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19 Tage später

Zum Spannen der Bärenfalle konnte man eine Kurbel verwenden, aber das hatte Kobi nicht nötig. Er zerrte die Stahlkiefer einfach mit bloßen Händen auseinander, bis der Mechanismus einrastete, und schob die Falle vorsichtig an ihren Platz hinter dem Notausgang von Klassenzimmer 9C. Er schwitzte. Von Raum zu Raum zu laufen und alle Sicherheitsmaßnahmen abzuarbeiten, dauerte ohne Dads Hilfe eine gute Stunde. Doch um seine nagende Angst in Schach zu halten, war es gar nicht schlecht, etwas zu tun zu haben, egal was. Als Nächstes überprüfte Kobi systematisch alle Fenster auf Lecks. Sich lückenlos von den Sporen und Pollen abzuschotten, die das Waste übertrugen, war ein ewiger Kampf – würde Kobi nicht regelmäßig alle Dichtungen mit Klebeband verstärken, würden sie die Schule in kürzester Zeit überfluten. Und überall dort, wo eine Kontamination drohte, versprühte er Dads selbst entwickeltes Pestizid.

Gegen Kobis Willen wanderte sein Blick während der Arbeit immer wieder zu den gekritzelten Buchstaben und Zahlen an der Tafel. Es war eine ihrer letzten Unterrichtsstunden: Rechnen.

»Was soll das bringen, Dad? Gegen das Waste hilft Mathe doch auch nichts.«

Dad hatte den Marker sinken lassen und die Brille abgenommen. »Irgendwann wird das Waste verschwinden. Wenn es so weit ist, muss die Welt wiederaufgebaut werden.«

»Von wem?«, hatte Kobi gefragt. »Wie’s aussieht, ist außer uns niemand übrig.«

Dad hatte sich wieder zur Tafel gedreht. »Konzentrier dich einfach, Klugscheißer.«

Sobald er mit den Fenstern fertig war, schnappte Kobi sich den Schwamm und schrubbte wütend die Tafel, bis die ellenlangen Gleichungen ausradiert waren. Dann marschierte er weiter.

Zuletzt musste er die Chemie- und Physikräume checken. Die erinnerten ihn immer besonders an Dad, noch mehr als die normalen Klassenzimmer. Hier hatte Dad am meisten Zeit verbracht, hier hatte er seine Waste-Experimente durchgeführt. Im dämmrigen Licht summte ein Kühlschrank, der mit den Solarmodulen auf dem Dach verkabelt war. Durch seine Glastür war die Halterung mit den Ampullen zu sehen – Waste-Reiniger. Vier davon hatte Dad mitgenommen. Schäden an befallenen Zellen konnte der Reiniger nicht beheben, aber er konnte das Waste aus dem Körper vertreiben. Zumindest vorübergehend. Er müsse es sich wie einen Krieg vorstellen, hatte Dad gesagt. Er konnte den Feind zurückschlagen, doch jeder weitere Angriff hinterließ schlimme Verwüstungen.

Und eine erneute Vergiftung konnte der Reiniger sowieso nicht verhindern. Draußen in der Stadt würde Dad früher oder später Waste-Sporen einatmen oder nicht zu hundert Prozent gereinigtes Wasser trinken, oder das Waste würde durch Insektenstiche oder kleine Wunden in ihn eindringen. Im allerbesten Fall bot eine Dosis sechs Tage Schutz. Insgesamt 24 Tage also. Noch fünf Tage, dann wäre Dad ein toter Mann. Der Feind würde ihn überrennen.

Aber er hat gesagt, ich soll hierbleiben. Was, wenn er zurückkommt, und ich bin nicht mehr da?

Den Werkraum hatte Dad vor langer Zeit zur Werkstatt für Waffen und Ausrüstung umfunktioniert. Auch hier überprüfte Kobi schnell Fenster und Türen. Überall verstreut lagen Dutzende halb fertige Apparaturen, lauter nie abgeschlossene Projekte: ein Ersatz-Stromgenerator, der sowohl durch Solarenergie als auch durch das Windrad auf dem Dach angetrieben werden sollte, ein Rauchbombenwerfer, eine Wasseraufbereitungsanlage, der zusammengestöpselte Funkempfänger, mit dem sie nie etwas empfangen hatten …

Eigentlich wollte Kobi nicht hinsehen, aber sein Blick wanderte schließlich doch zu der Ecke mit dem Snatcher. Er war das größte Objekt im Zimmer, ungefähr so groß wie ein Kleinwagen, eine Art riesige Metallspinne mit acht unter dem Rückenpanzer eingerollten Beinen – allerdings mit nur einem Flügel, der andere war ihr gut 250 Meter von der Schule entfernt bei der Kollision mit einem Baum abhandengekommen. Dads Theorie nach hatte es wahrscheinlich Probleme mit dem Navigationssystem gegeben. Eigentlich waren Snatcher nämlich nicht so weit draußen unterwegs und flogen erst recht nicht gegen Hindernisse. Normalerweise waren sie so gut programmiert, dass sie mit ihren Mikrodüsen auf verschlungenen Bahnen durch die Stadtlandschaft schwirren und sich still, leise und unbemerkt ihrer Beute nähern konnten, sprich: jedem Lebewesen in Sensorreichweite.

Kobi ging zu der Apparatur hinüber, betrachtete die ramponierte Titanhülle und die Solarpaneele auf dem einen Flügel. Unter dem »Kopf« ragten einige lose Kabel hervor. Damit der Snatcher nicht die Zentrale in der Stadt anfunken konnte, hatte Dad ihn auf der Stelle deaktiviert. Eine Vielzahl schwarzer »Augen« erwiderte Kobis Blick. Soweit er wusste, konnten sie ein breites Spektrum wahrnehmen, auch im Infrarot- und UV-Bereich. Der ideale Jäger. Kobi strich über den kalten Panzer. Seitlich am Kopf waren vier krakelige Buchstaben zu lesen: CLAWS. Ein passender Name, wenn man sich die unter dem massigen Körper zusammengekrümmten Gliedmaßen so ansah. Die Snatcher hätten eine ganz einfache Aufgabe, hatte Dad mal erklärt: Sie sollten in der Stadt patrouillieren und alle mit Waste infizierten Tiere einsammeln, auf dass diese entsorgt werden konnten. Egal ob Hund, Katze oder Reh, was ihnen eben von der Luft aus vor die Linse geriet.

Wenn sie nicht aufpassten, konnte auch mal ein Mensch dabei sein.

Die Schöpfer der Snatcher, wer auch immer das gewesen war, waren längst tot, doch dank Autopilot und Sonnenkraft liefen die Drohnen immer weiter. Bis ihre Hardware irgendwann schlappmachen würde.

19 Tage schon. Ich kann nicht anders, Dad. Höchstens zwei Wochen, hast du gesagt.

Kobi kehrte dem Snatcher den Rücken zu, spannte die Falle an der Tür, checkte die Abdichtung. Dann öffnete er den Kühlschrank und nahm zwei Ampullen mit Reiniger heraus.

Ich komme zu dir.

In der fensterlosen Umkleide entzündete Kobi die überall aufgestellten Kerzen und holte seine Kevlarweste aus Spind D22. Die hatten sie aus dem Polizeirevier mitgehen lassen, das ein paar Straßen entfernt lag. Er schlüpfte hinein, zog die Gurte fest und setzte den Rucksack auf. Danach schob er den Polizei-Taser in den alten Werkzeuggürtel des Hausmeisters, außerdem die Wasserflasche, die Taschenlampe, den Kompass. Die Machete in der Scheide schnallte er sich links an die Hüfte. Zuletzt hängte er sich die gespannte Armbrust über die Schulter. Für das Ding konnten sie sich bei Big Hank’s Jagdausstattung bedanken, wie auch für die Bärenfallen. Als er den Spind gerade schließen wollte, fiel ihm noch der Bärenmoschusduft ein. Damit konnte er seinen Geruch überdecken.

»Ein Glück, dass hier sowieso keine hübschen Mädchen mehr rumlaufen.«

Bei der Erinnerung an Dads Scherz schüttelte Kobi lächelnd den Kopf. Im Normalfall gingen ihm Dads schlechte Witze ziemlich auf die Nerven, jetzt hätte er aber alles dafür gegeben, endlich wieder seine Stimme zu hören. Wenn doch nur ein lautes »Sorry!« durch den Flur gehallt wäre, »tut mir leid, dass es so lange gedauert hat …«

Kobi besprühte seine Klamotten kreuz und quer mit Moschusduft und schob das Spray in den Gürtel.

Flackerndes Kerzenlicht fiel auf das Holofoto an der Innenseite der Spindtür. Der Junge darauf, Maxwell Trenton, machte einen netten Eindruck, ein dürrer Kerl mit Zahnspange, wahrscheinlich ein, zwei Jahre älter als Kobi und irgendwie leicht schräg. Auf dem Bild stand er mit Seahawks-Kappe auf dem Kopf zwischen zwei riesenhaften Linebackern vor einer gewaltigen Menschenmenge im städtischen GrowCycle-Stadion. So, wie die beiden Footballer aussahen, hätten sie Max ohne Probleme mitten durchbrechen können, sie lächelten aber freundlich in die Kamera. Die Unterschriften, die über dem unteren Rand schwebten, stammten sicher von den zwei Stars.

Maxwell war natürlich tot. Genau wie die Linebacker auf dem Foto, der ganze Rest der Seahawks-Mannschaft von 2029 und all die nichts ahnenden Zuschauer im Hintergrund. Und auch der Hausmeister, alle Cops von Seattle und sogar Big Hank, falls es den wirklich mal gegeben haben sollte.

Aber Dad ist nicht tot. Er darf nicht tot sein.

Kobis Blick blieb an den Stadionwänden mit der GrowCycle-Reklame hängen. Man hatte immer geglaubt, ein Atomkrieg würde eines Tages den Weltuntergang herbeiführen, die Erderwärmung oder ein Kometeneinschlag – aber ein Lebensmittelhersteller? Dad hatte ihm die Geschichte unzählige Male erzählt. Gegen Ende der 2020er-Jahre war es aufgrund des Klimawandels immer schwieriger geworden, die wachsende Weltbevölkerung mit Nahrung zu versorgen. Die Antwort darauf sollte GAIA sein, ein von GrowCycle entwickeltes Düngemittel zur Beschleunigung des Pflanzenwachstums. GAIA würde die Menschheit retten, dachte man, doch es lief nicht nach Plan. Die Forscher gingen zu weit. Ein genmodifiziertes Hormon breitete sich in der gesamten Umwelt aus und veränderte das Erbgut aller Organismen. Pflanzen, Tiere, Menschen, alles wandelte sich.

Der Rest war Geschichte. »Beziehungsweise deren Ende«, hatte Kobis Dad mal gescherzt.

Auf der Bank zwischen den Spinden entfaltete Kobi den Stadtplan und betrachtete die Bucht von Seattle mit ihrem Straßennetz. Es war ein vertrauter Anblick.

»Wo bist du, Dad?«, flüsterte er. Die Worte blieben ihm fast in der Kehle stecken. Automatisch griff Kobi nach den Vitaminen, die er meistens in der Innentasche bei sich trug, doch er hatte die Tabletten in der Turnhalle vergessen. Seit Dads Abgang hatte er keine mehr genommen. Damit wollte er Dad, der ihn hier einfach allein gelassen hatte, wohl irgendwie eins auswischen.

Rund um die Bill Gates Memorial High School, die am linken Rand der Karte und damit im Westen Seattles lag, war das Papier übersät von Hunderten handgemalten Kringeln, jeder davon in Dads unverwechselbarer Handschrift markiert: N stand für Nahrung, M für Medizin, W für Waffen, A für Ausrüstung. Auf dieser Seite der Brücke waren sämtliche Nahrungslager durchgestrichen. Alle leer geräumt. Anderswo waren noch etliche zu finden, nur eben jenseits der Brücke. Weit drüben auf Mercer Island prangte sogar ein L, doch an dieses Labor würden sie laut Dad wohl nie herankommen. Mercer Island war das Epizentrum der Waste-Seuche, nirgendwo sonst auf der Welt war die Konzentration so hoch. Vor der Katastrophe hatte GrowCycle dort eine Riesenladung Waste auf ein weitläufiges Feld gekippt, auf dem zuvor verschiedenste Pflanzenarten angesät worden waren. Es sollte ein PR-Gag werden, über Nacht sollte ein ganzer Park aus dem Boden schießen. Am Ende kam es ein bisschen anders.

Bis zum nächsten Labor, stellte Kobi fest, brauchte man zu Fuß etwa einen Tag – es befand sich in der alten Universität ein Stück hinter der Interstate 5. Die Frage war, ob Dad es überhaupt bis dorthin geschafft hatte. Kobi hatte bisher noch nicht mal die Brücke überqueren dürfen. Egal, wie oft er darum gebettelt hatte, Dad hatte ihn immer auf dieselbe Art abgewimmelt: »Du bist noch nicht so weit.«

Was war ihm zugestoßen? Es gab tausend Möglichkeiten, das war ja das Problem. In der Stadt waren nicht nur Snatcher unterwegs, sondern auch andere Jäger. Vor ein paar Monaten hatten sie in der Nähe der Schule Bärenkot gefunden – Kobi malte sich lieber nicht aus, wie groß ein mit Waste infizierter Grizzly werden könnte. Die Wirkung des Waste unterschied sich von Art zu Art. Unmittelbar nach Ausbruch der Seuche waren 99 Prozent der Tiere schlicht gestorben, doch die paar Überlebenden, die sich außerdem noch erfolgreich fortpflanzten, hatten den wildesten Nachwuchs hervorgebracht. Der teils auch noch weiter mutiert war.

Vielleicht war Dad aber auch wegen eines banalen Unfalls nicht nach Hause zurückgekehrt. Vielleicht war er gestürzt und hatte sich den Kopf angeschlagen. Auch weil es ihn trotz Reiniger eben ziemlich mitnahm, draußen unterwegs zu sein, mitten im Waste. Sobald er dem Zeug ein paar Stunden am Stück ausgesetzt war, wurde er zum alten Mann.

Und schon als er los ging, war er nicht gerade topfit.

Kobis Magen zog sich zusammen. Er wartete ab, bis der Krampf vorüberging. Etwas gegessen hatte er zuletzt vor einem Tag, und zwar eine Dose Wuffz-Hundefutter. Schmeckte gar nicht übel, jedenfalls wenn man die Augen zumachte, und war außerdem sehr nahrhaft: Vierzig Prozent Protein, eine Menge Fett und Ballaststoffe. Nur darauf kam es am Ende doch an. Trotzdem, je länger er abwartete, je länger sich der Hunger in seinen Magen bohrte, desto schwächer wurde er.

Wenn er aufbrechen wollte, dann jetzt.

Kobi faltete die Karte zusammen, blies die Kerzen aus und verließ die Umkleide, den Rucksack auf dem Rücken.

Auf die Bill Gates High waren einmal rund 1500 Schüler gegangen. In den Gängen und Klassenzimmern hallte ihr Leben lautlos nach, auf den schwarzen Brettern mit den Sportergebnissen und den Infos zum Abschlussball, in den Projektberichten an den Wänden, den Schmierereien in den Toilettenkabinen. Seit 13 Jahren war Kobi hier zu Hause, und mittlerweile kannte er jeden Zentimeter. Hunderte Spinde hatten Dad und er aufgebrochen, alle Klassenschränke und jedes einzelne Lehrerpult, immer auf der Suche nach Dingen, die ihnen das Überleben erleichtern könnten. Meist war es Zeitverschwendung, ein sinnloses Herumstochern in der Vergangenheit vergessener Menschen.

Kobi knipste die Taschenlampe an und ging den zentralen Flur hinunter. Seine Schuhe quietschten auf dem Boden, durch graues Dämmerlicht lief er zum Ausgang. Dort angekommen, pellte er vorsichtig das Klebeband ab und schob die Bolzen oben und unten zurück. Um ja keine böse Überraschung zu riskieren, linste er noch einmal durch das Guckloch. Er legte die Hand auf die Klinke, wollte schon die Tür aufdrücken, da hörte er in Gedanken eine Stimme.

»Du kannst machen, was du willst, aber geh bloß nicht alleine raus.«

»So wie du, meinst du?«, flüsterte Kobi in der Stille des Flurs. »Ich kann nicht anders, Dad.«

Als er die Tür öffnete, tat sich vor ihm ein lebendiges Vormittagspanorama auf, erfüllt vom Rascheln, Zwitschern und Summen von Insekten und Vögeln. Auf dem Parkplatz wuchs ein Wald aus Douglaskiefern, die sich 150 Meter hoch in den Himmel erhoben, dazwischen drängten sich andere, bescheidenere Bäume wie Platanen und Ahorn. Einzelne Sonnenstrahlen fielen durch das dichte Grün. In den Ästen einer Roteiche, fast fünfzig Meter über der Erde, hingen ein paar Fahrräder – während sich die Eiche vom Samen zum Spross und schließlich zum Baumriesen entwickelt hatte, waren sie von der Kraft der Natur emporgehoben worden. Anhand eines Buchs aus der Schulbibliothek hatte Kobis Vater ihm die Namen aller Pflanzen in der Stadt beigebracht. Wobei einige der neueren, tödlichen in keiner Liste auftauchten.

Zwischen den Bäumen ruhten hier und da verlassene Autos, die teils an Mini-Gewächshäuser erinnerten, da Gestrüpp aus ihren zerschlagenen Fenstern wucherte. Gegenüber hatten sich Schlingpflanzen um die Stangen des Football-Tors gewickelt, der Rasen war unter einem Teppich aus dicht miteinander verwobenem Unkraut verschwunden. Wie es wohl hier ausgesehen hatte, wenn Maxwell Trenton und seine Kumpels einem rivalisierenden Team gegenübergestanden hatten? Kobi konnte es sich nicht vorstellen.

Einen Moment lang spitzte er die Ohren, während sein Blick die Vegetation nach Hinweisen auf Raubtiere absuchte.

»Nur Geduld. Lieber langsam als tot.«

Kobi schaute in den Himmel. So weit vom Stadtzentrum entfernt ließen sich die Snatcher kaum je blicken, aber Vorsicht war besser als Nachsicht.

Nach einer Weile war er sich sicher, dass dort nichts auf der Lauer lag, und trat ins Freie. Nachdem er die Tür von außen mit Klebeband abgedichtet und die Vorhängeschlösser angebracht hatte, lief er die rissige Vordertreppe hinunter und den Pfad entlang, den Dad und er zur Straße geschlagen hatten. Obwohl Dad sich erst vor ein paar Wochen durch das Gras gehackt hatte, reichte es Kobi fast schon wieder über den Kopf. Mit der Machete hieb er auf vorwitzige Halme ein und spähte dabei immer wieder über die Schulter. Nicht, dass sich etwas von hinten anschlich.

»Vier Augen sehen mehr als zwei.«

»Und warum hast du mich dann nicht mitkommen lassen, Dad?«, murmelte Kobi.

Rasch schob er sich durch das hohe Gras, einmal musste er einen großen Schritt über einen armlangen Tausendfüßler machen. So gelangte er in dichteren Wald, in den nur wenig Licht vordrang. Er huschte von Baum zu Baum und hielt immer wieder inne, um die Umgebung zu checken.

»Du brauchst ein gutes Gespür für die Lage, Junge. Du musst immer wissen, was um dich herum los ist. Und wie du am schnellsten verschwinden kannst.«

Kobi wünschte, er hätte Dads Stimme ausknipsen können, doch auf ihren vielen gemeinsamen Expeditionen hatten sich Dads Regeln tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Er kletterte über einen umgestürzten Baumstamm und atmete an einen umgekippten Schulbus geschmiegt durch. Die nächste Kreuzung bot kaum Deckung, fast einhundert Meter leerer Asphalt waren zu überwinden – ein Risiko, jedes Mal aufs Neue. Kobi beobachtete die von Kletterpflanzen überwucherten Gebäude auf der anderen Straßenseite. In den Eingängen könnte sich alles Mögliche verbergen. Und sollte dort etwas lauern, konnte es ihn gar nicht übersehen.

Aber soweit er es überblicken konnte, war die Luft rein. Also sprintete Kobi los. Für seinen Geschmack war Dad immer zu langsam unterwegs. Allein gelangte Kobi binnen Sekunden zu den Bäumen gegenüber und duckte sich erleichtert unter ihr Laubdach.

»Wenn möglich, bleib immer in Deckung. Damit du vom Himmel aus nicht zu sehen bist.«

Am nächsten Baumstamm entdeckte Kobi senkrechte Kratzspuren, wahrscheinlich von einem Puma. Vor ein paar Monaten waren Dad und er praktisch über einen gestolpert, und wie alle Waste-verseuchten Raubtiere war er hyperaggressiv gewesen. Erst nach drei Treffern mit der Armbrust hatte er Ruhe gegeben. Kobi erinnerte sich noch, wie sich das Adrenalin langsam aus seinem Körper verflüchtigt hatte. Sie hätten das Tier nur von seinem Elend erlöst, hatte Dad behauptet, und in dessen letzten Sekunden hatte Kobi in den gelben Augen wirklich so etwas wie Erleichterung gesehen. Glaubte er.

Mitten auf der Straße zwischen den dicken Baumstämmen lag die durchgerostete Karosserie eines Taxis, aufs Dach gerollt, wie eine gestrandete Schildkröte. Unkraut wuchs in den Fenstern, Ranken hatten die Vorder- und Hinterachse eingeschnürt. In ihrem Schatten wartete Kobi noch etwas ab, ehe er eilig weitermarschierte, unter einem Straßenschild durch. Er befand sich auf der Genesee Street.

Die Straße in Richtung Süden war kaum bewachsen, eine kahle braune Kruste erstreckte sich bis zu aufgehäuften Erdhügeln vor den Hausruinen. Ein Stück voraus klaffte eine dunkle Kerbe quer in der Fahrbahn – dort ging es nicht weiter. Kobi war schon einmal hier gewesen, mit Dad natürlich. Vor einiger Zeit war ein Wasserturm umgestürzt, daraufhin war der Schlamm durch zwei Straßen geschwappt und hatte mehrere Gebäude eingerissen, und nachdem er getrocknet war, hatte sich dieser Riss gebildet. Als Kobi näher kam, fiel ihm auf, dass die Spalte seit seinem letzten Besuch noch weitergewachsen war. Inzwischen war sie sechs Meter tief und viereinhalb Meter breit. Kobi spähte über den Rand. In der Grube wimmelte es von Würgepflanzen, wie Riesenanakondas glitten die stachelbewehrten Ranken träge übereinander. Eine davon hatte sich wieder und wieder um die Überreste eines großen pelzigen Tiers gewickelt, dessen Beine schief und krumm abstanden. Kobi erschauderte. Am Grund lagen einige Knochen. Schon so einige Kreaturen hatten das Pech gehabt, dort hineinzugeraten.

Aber Dad wäre das nie passiert.

»Wir machen einen Bogen drum herum«, verkündete er. »Man sollte nie ein unnötiges Risiko eingehen.«

Doch der Umweg hätte Kobi noch mehr Zeit gekostet und ihn außerdem in ein labyrinthisches Wohngebiet geführt, das er nicht gerade einladend fand. Kobi machte ein paar Schritte nach hinten, um Anlauf zu nehmen. »Sorry, Dad …«, sagte er, denn in seinem Kopf blitzte sofort das entsetzte Gesicht seines Vaters auf. Er wusste, er konnte es schaffen. In der Schulturnhalle hatten sie Tests durchgeführt, die zeigten, wie stark er sich in jeder Hinsicht gesteigert hatte. So stark, dass es nicht mehr normal war. In Sachen Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer und Zellregeneration sprengte er jede Skala, vor allem für sein Alter. Warum das so war, wussten sie nicht genau, aber Dad meinte, es hänge vermutlich damit zusammen, dass er dem Waste schon vor seiner Geburt ausgesetzt gewesen war – Kobi entwickelte sich genauso prächtig wie Waste-verseuchte Tiere, allerdings ohne die schlimmen Nebenwirkungen.

Als er auf den Abgrund zusprintete, stellte Kobi sich vor, er hätte einen Football in den Händen und eine Reihe von abwehrbereiten Seahawks-Linebackern vor sich. An der Kante stieß er sich ab, pulsierende Kraft schoss durch seine Muskeln. Er überwand die Spalte locker.

Auf der anderen Seite erlaubte er sich ein breites Grinsen und riss die Hände hoch.

»Touchdown«, murmelte Kobi.

Nach zwei Schritten erwischte ihn etwas am Knöchel.

Forgotten City

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