Читать книгу Shadow King - Michael Curtis Ford - Страница 10

3

Оглавление

Nach dem Essen ließ Julia ihre Mum lesend am Kamin sitzen und schleppte sich nach oben. Ihre Beine waren steif und schmerzten vom langen Laufen. In ihrem Zimmer warf sie sich aufs Bett und schaute erneut aufs Handy, falls sie durch irgendein Wunder doch noch Empfang haben sollte, um eine ihrer Freundinnen anzurufen. Hatte sie nicht. Und was hätte sie auch sagen sollen? Es gab keine Worte, um zu erklären, was passiert war. Beth redete ausschließlich über Jungs, und wenn Julia versucht hätte, ihr von dem Hasen zu erzählen, hätte sie geglaubt, sie wäre verrückt geworden. In Windeseile würde sich die Neuigkeit verbreiten, dass Julia in der Wildnis von Wales den Verstand verloren hatte. Und sie würde es ihr nicht einmal verübeln können. An ihrer Stelle würde sie das Gleiche denken. Sie starrte zur Decke, wo der Putz zwischen den frei liegenden Holzbalken abbröckelte. Sie fühlte sich schrecklich allein.

Julia wusste, dass sie sich den Schlafanzug anziehen und die Zähne putzen sollte, aber das Bett fühlte sich plötzlich so weich und bequem an, und noch einmal aufzustehen schien völlig unmöglich. Ihre Lider wurden schwer, und sie ließ sie zufallen, nur für eine halbe Sekunde.

Als sie die Augen wieder aufschlug, war das Zimmer verschwunden. Sie kauerte in einem Wald mit riesigen knorrigen Bäumen, die zu allen Seiten über ihr aufragten. Die Welt schien aus der Form geraten zu sein, als blickte sie durch eine Zerrlinse, durch die sie gleichzeitig sehen konnte, was über und hinter ihr lag. Sie sah nicht nur die Zweige über sich, sondern auch ihre eigenen pelzigen Flanken.

Ich bin ein Hase.

Der Gedanke wirkte ganz natürlich. Und sie hatte keine Angst, denn irgendwie wusste sie, dass es nur ein Traum war. Schließlich hatte sie eben noch todmüde auf ihrem Bett gelegen. Sie musste noch immer dort liegen, und es war ein komisches Gefühl, das so genau zu wissen. Es war anders als ein gewöhnlicher Traum.

Sie schloss die Augen und versuchte, die verbeulte Matratze zu ertasten, doch als sie die Augen wieder öffnete, war der Wald immer noch da. Ihr Herz schlug schnell unter ihrem Fell – ihr Hasenherz, klein, aber genau richtig für ihren zarten Körper. Sie huschte durchs Laub. Als sie schneller wurde, spürte sie die Kraft in ihren Hinterläufen.

Ihre Ohren folgten einem Rascheln im Unterholz. Etwas Helles bewegte sich durch die Bäume. Sie war sicher, dass es ein anderer Hase war – der weiße Hase –, und setzte ihm nach, über knorrige Baumwurzeln, die Pfoten sicher aufsetzend, bevor sie nach vorn sprang. Von einem Baumstumpf aus suchte sie die Umgebung ab, ließ die Augen zwischen den dunklen Zwischenräumen hin und her huschen.

Der Hase war weg. Vielleicht hatte sie ihn sich nur eingebildet.

Sie sprang wieder auf den Boden und hoppelte flink durchs Unterholz. Wenn es ein Traum war, dann waren die Sinneseindrücke anders, als sie es je zuvor erlebt hatte. Der Geruch von fleischigen Würmern, die durch die Erde krochen, das Rascheln der trockenen Blätter, das Perlen eines Wassertropfens auf ihrem Fell – das alles war hyperreal.

Der Boden war silbrig gesprenkelt vom Mondschein, und sie wagte sich vorsichtig auf eine Lichtung. In der Mitte stand ein Hinkelstein, genau wie der auf dem Gipfel des White Hare Hill. Wie hatte Mum ihn genannt – einen Menhir? Vorsichtig lief sie darauf zu. Aus ihrer Hasenperspektive sah er gewaltig aus, doch im Näherkommen wurde ihr klar, dass er wirklich beinahe die gleiche Form und Größe haben musste wie der, den sie zuvor gesehen hatte, als wäre er von seinem Platz auf dem Hügel hierher in den Wald verpflanzt worden. Er schien genau ins Herz des Vollmonds zu zeigen, und in dem kalten Licht wirkte seine Oberfläche wie frisch behauen, so scharf waren die Kanten. Die verwitterten Zeichen, die sie auf dem Hügel gesehen hatte, waren tiefer eingekerbt – menschengemachte Symbole von uralter Bedeutung, bemalt mit Ockerfarbe.

Ein Flackern des Mondlichts ließ sie den Kopf heben, und sie bemerkte erschrocken, dass sie nicht allein war. Etwas Riesiges bewegte sich am Rand der Lichtung. Sie spürte seine Gegenwart im bebenden Boden unter ihren Pfoten. Ein eigentümlich gegabelter Ast schob sich ins Licht, gefolgt von einem Kopf. Ein Geweih! Es war ein riesiger Hirsch, der zwischen den Bäumen hervortrat. Vor seinen Nüstern bildeten sich Atemwölkchen.

Instinktiv wich Julia tiefer in den Schatten des Menhirs zurück und fühlte etwas an ihrem Fell entlanggleiten. Sie drehte den Kopf ein winziges Stück und entdeckte ein weiteres Geschöpf. Es war kleiner als der Hirsch, jagte ihr jedoch einen Schrecken ein, der in alle Fasern ihrer Beinmuskeln fuhr und ihren Fluchtinstinkt weckte. Es glitt aus dem Schatten, seine Rippen waren gut sichtbar unter den grauen Flanken, in seinen Augen glühte der Trieb eines Jägers – ein Wolf.

Der Teil von ihr, der immer noch Julia war, wusste, dass es in Großbritannien keine Wölfe gab – nicht mehr –, doch das spielte jetzt keine Rolle. Dieses Wesen war so real wie sie selbst. So nah, dass sie seinen Atem riechen konnte. Ihre Muskeln spannten sich, bereit zur Flucht, als seine Zähne hell vor dem schwarzen Zahnfleisch aufblitzten. Der Ansatz eines Knurrens grollte aus seiner Kehle.

Dann sprach eine Stimme in Julias Kopf. Eine Stimme, die nicht ihre eigene war.

Wer bist du?

Julia erstarrte. Es klang wie die Stimme eines Mädchens, aber sie gehörte dem Wolf. Aus irgendeinem Grund wusste sie das ganz sicher. Und sie klang nicht bedrohlich.

Nach ein oder zwei Sekunden gelang es ihr, selbst Worte zu finden. Ich bin Julia, dachte sie und hoffte, dass der Wolf sie hören konnte. Bist du … ein Mensch?

Jedenfalls war ich einer, als ich eingeschlafen bin, lautete die Antwort. Mein Name ist Abena.

Das kann nicht sein. Ihr seid nur ein Teil meines Traums. Diesmal sprach der Hirsch. Eine Jungenstimme. Sein riesiger Körper schwankte leicht, als er auf sie zukam. Julia konnte die Spiegelung des Hasen in den glänzenden Halbkugeln seiner Augen sehen.

Ich bin Julia, dachte sie wieder. In ihrem Hirn drehte sich alles. Ganz bestimmt war sie diejenige, die träumte, und diese Geschöpfe stammten aus ihrem eigenen Kopf. Ganz bestimmt. Aber sie wirkten so echt – und genauso verwirrt wie sie selbst.

Der Wolf kam näher, und Julia duckte sich hinter den Hirsch.

Warum läufst du weg?, fragte der Wolf.

Du bist ein Wolf, erwiderte Julia. Wölfe fressen Hasen, oder etwa nicht?

Ich hab doch schon gesagt, dass ich ein Mensch bin. Nenn mich Abena.

Julia wagte sich wieder näher. Ich habe noch nie jemanden im Traum getroffen.

Es fühlt sich nicht an wie ein Traum, sagte der Wolf und wandte sich an den Hirsch. Oder?

Der Hirsch schwieg. Als er antwortete, klang er zögerlich. Mein Name ist Ehsan.

Erneutes Schweigen. Dann sprach der Wolf. Ich glaube … Ich glaube, es muss etwas mit der Maske zu tun haben, die ich gefunden habe.

Julias Ohren richteten sich auf.

Der Hirsch warf den Kopf herum und scharrte nervös mit den Hufen. Ich habe auch eine gefunden. Gestern, auf dem Dachboden.

Meine lag im Kanal, sagte der Wolf – Abena. Sie hatte sich in ein paar Gräsern verfangen. Ich habe sie gefunden, als ich mit anderen Freiwilligen Müll gesammelt habe.

Ein Schauer lief über Julias Fell. Ich habe meine im Wald gefunden, sagte sie. Habt ihr eure aufgesetzt?

Ja, sagte Abena. Es war … komisch.

So richtig komisch, echote Ehsan.

Wieder wurde es still auf der Lichtung. Wenn diese Wesen echt waren – wenn sie ein Junge und ein Mädchen waren, so wie Julia –, dann war klar, dass sie dieselbe außerkörperliche Erfahrung erlebten, meilenweit entfernt von ihrem Zuhause.

Was geschieht mit uns?, fragte Abena. Die Nervosität in ihrer Stimme passte nicht recht zu ihrem furchterregenden Anblick.

Bevor jemand antworten konnte, hob sich der Kopf des Hirschs, und ein kalter Wind schüttelte die Zweige. Wieder kribbelte Julias Fell. Dem Wolf sträubten sich die Rückenhaare.

Was war das?, fragte Ehsan.

Als der Wind sich legte, erspähten Julias scharfe Augen einen Umriss auf einem Ast über der Lichtung. Eine Eule hockte dort und hielt reglos ihren gelben Blick auf sie gerichtet. Sie wartete, doch es war keine Stimme zu hören.

Wer bist du?, fragte Julia.

Seit wann sitzt die schon da?, flüsterte Abena.

Die muss uns beobachtet haben, sagte Ehsan. Er schüttelte sein Geweih. He, kannst du auch sprechen?

Die Eule wandte den Kopf ab, hüpfte vom Ast und breitete die Flügel aus. Mit drei schweren Flügelschlägen glitt sie unter einem tief hängenden Zweig hindurch und in den Wald hinein. Julia sah, wie sie von den Schatten verschluckt wurde.

Vielleicht sollten wir ihr folgen, sagte Ehsan unsicher.

Kaum hatte er das gesagt, fuhr erneut ein Windstoß über die Lichtung, so stark, dass das Laub aufgewirbelt und gegen den Menhir geweht wurde. Julia schauderte.

Mir gefällt es hier nicht, sagte Abena.

Wieder kam der Wind, und diesmal nicht nur als Bö. Zweige peitschten über ihnen und brachen krachend. Blätter wirbelten auf und schienen in der Luft zu verweilen. Julias Kehle wurde trocken, als sie sah, dass sie ein Muster bildeten. Die Blätter bildeten eine Form über dem Menhir, als wären sie in einem winzigen Tornado gefangen: eine Spirale. Julia war sicher, dass sie diese Form schon mal irgendwo gesehen hatte, vielleicht in einem von Mums Büchern. Das Ganze fühlte sich ziemlich verstörend an. Alle Sinne rieten ihr, zu verschwinden – diese Spirale hatte eine Bedeutung.

Sie war gefährlich …

Böse.

Der Wind wurde zum Sturm und blies so heftig, dass sie sich nur mühsam auf den Pfoten halten konnte. Abenas Fell wurde flach an ihren Körper gepresst. Die Blätter wirbelten immer schneller. Über ihnen brach splitternd ein Ast und stürzte zu Boden.

Ich glaube, wir sollten abhauen, rief Julia über den Lärm hinweg.

Der Hirsch drehte sich um und sprang an den Rand der Lichtung. Julia folgte ihm an der Seite des Wolfs. Laub und kleine Zweige schlugen ihr ins Gesicht und nahmen ihr die Sicht, doch sie rannte blindlings weiter. Die anderen waren schon weg, und sie fühlte sich schutzlos.

Immer mehr Bäume stürzten um, Äste schlugen krachend zu Boden, und Wurzeln wurden mit einem entsetzlichen Knirschen aus dem Erdreich gerissen, sodass feste schwarze Erdklumpen durch die Luft geschleudert wurden. Direkt vor Julia spaltete sich ein Baumstamm splitternd der Länge nach und entblößte sein bleiches Inneres. Die Krone kam auf sie zugerast – es gab kein Entkommen.

Julia erstarrte. Sie konnte nur noch beten, dass das Gewicht der Äste sie irgendwie verschonte. Doch als der große kalte Schatten über sie fiel, wusste sie, dass es hoffnungslos war …

Julia fuhr kerzengerade in die Höhe und schnappte panisch nach Luft. Sie war in ihrem Bett. Es war dunkel im Zimmer und warm, die Kleider klebten ihr schweißnass am Körper. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war. Die Vorhänge waren zugezogen, ihre Mutter musste das irgendwann getan haben. Außerdem hatte sie eine Decke über sie gelegt. Julia strampelte sie weg.

Sie zog die Vorhänge auseinander und öffnete das kleine Fenster in die Nacht. Derselbe Vollmond, den sie im Traum gesehen hatte, stand am sternenübersäten Nachthimmel.

Also war es wirklich ein Traum gewesen. Aber der sonderbarste, lebhafteste Traum, den sie je gehabt hatte.

Ihr Handy sagte ihr, dass es kurz nach zwei war. Sie stand auf und spürte den Schweiß kühl auf ihrer Haut. Auf Zehenspitzen schlich sie über die quietschenden Bodendielen in den Flur. Im Haus war es still. Sie spähte durch den Türspalt ins Zimmer ihrer Mutter und sah sie unter der Decke fest schlafen.

Ohne das Licht einzuschalten, putzte sie sich in dem winzigen Bad die Zähne und wusch sich das Gesicht. Dann betrachtete sie sich im Spiegel. Einen Augenblick lang – die Schatten oder ihr Gehirn mussten ihr einen Streich spielen – sah ihr Spiegelbild missgestaltet aus, pelzig, mit weit auseinanderliegenden Augen und einer langen Nase. Julia kniff die Augen zu, und als sie sie wieder öffnete, hatte sie ihr normales, menschliches Gesicht vor sich.

Es war nur ein Traum. Oder nicht?

Nichts, wovor sie sich fürchten musste.

Sie zog ihren Schlafanzug an und ging wieder ins Bett. Doch ihre Gedanken waren aufgewühlt, und sie kam nicht zur Ruhe. Nachdem sie sich einige Minuten lang hin und her gewälzt hatte, merkte sie, warum. Irgendetwas bohrte sich in ihren Rücken. Die Maske – natürlich. Sie griff unter die Matratze und zog sie hervor.

Jetzt schien sie gar nichts Seltsames mehr an sich zu haben. Sie war nur ein altes Stück Holz. Julia ging zu der kleinen Kommode und öffnete die unterste Schublade. Der Tag war verwirrend gewesen. Der weiße Hase, die Neuigkeit, dass dieser Wanderfalke zu ihnen nach Hause gekommen war … Es war nicht wirklich überraschend, dass sie einen verstörenden Traum gehabt hatte.

Behutsam legte sie die Maske in die Schublade. Dann überlegte sie es sich anders, zog die Maske noch einmal hervor, wickelte einen Pullover darum und schloss die Schublade. Sie kroch wieder unter die Decke. Morgen würde sie entscheiden, was damit passieren sollte. Vielleicht war es doch das Beste, wenn Mum sie in irgendein Museum brachte.

Diesmal kam der Schlaf nur langsam. Immer wenn Julia die Augen schloss, sah sie die Waldlichtung aus ihrem Traum vor sich. So unmöglich es auch war, sie wurde das Gefühl nicht los, dass das, was sie erlebt hatte, nicht nur in ihrer Vorstellung existiert hatte. Jedenfalls nicht Ehsan und Abena. Wenn die beiden nur ihrer Fantasie entsprungen waren, hatten sie verdammt nach echten Kindern geklungen.

Genau wie sie.

Shadow King

Подняться наверх