Читать книгу Forgotten City - Michael Curtis Ford - Страница 7
ОглавлениеKobi brach durch die Tür und rannte.
Sekunden später krachte es hinter ihm. Er warf einen Blick zurück und beobachtete, wie ein riesiges vierbeiniges Etwas auf den Bürgersteig schlitterte, aus dessen grauem Fell Scherben in alle Richtungen stoben. Ein zweites, ein bisschen kleineres Etwas war dicht dahinter. Als Kobi genauer hinsah, gefror ihm das Blut in den Adern. Es waren Wölfe, der ausgewachsene sicher an die zwei Meter groß. Sie waren mitten durch die Glastür gerast. Ihre gekrümmten, schartigen Klauen schabten über den Boden, ihr Bauch war aufgebläht vom Hunger, und in ihren Augen schimmerte das ungesunde Gelb der Waste-Seuche.
Im Rennen verschaffte Kobi sich einen Überblick über die Umgebung: eine freie Fläche, kein Unterschlupf weit und breit. Und die Wölfe waren zweifellos schneller als er.
»Wenn es um Leben und Tod geht, triffst du sofort eine Entscheidung und hältst dich daran.«
Kobi blieb stehen und drehte sich um. Die Wölfe waren noch ungefähr 15 Meter entfernt. Seine Arme hingen bleiern an ihm herab. In Gedanken brüllte er sich an: Bewegung!
Er legte die Armbrust an und richtete das Visier auf den Kopf des kleineren Tiers. Eine Sekunde lang stellte er sich vor, Dad würde ihm über die Schulter gucken wie früher bei ihren Schießübungen in der Turnhalle …
»Immer auf den Körper gehen. Der ist am größten.«
Also zielte Kobi etwas tiefer und drückte ab. Doch ihm zitterten die Hände, und so schnellte der Pfeil in das Vorderbein des Tiers. Zuerst zuckte es zurück. Dann machte es den Hals lang, klemmte den Schaft zwischen den Zähnen ein und zog das Geschoss mit einem Ruck heraus.
Manche Kreaturen wurden durch das Waste nicht nur größer, sondern auch intelligenter.
Kobis Armbrust hatte automatisch nachgeladen. Wieder feuerte er, und diesmal grub sich der Pfeil in den Hals des größeren Wolfs. Mit einem erstickten, rasselnden Knurren kam er zum Stillstand. Der andere hielt inne und drehte sich zu seinem Begleiter. Kobi zielte auf den Kopf des Kleineren und drückte erneut den Abzug durch, doch der Mechanismus klemmte. Und der kleinere Wolf machte wieder einen Schritt nach vorne, trottete los. Im Bruchteil einer Sekunde würde er angreifen, das wusste Kobi. Es war aus. Sollte er fliehen, würde ihn das Tier in kürzester Zeit zur Strecke bringen. Da legte sich ein Schatten über die Erde, begleitet von einem Summen wie von einem Hornissenschwarm. Als ein funkelnder Snatcher vom Himmel herabschwebte, duckte sich der größere Wolf ängstlich auf den Boden. Die Schubdüsen der Drohne zerfurchten das Blattwerk, mit ihren Klauen schnappte sie sich den kleineren Wolf. Einen Moment lang sah Kobi durch die Titanglieder hindurch noch seine rudernden Beine und hörte sein verzweifeltes Jaulen, dann schoss der Snatcher senkrecht in die Höhe. Der ganze Überfall hatte sich in wenigen Augenblicken abgespielt.
Es hätte genauso gut mich erwischen können.
Kobi hängte sich die Armbrust über die Schulter und floh, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er wusste auch so, dass der große Wolf hinter ihm her war, er hörte das wilde Pfotengetrappel auf dem Asphalt. Also konzentrierte er sich lieber auf das nächste Streckenstück und darauf, das letzte bisschen Kraft aus seinen Beinen herauszuholen.
Jetzt gab es keine Regeln mehr. Er musste nur noch überleben, um jeden Preis. Links und rechts von ihm zogen Häuserschemen vorüber, plötzlich rauschte er durch ein Baumdickicht. Zweige peitschten ihm über die Haut und verhakten sich in seiner Kleidung, er stolperte über Wurzeln. Hinter ihm kam das Krachen und Knacken näher. Die Machete in der Scheide klatschte ihm gegen das Bein.
Im Rennen fummelte Kobi das Bärenmoschus-Spray aus dem Halfter, zog die Machete und rammte die Klinge in die Dose. Eine Dunstwolke schoss heraus, beißender Gestank. Kobi warf das Spray über die Schulter, dem Wolf direkt vor die Füße. Hoffentlich.
Sein Plan ging auf – das Getrappel wurde langsamer. Weiter vorne war ein Baum quer über die Straße gestürzt. Kobi machte einen Satz hinüber und schlug sofort einen Haken nach links, lief wieder ein Stück zurück und presste sich japsend gegen einen dicken Stamm. Sein schnaufender Atem dröhnte ihm in den Ohren. Er riskierte einen Blick. Die Schnauze dicht am Boden, umkreiste der Wolf die dampfende Dose, fasziniert von dem überwältigenden Bärengeruch.
Wenn ich das überlebe, passe ich in Zukunft besser auf. Ich schwör’s.
Drüben ließ der Wolf von der Dose ab und wiegte seinen massigen, zotteligen Kopf hin und her. Kobi sah, wie sich seine Nasenlöcher blähten. Langsam lief das Tier geradeaus und schnupperte dabei hin und wieder am Boden.
Es hat geklappt! Ich habe ihn reingelegt!
Der Wolf entfernte sich, mit jedem Schritt wuchs der Abstand. Sechs Meter, siebeneinhalb. Bald sprang er auf den Stamm, den Kobi gerade überwunden hatte. Und blieb dort oben stehen. Sekundenlang starrte er konzentriert nach unten auf die Erde. Kobi begriff, was er sich ansah: einen Schuhabdruck. Kobis eigene verwischte Spur im Matsch, wo er den Haken geschlagen hatte. Jetzt drehte sich auch der Wolf nach links, zu Kobis Versteck. Kobi erstarrte.
Ob der Wolf ihn durch das dichte Gestrüpp erkennen konnte? Schwer zu sagen. Doch er starrte fest in seine Richtung. Und machte einen ersten Schritt. Sollte Kobi fliehen? Oder sollte er sich ruhig verhalten? Noch ein Schritt. Und noch einer.
Der Wolf rannte los.
Kobi stieß sich vom Baumstamm ab und ergriff die Flucht. Er platschte durch ein verschlammtes Rinnsal, zog unter einem tief hängenden Ast den Kopf ein und stolperte auf einmal aus dem Wäldchen hinaus. Seine Turnschuhe waren durchweicht, jeder Schritt schmatzte laut. Kobi bog in eine kleinere Straße ein, steuerte auf eine schiefe Ampel zu, die halb auf einem Lieferwagen ruhte, und duckte sich, ohne abzubremsen, darunter hindurch. Beim Hundert-Meter-Lauf legte er Zeiten von gut 11 Sekunden hin, doch einem Waste-Wolf müsste er sich höchstwahrscheinlich trotzdem geschlagen geben. In einem Schaufenster sah er eine Spiegelung des galoppierenden Raubtiers, selbst leicht hinkend flog es nur so über den Erdboden. Wie lange konnte Kobi dieses Tempo noch durchhalten? Und wohin wollte er eigentlich?
Und was würde das Vieh mit ihm anstellen, wenn es ihn schließlich eingeholt hatte?
Kobi keuchte, schluchzte fast, die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Bis er ein Stück voraus etwas entdeckte.
Eine Feuerleiter!
Sie führte zu einer Gitterplattform seitlich am ersten Stockwerk eines großen, weißen Gebäudes hinauf. Noch fünf Meter, dann könnte er sich an der untersten Sprosse hochziehen. Wenn ich da herankomme. Wenn nicht …
Als der Wolf fauchte, glaubte Kobi, seinen fauligen Atem riechen zu können.
Kobi sprang ab, doch er wusste schon, es würde nicht reichen. Die Hände in die Höhe gereckt, prallte er gegen die Wand, es fehlten nur Zentimeter. Seine Schuhspitzen kratzten über die Mauer und fanden irgendwie Halt, sodass er sich noch einmal abstoßen konnte, seine Finger schlossen sich um Metall. Kobi zog sich hoch. Unter sich hörte er zuschnappende Zähne, dann zuckte plötzlich Schmerz durch seine Arme – ein zusätzliches Gewicht zerrte ihn hinab. Der Wolf hatte eine von Kobis Sohlen zwischen den Kiefern eingeklemmt, seine ausgestreckten Vorderpfoten zischten durch die Luft, er bäumte sich gierig auf. Mit einem Schrei riss Kobi seinen Fuß hoch, und der Wolf stürzte zu Boden, den Schuh im Maul wie einen viel zu kleinen Appetithappen.
Während Kobi sich oben auf die Plattform der Feuertreppe rollte, ließ der Wolf den Schuh fallen und sprang erneut an der Leiter hoch, aber nicht hoch genug. Knurrend, mit dem irren Blick eines ausgehungerten Tiers, nahm er wieder und wieder Anlauf, Speichel floss von seinen Lefzen. Erst nach einer Weile kapitulierte er und schlich nur noch zornig auf und ab. Aus seinem Hals ragte noch der Pfeil, und rote Schlieren klebten in seinem dichten Fell.
Kobis Herz raste, aber sein Atem beruhigte sich allmählich wieder, und langsam wurde ihm klar, wie es um ihn stand. Sein Rucksack lag im Minimarkt – dorthin würde er ganz sicher nicht zurückkehren. Doch seine Waffen hatte er zum Glück noch bei sich. Die Karte auch.
Möglichst ohne an den Wolf zu denken, der unten weiter um die Leiter strich, zog er sie aus der Gesäßtasche und versuchte sich auszurechnen, wohin er geraten war. Von der Plattform aus waren keine auffälligen Gebäude zu erkennen, er sah nichts als Dschungel. Angefangen beim Minimarkt, ließ er den Zeigefinger über das Papier wandern. War er links oder rechts abgebogen? Wie weit war er gerannt?
Ganz in der Nähe entdeckte Kobi eines von Dads handgemalten M’s: das SODO Medical Center, nur drei Straßen vom Minimarkt entfernt. Er blickte an dem modernen Gebäude hinauf, an dessen weißer Wand die Feuerleiter klebte.
Das könnte es doch sein.
Die Feuerleiter führte über mehrere Plattformen und vier Stockwerke zum Dach hinauf. Kobi stieg die Sprossen zur zweiten Etage hoch – der Wolf durfte unten ruhig weiter fauchend umherstreifen, das kümmerte ihn nicht. Vor den meisten Fenstern waren die Jalousien heruntergelassen. Nach dem Zufallsprinzip suchte Kobi sich eines aus und zog die Machete. Aufs Dach konnte er sich nicht wagen, dort hätten alle Snatcher in einem Umkreis von Hunderten Metern freie Sicht auf ihn.
Kobi schlug den Machetengriff gegen die Scheibe. Ein Spinnennetz aus Rissen entstand. Einen derartigen Krach zu machen, war natürlich nicht gerade optimal, aber wie sollte er sonst hineingelangen? Beim nächsten Hieb brach das Glas klirrend aus dem Rahmen, ein paar Scherben rieselten zwei Stockwerke tiefer rund um den lauernden Wolf zu Boden. Mit der Klinge klopfte Kobi die scharfen Splitter weg, dann schob er die Jalousie hoch und spähte ins Innere.
Hinter dem Fenster lag ein Büro. Bücherregale an den Wänden, ein wuchtiger Schreibtisch in der Mitte. Mehrere Zimmerpflanzen hatten ihren Topf gesprengt, um sich an den Mauern und der Decke entlangzuranken. Kobi schwang ein Bein hinein und zog das andere hinterher. Auf dem Computer sprossen Pilze, ebenso auf der Lehne des Chefsessels.
Und auf dem Tisch stand ein Namensschild: Dr. Miriam Argento.
Das ist also wirklich ein Krankenhaus hier.
Kobi ging zur Tür. An einem Fuß trug er nur noch Socken. Hier drinnen sollte er vorerst in Sicherheit sein, und irgendwo müsste man auch etwas zu essen auftreiben können. Ewig konnte er nicht bleiben, aber eventuell könnte er sich sogar etwas Standardausstattung sichern: Morphium, Desinfektionsmittel, Verbandszeug. Saubere Spritzen waren auch nie verkehrt, schließlich musste Dad sich regelmäßig gegen Waste impfen. Trotz allem fasste Kobi wieder etwas Mut. Er würde sich erst mal stärken und ansonsten schön stillhalten. Und beim Morgengrauen würde er wieder aufbrechen.
Als er sich vom Schreibtisch abwandte, fiel ihm der Papierkorb auf, in dem eine Ausgabe der Seattle Times steckte. Neugierig nahm er sie heraus. Er hatte schon mal ein paar Zeitungen zu Gesicht bekommen, aber das war Jahre her, da hatte er noch kaum lesen können. Und Dad achtete genau darauf, dass bei ihnen keine herumlagen. Wahrscheinlich, dachte Kobi, erinnerten sie ihn an das, was Schlimmes passiert war. Zum Beispiel an Mom. Sie war ein paar Tage nach Kobis Geburt gestorben, und Dad sprach nie über sie. Kein Wort. Wenn Kobi doch versuchte, ein bisschen was aus ihm herauszukitzeln, machte er jedes Mal dicht. Deshalb hatte Kobi es irgendwann einfach bleiben lassen.
Die Schrift war noch problemlos zu entziffern, und am oberen Rand stand ein Datum: 19. März 2031. Ungefähr einen Monat zuvor war die Seuche ausgebrochen, das wusste Kobi aus Dads Geschichtsunterricht. Die Schlagzeile lautete: KRANKENHÄUSER ÜBERFÜLLT – POLIZEI FORDERT DRINGEND DAZU AUF, ZU HAUSE ZU BLEIBEN.
Die Augen gebannt auf den Text gerichtet, wanderte Kobi zum Chefsessel, fasste die Lehne mit einer Hand und drehte ihn zu sich.
Eine verweste Leiche rutschte von der Sitzfläche und sackte zu seinen Füßen zusammen. Kobi würgte, wich hastig zurück, stolperte und stürzte gegen eine Zimmerpflanze. Er wollte weg, nur noch weg, doch hinter ihm war die Wand, und direkt vor ihm hingen leere Augenhöhlen. Ein Totenschädel.