Читать книгу Shadow King - Michael Curtis Ford - Страница 4
ОглавлениеDie Menschen aus der Gegend nannten die Höhlen Caer Droia – Labyrinth. Es hieß, es gebe über hundert Wege hinein, aber keinen einzigen hinaus. Man erzählte sich viel über die Caer Droia, von Kobolden und dergleichen, aber das waren nur Schauergeschichten, um neugierige Kinder abzuschrecken. Die Caer Droia waren auch ohne Monster gefährlich genug.
Die vielen Eingänge lagen in der Landschaft verstreut – auf Waldlichtungen oder in Stollen, die unter dem Totholz vergangener Herbste begannen. Und hier und da konnte man, wenn man sich zwischen zwei große Felsen zwängte, den dunklen Schlund eines Tunnels finden. In sehr trockenen Sommern, so hieß es, taten sich mitunter Erdlöcher in den schwarzen Abgrund auf. Von Zeit zu Zeit verschwand ein Schaf von den umliegenden Höfen und wurde erst Monate später als verrottendes Skelett wiedergefunden, das in einer morastigen Öffnung eingeklemmt war.
Ein paar abenteuerlustige Höhlenforscher hatten versucht, das Labyrinth zu erkunden, doch sie waren nicht weit gekommen. Es galt als unnötiges Risiko. Der Mühe nicht wert.
Jedenfalls für die meisten.
An einem der ersten Frühlingstage, der so kühl und klar war wie ein letzter Hauch des Winters, bemerkten mehrere Einwohner des Städtchens zwei unbekannte Besucher. Es war ein seltsames Paar – die Frau groß und drahtig, mit krähenschwarzen Haaren und so hellen Augen, dass sie grau wirkten, der Mann ein stämmiger Riese, muskulös wie ein Bodybuilder.
Als sie den Laden für Kletterausrüstung in der Hauptstraße betraten, nahm der Eigentümer an, sie hätten sich schlichtweg verlaufen und wollten nach dem Weg fragen. Umso überraschter war er, dass sie Kunden waren und sogar eine lange Einkaufsliste dabeihatten. Er hörte sich ihre Wünsche geduldig an und schaffte alles herbei, was sie brauchten: Stirnlampen, Helme, Seile und Klettergurte. Er versuchte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, doch die Frau antwortete nur einsilbig, der Mann gar nicht. Als sie den Laden wieder verließen, nachdem sie ein kleines Vermögen dort ausgegeben hatten, atmete er erleichtert auf. Die beiden waren ihm … unheimlich.
Das Paar verließ die Stadt und hielt einige Meilen außerhalb an einer einsamen Straße, lief an einer verwitterten Steinmauer vorbei und auf ein Wäldchen am Fuß eines Hügels zu. Sie hatten keine Karte bei sich, denn sie folgten keinem vorgegebenen Weg. Die Autoschlüssel ließen sie im unverschlossenen Wagen zurück.
Der Einstieg in die Caer Droia war an dieser Stelle schmal und unter einem Felsvorsprung verborgen. Wortlos legten die Frau und ihr Gefährte ihre Ausrüstung an. Die Frau ließ sich als Erste durch die Öffnung hinab, der Mann folgte ihr. Dann verschluckte sie die Dunkelheit.
Drei Stunden lang kämpften sie sich durch enge Gänge, völlig durchnässt von den vielen unterirdischen Wasserbecken, die sie durchqueren mussten. Scharfe Steinspitzen schnitten ihnen in die Haut und schürften ihre Arme und Beine auf, doch sie beklagten sich nicht. Ihre Stirnlampen warfen ein weißes Licht auf den feuchten Fels, der vor ihnen lag und silbrig schimmerte. So, wie die Schatten über die Wände huschten, sah es aus, als würden sie sich wellenförmig bewegen wie das Innere einer gigantischen Kreatur.
Sie ließen kein Seil als Wegweiser zurück an die Oberfläche hinter sich.
Schließlich gelangten sie in eine Sackgasse – Steine und Geröll versperrten den halb überfluteten Durchgang. Die Frau fuhr tastend über das Gestein. In einen großen Felsen war eine Art Symbol eingeritzt. Ein geschwungenes, wirbelndes Zeichen … Oder war es nur eine Täuschung von Schatten und Licht?
Die Frau stieß ein leises Zischen aus. Dann ging sie in die Knie, glitt ins Wasser, das die Steine umgab, und tauchte in die Schwärze.
Der Mann folgte ihr, ohne zu zögern.
Das Wasser war tief und trüb vom Steinstaub im Licht der Stirnlampen. Sie schwammen durch einen schmalen Spalt zwischen den Felsen, drückten, quetschten sich hindurch. Dann tauchten sie wieder auf und stiegen auf der anderen Seite aus dem Wasser.
Sie waren in eine Höhle gelangt. Der Raum war etwa dreißig Meter breit und ebenso hoch, und von der Decke hingen unzählige Stalaktiten. In den Wänden glitzerten Quarzadern. Doch das Bemerkenswerteste waren nicht die Gesteinsformationen, sondern das, was sich in der Mitte des Gewölbes erhob.
Ein Baum.
Seine Rinde musste schon vor langer Zeit abgeblättert sein und hatte ihn bleich wie einen Knochen zurückgelassen. Nackte, gekrümmte Äste reckten sich in die Höhe, wo sie sich mit den Stalaktiten verwoben, und die frei liegenden Wurzeln zogen sich über den Höhlenboden wie gespannte Sehnen unter blasser, alter Haut.
In den Augen der Frau blitzte etwas auf, als sie ihn betrachtete.
»Wir haben ihn gefunden, Triton«, sagte sie. Ihre Stimme war nicht mehr als ein erregtes Flüstern. »Gerade zur rechten Zeit.«
Der Mann nickte. Seine Lippen waren blau vor Kälte.
Als die Frau wieder sprach, war es kein Englisch. Ihre Worte glichen einem Lied, einer Art Singsang. Keltisch vielleicht, sie strömten aus ihr heraus wie Wasser, plätscherten immer schneller und wilder. Ein tosender, schäumender Fluss.
Sie kniete sich vor den Baum und umfasste seine Wurzeln mit beiden Händen. Etwas geschah mit ihr – es war, als nähme sie etwas aus dem Baum in sich auf, ihre Haut wurde so fahl wie der Stamm und so dünn, dass die Adern darunter sichtbar wurden. Schwarze Adern. Ein dunkles Gift floss wie Tinte über ihre Hände und Unterarme und verschwand unter den Ärmeln ihres Overalls. An ihrem Hals kam es wieder zum Vorschein, kletterte über Kinn und Wangen.
Als sie wieder aufstand, holte sie tief Luft und drehte sich lächelnd zu ihrem Begleiter um. Sie wirkte größer als zuvor. Stärker. Verjüngt. Ihre Haut leuchtete. Von der Dunkelheit war nichts zurückgeblieben als eine kleine schwarze Spirale in der Mitte ihrer Stirn, wie eine Tätowierung. Sie pulsierte, als wäre sie lebendig. Der Mann stellte sich neben sie, und gemeinsam betrachteten sie den Baum.
Obwohl kein Wind wehte, begannen sich seine Zweige zu bewegen, streckten sich wie Finger.
»Erwache zum Leben, mein König«, raunte die Frau. »Komm wieder zu Kräften. Wenn die Frühjahrstagundnachtgleiche eintritt …« – ihre Stimme wurde leiser und drang scharf durch die Dunkelheit – »bist du endlich frei.«