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Das Taxi vom winzigen Bahnhof in Llangelin stank nach Zigaretten und dem Mittagessen des Fahrers, was auch immer das gewesen war. Julia Holt wollte nur raus. Sie kurbelte das Fenster herunter und sog die süße Frühlingsluft ein.

»Hier kommen nich’ grad viele raus«, bemerkte der Fahrer. »Aber wenn Sie Ruhe und Frieden wollen, ist es genau das Richtige für Sie.«

»So ist es«, erwiderte Julias Mutter fröhlich.

Julia verdrehte die Augen. Das Richtige für dich, dachte sie.

»Und natürlich hat die ganze Gegend einen starken Bezug zur druidischen Geschichte«, fügte ihre Mum hinzu. »Sie wissen ja, wegen der Ley-Linien …«

Julia kannte es in- und auswendig. Mum faselte immer von Ley-Linien – nicht gekennzeichneten, prähistorischen Linien, die angeblich spirituelle Stätten und alte Bauwerke miteinander verbanden. In der Nähe von Llangelin sollten sich mehrere dieser Linien kreuzen, einer der Hauptgründe, warum Mum sich für den Ort entschieden hatte.

»Wie weit noch?«, fragte Julia, als Mum eine kurze Atempause einlegte.

»Laut Navi sind wir gleich da«, antwortete der Fahrer. »Ah – da ist es ja schon!«

An einem verwitterten Wegweiser mit der Aufschrift Little Nook bogen sie von der Landstraße ab, rumpelten über einen unebenen Feldweg zwischen hohen Hecken und platschten durch Pfützen vom letzten Regenschauer. Der Weg endete vor einem kleinen Cottage mit Reetdach, das mit dem Rücken zum Wald stand. Die winzigen zweiflügeligen Fenster waren vom Alter verzogen und schief, und die Pflanzen, die in Tontöpfen an der Mauer standen, wucherten unkontrolliert vor sich hin.

Sie hielten genau vor der hölzernen Haustür, die so aussah, als wäre sie gut zwei Handbreit zu klein für alle, die in den letzten hundertfünfzig Jahren zur Welt gekommen waren.

»Oh, ist das nicht romantisch?«, flötete Mum und stieg aus. »Viel schöner als auf den Fotos im Internet!«

»Es ist gruselig«, murmelte Julia. Es sah aus wie ein Haus aus einem Märchen, in dem unschuldigen Kindern schlimme Dinge passierten.

Der Fahrer holte ihr Gepäck aus dem Kofferraum. »Na dann, schönen Urlaub«, sagte er.

Julia machte sich nicht die Mühe, ihn zu korrigieren. Das hier war kein Urlaub. Fast alle ihre Freunde würden sich in den Ferien in London treffen oder sogar ins Ausland reisen, das war Urlaub. Nur sie saß hier fest, mitten im Nirgendwo, während ihre Mum arbeitete.

»Und viel Glück mit dem Buch, Frau Professor!«, fügte der Fahrer hinzu, ehe er den Motor startete.

»Danke!«, rief Julias Mum ihm nach. Dann wandte sie sich an Julia. »Wie nett von ihm, dass er es sich gemerkt hat.«

Wäre auch schwer, es zu vergessen, Mum, dachte Julia. Du hast auf der ganzen Fahrt von nichts anderem geredet.

Der Fahrer hatte sich bemüht, Interesse an den alten Geschichten und Brauchtümern zu zeigen, aber Julia hatte gemerkt, dass er nur höflich war. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Ihre Mutter mochte eine der führenden Wissenschaftlerinnen zum Thema druidischen Glaubens sein, mit ihrem Doktortitel von der Universität Oxford, doch sie schien nicht zu begreifen, dass nicht jeder ihre Begeisterung für Hügelgräber, alte Tonscherben und lang vergessene Gottheiten teilte.

Mum studierte ein zusammengefaltetes Papier, das sie aus ihrer Tasche gezogen hatte. »Siehst du hier irgendwo einen Brag, mein Schatz?«

»Muss ich wissen, was das ist?«

»Eine Art Kobold in der keltischen Mythologie.« Sie sagte es, als wäre es selbstverständlich. »Hier steht, dass der Schlüssel darunterliegt.«

Julia entdeckte eine komische kleine Statue zwischen den Blumentöpfen. Sie erinnerte an einen mageren Gnom mit einem Mantel aus Blättern und Zweigen. Darunter fand sie einen alten Kupferschlüssel, auf dem es von Asseln nur so wimmelte. Igitt. Sie hob ihn auf, klopfte ihn ab und steckte ihn ins Schloss. Mit einem dumpfen Knirschen drehte er sich, und sie konnte die quietschende Tür aufdrücken.

Drinnen war es düster, die Luft roch modrig und feucht. Ein Spinnennetz kitzelte ihr Gesicht, als sie eintrat, und sie wischte es mit dem Handrücken weg.

»Süß!«, sagte Mum.

Julia sah eine kleine Küche, eine Anrichte mit bunt zusammengewürfelten Tellern. Der gepflasterte Boden war mit ausgetretenen Flickenteppichen bedeckt. Auf der Tischplatte lagen kleine dunkle Bohnen, die verdächtig nach Mäusekötteln aussahen. Auf der anderen Seite befand sich das Wohnzimmer mit einer niedrigen Holzdecke, einem durchgesessenen Sofa, einem alten Ledersessel und einem Kamin. Irgendetwas fehlte.

»Ähm … wo ist der Fernseher?«

Ihre Mum lachte. »Oh Jules. Ich bin sicher, wir überleben ein paar Tage ohne Fernseher.«

Julia nahm ihr Handy heraus. Kein Empfang. »Hast du das WLAN-Passwort?« Ihre Mum gab keine Antwort, und als Julia sich zu ihr umdrehte, sagte ihr schuldbewusster Blick alles. »Das ist nicht dein Ernst – nicht mal Internet?«

»Ich dachte, es wäre gut, wenn wir mal abschalten. Mal wirklich Zeit miteinander verbringen, weißt du?«

Julia lagen hundert Antworten auf der Zunge, doch sie hielt sich zurück und versuchte, vernünftig zu klingen. »Mum, du bist hier, um dein Buch fertig zu schreiben. Und was soll ich machen? Ich kann nicht mal an meinem Geburtstag mit meinen Freunden chatten.«

Das Gesicht ihrer Mutter sprach Bände. Die erschrocken geweiteten Augen. Die halb geöffneten Lippen, die zuckten, als wüssten sie nicht mehr, wie man Wörter bildet.

»Du hast es vergessen«, sagte Julia kühl. Sie konnte nicht behaupten, besonders überrascht zu sein. Irgendwie tat ihre Mum ihr sogar leid, weil sie so durch und durch lebensuntauglich war.

»Entschuldige bitte. Ich mache es wieder gut.« Julia gab keine Antwort. Lass sie ein bisschen zappeln. »Und weißt du was? Ich arbeite nur vormittags. Nach dem Mittagessen machen wir, was du willst.«

»Zum Beispiel?«, gab Julia zurück. »Wir sind mindestens zehn Meilen von der nächsten richtigen Stadt entfernt, und wir haben nicht mal ein Auto!«

Wieder wedelte Mum mit dem Papier. »Da steht, dass es hier jede Menge Wanderwege gibt. Llangelin hat eine wunderschöne sächsische Kirche. Und im Schrank sind ein paar Brettspiele …«

»Brettspiele für einen Spieler?«, entgegnete Julia bissig. Die Antwort ihrer Mutter wartete sie nicht ab. Sie nahm ihren Koffer und marschierte in ihr Zimmer.

Julia saß auf dem Bett, das sich anfühlte, als wäre es mit Stroh gefüllt, zog einen Schokoriegel aus der Tasche und wartete darauf, dass ihre Wut abflaute. Was nicht geschah. Sie waren hier quasi am Ende der Welt. Was stimmte nicht mit ihrer Mum? War sie wirklich so ahnungslos, dass sie glaubte, Julia würde es hier gefallen?

Nein, natürlich nicht. Ihre Mum war nicht dumm. Dass sie hier waren, lag ausschließlich daran, dass es ihr immer nur um sich und ihre Arbeit ging. Julia war nur Ballast. Ablenkung. Etwas, das ihr im Weg war.

Als es Dad noch gegeben hatte, hatte Julia das gar nicht bemerkt. Doch wenn sie jetzt zurückblickte, sah sie es umso klarer. Immer war er es gewesen, der für Julia da gewesen war. Der den Haushalt geführt, sie zur Schule gebracht hatte, zum Elternabend gegangen war, das Essen gekocht und an ihren Geburtstag gedacht hatte. Der, statt sie durch die Kälte laufen zu lassen, losgefahren war, um sie abzuholen, als sie bei ihrer Freundin Beth übernachtet hatte.

Dabei war Mum ans Telefon gegangen. Hatte gesagt, sie würde gleich kommen. War sie aber nicht. Sie hatte Dad geschickt, garantiert unter demselben Vorwand wie immer. Ihre Arbeit. Mum war immer beschäftigt, entweder in der Bibliothek oder in ihrem Arbeitszimmer hinter verschlossener Tür oder auf dem Sprung zu einer Konferenz im Ausland. Dad war derjenige, der sich um sie kümmerte, Mum tat nur manchmal so, wenn es ihr passte.

Jetzt konnte sie es sich nicht mehr aussuchen, aber sie lebte weiter, als hätte sich nichts verändert. Klar, von Zeit zu Zeit machte sie große Versprechungen. Aber am nächsten Tag war alles wieder wie vor-her.

Das Zimmer war klein, aber gemütlich, die niedrige Decke war auch hier aus Holz, und an der Wand stand ein schwerer alter Kleiderschrank. Es gab ein paar Bilder, kleine gerahmte Skizzen oder Aquarelle von der Landschaft. Sie erinnerten Julia an die Bilder, die ihr Dad gemalt hatte. Er war ein talentierter Künstler gewesen, hatte jedes Jahr die Geburtstagskarten für Freunde und Familie selbst gemalt.

Es klopfte an der Tür. »Liebling, können wir reden?«

Klar, so wie immer …

»Es ist nicht abgeschlossen«, antwortete sie.

Die Tür ging auf, doch ihre Mutter verharrte auf der Schwelle. »Jules, es tut mir leid, dass wir so einen schlechten Start hatten. Und ich weiß, dass ich nicht viel für dich da war. Aber ich tue mein Bestes, wirklich. Es war …« Sie unterbrach sich. »Woher hast du den?«

Julia merkte, dass sie den Schokoriegel ansah. Zu spät für eine Lüge. »Vom Bahnhof«, murmelte sie.

Ihre Mum stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe nicht mitbekommen, dass du ihn bezahlt hast.«

Julia konnte nicht verhindern, dass ihre Wangen rot anliefen.

»Das habe ich mir gedacht.« Mums Miene verhärtete sich. »Jules, wie konntest du nur? Ich dachte, wir hätten nach der Sache mit dem Armband darüber geredet.«

Julias Gesicht brannte vor Scham. »Du meinst, du hast geredet.«

»Und du hast versprochen, nicht mehr zu stehlen«, gab Mum zurück und sah sie finster an. »Was soll das? Du bekommst Taschengeld! Ich habe meine Tochter nicht zur Diebin erzogen.«

Julia hätte ihr den Schokoriegel am liebsten ins Gesicht geschleudert. »Du hast mich überhaupt nicht erzogen!«, fauchte sie. »Sondern Dad.«

Ihre Mutter schnappte nach Luft. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht.

Julia sprang auf und schnappte sich ihren Mantel. Sie wünschte, sie hätte das nicht gesagt. Aber jetzt war es raus, und sie konnte es nicht zurücknehmen.

»Wo willst du hin?«, fragte ihre Mutter leise.

»Nach draußen«, sagte Julia. »Dann hast du Zeit, um an deinem tollen Buch zu arbeiten.«

Kurz fragte sie sich, ob Mum sich ihr in den Weg stellen würde, doch sie trat zur Seite. Julia stürmte die Treppe hinunter, rannte aus der Haustür und ließ sie hinter sich zufallen.

Draußen atmete sie die kühle, frische Luft ein, schloss die Augen und spürte die Wärme der Sonne im Gesicht. Das hätte ich nicht sagen sollen. Die Schuld wartete wie ein ungebetener Gast auf ihre Reaktion. Wenn sie vernünftig wäre, würde sie jetzt zurückgehen, sich entschuldigen, die Sache wieder geradebiegen. Ihre Mum litt ja auch, auf ihre Art. Anders konnte es gar nicht sein. Aber dazu war Julia nicht bereit. Es würde dumm und albern aussehen, aus dem Haus zu stürmen, nur um Sekunden später wieder angekrochen zu kommen.

Also was jetzt? Wohin konnte sie gehen? Zu Hause wäre es etwas anderes gewesen. Sie hätte zu einer Freundin gehen können, ins Café, ins Kino. All das gab es hier nicht. Selbst wenn sie zur Straße ging, waren es einige Meilen bis zur Zivilisation.

Statt den Feldweg zu nehmen, über den sie gekommen waren, schlüpfte sie durch ein kleines Tor auf einen Pfad in den Wald hinterm Haus. Sie wusste nicht, wohin er führte, aber wenn sie sich verirrte, konnte sie ja einfach ihre Spuren zurückverfolgen.

Der Pfad schlängelte sich zwischen Bäumen hindurch, wurde undeutlicher und verschwand schließlich ganz, doch Julia lief weiter, raschelte durchs Laub und sprang über herabgefallene Äste und sumpfige Stellen. Ein Eichhörnchen flitzte über den Waldboden. Nach kurzer Zeit waren ihre Turnschuhe voll Schlamm, und die Kälte kroch hinein.

Sie aß den restlichen Schokoriegel auf und stopfte die zerrissene Verpackung in die Hosentasche. Sie war ebenso wütend auf sich selbst wie auf ihre Mum. Es war falsch gewesen, den Riegel zu nehmen, aber sie hatte gar nicht nachgedacht. Das war es, was ihr am meisten Sorgen machte: Stehlen war beinahe eine Selbstverständlichkeit für sie geworden – der billige Kick, etwas zu nehmen, obwohl sie das Geld in der Tasche hatte, um dafür zu bezahlen. Jedes Mal nahm sie sich vor, dass es das letzte Mal wäre.

Es hatte angefangen, nachdem ihr Vater gestorben war. Süßigkeiten und Kleinkram, hauptsächlich wegen des Nervenkitzels. Doch vor ein paar Wochen hatte sie an einem Stand auf dem Markt ein Armband in ihre Tasche gleiten lassen, und der Standbesitzer hatte sie erwischt. Sie verzog das Gesicht bei der Erinnerung, wie er sie gezwungen hatte, ihre Mum anzurufen. Das oder die Polizei, hatte er gesagt. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass er ihr die Wahl gelassen hatte.

Als sie auf der anderen Seite der Bäume herauskam, lag ein großes, sanft geschwungenes Feld vor ihr, dicht bewachsen von jungen grünen Maispflanzen, die ihr bis ans Knie reichten. Sie hielt einen Moment inne und ließ den Blick schweifen. Die Ränder des Felds lagen brach, und in den blühenden Wiesenkräutern summten Insekten. Die Sonne senkte sich bereits den weißen Kreidefelsen in der Ferne entgegen.

Der Anblick besänftigte ihre Wut und beruhigte ihren Herzschlag. Es war wirklich schön, aber es machte sie auch traurig. Dad hatte die Natur geliebt und mit seiner Kamera viele lange Spaziergänge unternommen. »Ein herrliches Abenteuer!«, pflegte er zu sagen, wenn er nach Hause kam. Am Wochenende hatte er sie immer gefragt, ob sie mitkommen wolle, aber meistens hatte sie andere Pläne gehabt, war im Einkaufszentrum verabredet gewesen oder wollte mit Beth und Niq abhängen. Hätte sie gewusst, dass seine Einladungen so plötzlich auf einer vereisten Straße ein Ende nehmen würden, hätte sie jede einzelne von ihnen angenommen. Wie viele Spaziergänge mit ihm hatte sie verpasst? Wie viele weitere Erinnerungen hätte sie an ihren Vater haben können? Er war immer für sie da gewesen, und sie hatte es für selbstverständlich gehalten.

Irgendwie, dachte sie, tat es gut, allein zu sein. Nur sie und die Natur. Es war beruhigend. Selbst die Sache mit ihrem Geburtstag störte sie gar nicht so sehr, auch wenn sie es vor Mum anders dargestellt hatte. Eigentlich war sie ganz froh, den Tag hier zu verbringen, weit weg von zu Hause. Wahrscheinlich hätten ihre Freunde sowieso keine große Lust auf eine Party gehabt. Sie war in den letzten Monaten nicht gerade einfach gewesen.

Als ihr Dad gestorben war, waren sie alle um sie herumgeschlichen, doch niemand schien so richtig zu wissen, was er sagen sollte. Und sie hatte es auch nicht gewusst. Seither hatten sich die Dinge merklich verändert. Kleine Dinge. Ihre Freunde trafen sich ohne sie oder redeten über Musik, von der sie noch nie gehört hatte. Chatnachrichten gingen an ihr vorbei. Sie glaubte nicht, dass jemand sie absichtlich ausschloss, aber sie war nicht mehr Teil der Gruppe wie früher.

So war Trauer – niemand konnte die Last sehen, geschweige denn ihr helfen, sie zu tragen.

Aber Mum wusste, wie es war. Das dadförmige Loch in ihrem Leben war dasselbe. Julia sog die Frühlingsluft tief in die Lunge. Das ist albern. Ich sollte zurückgehen.

Sie wollte gerade umkehren, als ein Vogel ihren Blick anzog. Er glitt auf reglosen Schwingen über das Feld. Ein Raubvogel, mit einem Fächerschwanz und gespreizten Flügelspitzen, der das Land unter sich absuchte. Julia war keine Expertin, aber sie nahm an, dass es ein Bussard oder ein Habicht war. Sie beobachtete ihn einige Sekunden lang, dann streckte er plötzlich die Flügel v-förmig nach oben und schoss im Sturzflug abwärts. Julias Augen folgten ihm. Da, unten im Gras, sah sie etwas Weißes. Irgendein Tier.

Es schrak auf, als der Vogel flach über die Spitzen der Maispflanzen hinwegglitt, und verschwand im raschelnden Gras. Dann war ein entsetzliches Quieken zu hören, das sich mit dem schrillen Ruf des Vogels vermischte.

Julias Füße hämmerten schon über den Boden, sie ruderte mit den Armen und schrie: »Nein! Nicht!«

Beim Rennen sah sie schlagende braune Flügel und weißes Fell, während die beiden Tiere im Gras miteinander rangen. Federn flogen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie den Kampfplatz erreichte. »Weg da!«, schrie sie.

Der Vogel flatterte panisch auf und ließ seine Beute am Boden zurück.

Julia japste. Erst hatte sie das arme Geschöpf, das auf der Seite im Gras lag, wegen seines schneeweißen Fells für eine Katze gehalten, doch als es sich mühsam aufrappelte, sah sie seine langen Ohren und begriff, dass es ein Hase war. Ein weißer Hase. Einer seiner langen Vorderläufe war blutverschmiert. Ein verblüffend grünes Auge musterte sie wachsam.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte dem Tier helfen. Aber wenn sie zu nahe kam, würde es sie sicher beißen. »Alles in Ordnung, Kleiner?«, fragte sie sanft und ging mit einem Meter Abstand in die Hocke.

Zu ihrer Überraschung lief der Hase nicht weg. Eins seiner Ohren schwenkte in ihre Richtung.

Bestimmt steht er unter Schock.

Vielleicht brauchte er einen Tierarzt. Julia sah auf ihr Handy, nur für den Fall, dass sie hier Empfang hatte. Hatte sie nicht. Über ihnen kreiste immer noch der Vogel.

Er wartet, dass ich weggehe, damit er es zu Ende bringen kann.

»Keine Angst«, sagte sie zu dem Hasen. »Ich gehe nicht weg.«

Die Nase des Hasen zuckte. Dann hoppelte er durchs Gras davon. Julia richtete sich auf, blickte ihm nach und schaute wieder zum Himmel, wo der Vogel mit ausgebreiteten Flügeln kreiste. Einige Meter weiter blieb der Hase stehen und sah sie an. »Na los«, sagte sie und scheuchte ihn weg. Doch der Hase rührte sich nicht. Julia machte ein paar Schritte in seine Richtung. Er hoppelte weiter und sah sie unverwandt an.

Julia hatte ein eigentümliches Gefühl. Das konnte doch nicht sein. Oder? Der Hase war ein wildes Tier. Er sollte Angst vor Menschen haben. Aber nein.

Er wartet auf mich …

Ohne richtig zu wissen, warum, folgte sie ihm. Sie überquerten das Feld und steuerten auf eine Baumgruppe am anderen Ende zu. Julia erwartete jeden Moment, dass der Hase schneller wurde und davonsprang. Doch er schien bei ihr bleiben zu wollen. Vielleicht wusste er, dass der Tod noch immer am Himmel lauerte. Alle paar Meter blieb er stehen und drehte sich nach ihr um, dann hoppelte er weiter.

Sie erreichten die Bäume. Wenn der Raubvogel noch da war, so konnte Julia ihn durch die belaubten Zweige über sich nicht mehr sehen. Sie filterten das Nachmittagslicht und tauchten das Wäldchen in einen flaschengrünen Schein, der beinahe dieselbe Farbe hatte wie die Augen des Hasen.

Das verletzte Tier lief auf einen bemoosten Baumstumpf zu, wo es neben einem dunklen Loch im Boden stehen blieb – einem Spalt zwischen den Wurzeln. Julia nahm an, dass hier sein Bau war, doch der Hase schlüpfte nicht hinein. Er blieb stehen und drehte den Kopf zwischen dem Loch und ihr hin und her.

»Was?«, fragte sie und kam sich albern vor. »Du bist jetzt in Sicherheit.« Sie zeigte auf die Öffnung. »Geh schon rein.«

Doch der Hase rührte sich nicht.

Vorsichtig, um ihm keine Angst zu machen, wagte Julia sich näher heran, bis sie so nah war, dass sie ihn hätte streicheln können. Jetzt sah sie, dass etwas in dem Loch unter dem Baumstumpf steckte – etwas mit einer scharfen Kante, das nicht nach etwas aussah, das aus der Natur stammte. Der Hase zuckte nicht zurück, als sie an seinem Kopf vorbeilangte und die Hand in das Loch steckte.

Ihre Finger schlossen sich um den Gegenstand. Er fühlte sich wie glattes Holz an. Als sie ihn hervorzog, stockte ihr der Atem, und sie hätte ihn beinahe fallen gelassen.

Die Bäume schienen sich enger um sie zu schließen, die kleine Lichtung zu schrumpfen, und trotz der warmen Luft bekam sie Gänsehaut auf den Armen.

In ihrer Hand lag eine hölzerne Maske. Die Vorderseite hatte die Form eines Hasengesichts, mit einer fein ausgearbeiteten Schnauze und zwei spitzen Ohren. Es gab noch weitere, flachere Schnitzereien auf der Oberfläche – gerade und geschwungene Linien, die weder Bilder noch Buchstaben waren, sondern irgendwas dazwischen.

Julia blickte wieder den echten Hasen an. Er beobachtete sie, ohne zu blinzeln. Sie spürte Angst, doch sein Blick beruhigte sie.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Wie kam dieses sonderbare Ding hierher? Julia hatte genug alte Ausstellungsstücke in Museen gesehen, um zu wissen, dass diese Maske in der Tat sehr alt sein musste. Die Form war schlicht – sie konnte die Meißelspuren auf dem unbehandelten Holz erkennen –, und als sie mit den Fingerspitzen über die Oberfläche strich, konnte sie beinahe den Schöpfer der Maske vor sich sehen, wie er an einem Feuer unterm Sternenhimmel saß und mit einfachen Werkzeugen die Form herausarbeitete. Vor langer, langer Zeit, als die Menschen noch im Einklang mit der Natur gelebt hatten.

Jetzt, da sie darüber nachdachte, erinnerte sie das Muster an Zeichnungen, die sie in Mums Büchern über Druiden gesehen hatte. Und Mum hatte gesagt, dass in der Nähe von Llangelin alte Ley-Linien zusammenliefen … Aber so alt konnte die Maske doch wohl nicht sein. Oder doch?

Sie drehte die Maske um. An der Unterseite befanden sich links und rechts kleine Löcher, an denen früher wohl eine Art Band befestigt gewesen war, das mit der Zeit verrottet war.

Julia wollte zurück zum Haus, und zwar schnell. Trotz ihres Streits spürte sie den Drang, ihrer Mutter die Maske zu zeigen. Was wäre besser, um sie die bösen Worte vergessen zu lassen, als ein mögliches Druiden-Relikt? Sie stellte sich die Aufregung in Mums Gesicht vor. Den Stolz. Und wenn Julia ihr erzählte, wo und wie sie die Maske gefunden hatte … Mum würde es kaum glauben.

Sie sah den weißen Hasen an. »Wolltest du … dass ich die finde?« Sie konnte nicht fassen, dass sie mit einem Hasen redete, als könnte er ihr antworten.

Doch er sah sie nur weiter unverwandt an. Und obwohl er natürlich nichts sagte, verstand sie irgendwie doch, was er von ihr wollte, denn sie selbst fühlte das gleiche Verlangen. Sie wollte das glatte kühle Holz auf ihrem Gesicht spüren. Sie wollte durch die Gucklöcher schauen, wie die Menschen vor wer weiß wie langer Zeit es getan haben mussten. Sie konnte nicht widerstehen.

Sie hob die Maske ans Gesicht.

Sie bedeckte nur die obere Hälfte, der Mund blieb frei, doch sie passte perfekt. Als ob sich die Konturen der Maske an ihre Gesichtszüge anpassten. Auch ohne Band blieb sie an ihrem Platz, als Julia die Hände sinken ließ.

Schwindel überkam sie.

Plötzlich fühlte sie sich, als hätte eine unsichtbare Welle sie erfasst, so mächtig, dass sie nach hinten geschleudert wurde. Durch die Gucklöcher verdoppelte sich ihre Sicht. Der Wald verschwamm. Geräusche explodierten wie Feuerwerkskörper dicht neben ihrem Kopf, erfüllten ihr Gehirn und ließen ihre Knochen vibrieren.

Julia hob die Hände, um die Maske abzunehmen, doch es ging nicht. Sie klebte an ihrem Gesicht. Panik durchfuhr sie, als sie versuchte, die Finger unter den Rand zu schieben und zu ihrem Entsetzen keinen Spalt zwischen der Maske und ihrem Gesicht finden konnte – nur eine glatte Oberfläche zwischen Holz und Haut, wo eins ins andere überging.

Die Welt begann sich zu drehen. Es dauert nur einen Augenblick, doch als es vorbei war, war nichts mehr wie zuvor.

Shadow King

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