Fariba ihren Vortrag beendete. Sie nahm es heute wieder einmal besonders genau, obwohl die Zeit oder besser die verdammte Staubwolke uns gehörig im Nacken saß.
»Was hat da vorhin eigentlich so gerumst?«, fragte Bräutigam. »Ich hab im ersten Moment echt geglaubt, dass ich den Scheiß-Sprengstoffgürtel getroffen habe und uns jetzt alles um die Ohren fliegt.«
»Ging mir auch so.« Ich sah Bräutigam an, dessen schweißnasses Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck angenommen hatte. Seine Frage war berechtigt. Auch in mir rumorte die Frage, ob es weitere Anschläge in der Stadt gegeben hatte.
Hoffentlich nicht!
Die Rettungskräfte waren mit diesem hier schon sehr gefordert. Nicht auszudenken, was eine ganze Anschlagserie in einer Großstadt wie Frankfurt für ein Chaos anrichten würde.
»Meinst du, dass es noch weitere Anschläge gegeben hat?«, fragte Bräutigam. »Hat jedenfalls ganz danach geklungen, wenn du mich fragst. Das hat ja gescheppert … Das waren mindestens drei oder vier Explosionen.«
Ich zuckte die Schultern. Fürs Spekulieren war jetzt einfach keine Zeit. Wir hatten schon genug um die Ohren. Falls es wirklich weitere Anschläge gegeben hatte, würden wir das noch früh genug erfahren.
»Es waren Detonationen. Und zwar genau fünf an der Zahl! Er hat mitgezählt.«
Ich fuhr herum. Petermann war – von Helmut und mir unbemerkt – von hinten an uns herangetreten.
»Wo warst du denn?« Meine Frage klang vorwurfsvoll. Bewusst.
Lippenschürzen gefolgt von einem tadelnden Kopfschütteln. »Hat er sich etwa gesorgt?« Petermann griente, es sah ein wenig überheblich aus. Sollte es wahrscheinlich auch. Sein Grinsen wurde breiter, seine rechte Hand fuhr die Konturen seines Scheitels nach. »Er kann ihm versichern, dass er dies ganz sicher nicht muss, weil er …«, sein manikürter Zeigefinger stupste gegen seine Brust, »… sich seit vielen Jahrzehnten bestens selbst vorstehen kann.«
»Er nun wieder …« Bräutigam schnaufte erneut wie ein gereizter Bulle. »Hab ich es dir nicht gesagt? Den behält keiner freiwillig. Du hast dir mal wieder ganz umsonst Sorgen um den Kerl gemacht.«
Ich ignorierte Bräutigams Geplapper und konzentrierte mich weiter auf Petermann. »Nun sag schon. Was ist dir aufgefallen? Wen oder was hast du gesehen?«
Erneutes Lippenschürzen. Petermanns Blick fraß sich in meinen. »Er hat kurz gedacht, er habe jemanden Bekanntes gesehen«, räumte er nach einer kurzen Bedenkzeit ein.
»Wen?«
Petermanns Blick blieb an mir haften, obwohl Bräutigam die Frage gestellt hatte. Er hob die Schultern und zog ein bedauerndes Gesicht. »Er hat sich allen Anschein nach getäuscht. Dies geschieht zwar nicht oft, das letzte Mal ist schon sehr lange her, kommt aber hin und wieder leider auch mal vor.«
»Hört, hört! Das sind ja ganz neue Töne.« Bräutigam war begeistert. Hohn schwang in seiner Stimme mit. Er beugte sich vor, tat so, als sei er besorgt. »Du bist doch nicht etwa krank, hast Fieber oder was Schlimmeres?«
Petermann ignorierte seinen Sarkasmus. Sein Blick ruhte weiterhin auf mir, was mir, wenn ich ehrlich bin, leichtes Unbehagen bereitete. Mein Zwerchfell kribbelte. Ich kannte Petermann gut genug, um die Lüge hinter seinen Worten zu durchschauen. Er verschwieg uns etwas. Das war offensichtlich.
Ich wollte gerade nachhaken, wurde jedoch von meiner Kollegin Fariba Sedate daran gehindert.
»Ihr müsst hier weg, Mark«, sagte sie. »Die Staubwolke soll extrem gefährlich sein. Laut Messungen der Feuerwehr transportiert die Wolke ein ganzes Sammelsurium an Giftstoffen. Es besteht akute Lebensgefahr. Und zwar für jeden, der ungeschützt mit der Staubwolke in Berührung kommt.«
Unsere Blicke trafen sich – ich sah den besorgten Ausdruck in ihrem Gesicht.
»Wir können den Attentäter hier nicht einfach zurücklassen. Sein Sprengstoffgürtel ist noch immer aktiv. Wir müssen dafür sorgen, dass dem Kerl keiner zu nah kommt.«
Meine Kollegin nickte. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es stand ihr gut. Ich mochte dieses altkluge Schmunzeln.
»Ich kümmere mich darum«, sagte sie, während sie sich eine Locke aus dem Gesicht blies. Sie hatte dunkle, beinahe tiefschwarze Haare, die genauso widerspenstig waren wie sie selbst. »Die Jungs haben noch eine komplette Schutzausrüstung. Sie bereiten sie gerade für mich vor.«
»Hey, Feuerwehrmannspielen ist aber Männersache.«
Bräutigam. Niemand schenkte ihm Beachtung.
Ich dachte kurz nach, ging in Gedanken unsere Optionen durch. Zwei Sekunden später drückte ich meine Zustimmung, durch ein knappes Nicken aus.
»Alles klar, Fariba. Dann ziehen wir uns in den Starbucks zurück, den Sebastian vorhin erwähnt hat. Gib gleich Bescheid, wenn die Gefahr vorbei ist. Ich will nämlich so schnell wie möglich an den eigentlichen Tatort ran.«