Читать книгу Forgotten City - Michael Curtis Ford - Страница 8

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Dr. Argento trug noch ihr elegantes Kostüm, doch soweit Kobi es erkennen konnte, waren von ihrem Körper nur Knochen geblieben. Er sah spindeldürre Handgelenke und Fingerknöchel. Ein Fuß steckte in einem hochhackigen Schuh.

Kobi keuchte.

Ist doch nur eine Leiche. Das Ding kann dir nichts anhaben. Sie ist tot …

Ohne den Blick von Dr. Argento losreißen zu können, ließ er die Zeitung fallen und verließ rückwärts das Zimmer. Der Krankenhausflur war leer, in regelmäßigen Abständen waren hinter Glastrennwänden andere Räume zu erkennen. Um den grausigen Anblick aus seinen Gedanken zu vertreiben, stapfte Kobi geistesabwesend über den Linoleumboden. Hier waren die Topfpflanzen nicht besonders üppig gewuchert, da hatte er in anderen verlassenen Gebäuden viel Schlimmeres gesehen. Wahrscheinlich, überlegte er, lag es an der Krankenhausumgebung, die anfangs noch ziemlich keimfrei gewesen war. Schilder über den Türen wiesen den Weg zu anderen Abteilungen, manche sagten Kobi aber rein gar nichts: Endokrinologie? Onkologie? Pädiatrie? Dad wüsste, was das alles bedeutet. Durch Glasscheiben spähte er in die begrünten Stationen. In faulenden Betten lagen weitere Skelette, jetzt war Kobi aber darauf gefasst. Sie wirkten eigentlich ganz friedlich, wie sie da in ihren übergroßen Nachthemden ruhten, die mottenzerfressenen Decken bis zur Brust gezogen. Nicht dass Kobi noch nie über Leichen gestolpert wäre – allerdings nie über so viele auf einmal. Im Grunde sahen sie aber alle gleich aus, nämlich genau so.

Er kam zu den Aufzügen, und nachdem er das Laub vom Schild daneben gewischt hatte, wurde Kobi fündig: Die »Cafeteria« befand sich im ersten Stock. Obwohl die Lifts natürlich den Geist aufgegeben hatten, als das Stromnetz ausgefallen war, drückte er zum Spaß den Knopf. Nichts tat sich, also nahm er die Treppe. Wie er feststellte, hatte sich die Cafeteria in einen tropischen Wald verwandelt, Riesenfarne sprossen aus Theken und Schränken, Tische und Stühle bildeten Inseln aus grünem Gestrüpp. Dads Stimme hallte durch Kobis Kopf – immer, wenn sie ein Restaurant oder einen Imbiss plünderten, riss er denselben Witz.

»Der Service hier ist echt zum Vergessen.«

»Das Essen könnte auch besser sein«, murmelte Kobi. Auf der Speisekarte wurden Waffeln, Speck, Eier in allen Variationen, Burger, Hotdogs, frischer Obstsalat und Dutzende anderer Köstlichkeiten angepriesen. Das meiste hatte Kobi nie probiert, und trotzdem hatte er gewaltigen Appetit darauf. Doch in der Küche war kaum Essbares aufzutreiben, nur Dosenmais und Ahornsirup waren übrig.

Na, immer noch besser als Wuffz-Hundefutter.

Da in den Leitungen noch Gas steckte, kochte Kobi am Herd etwas Wasser ab, füllte seine Feldflasche und brühte sich mit dem Rest einen leicht abgestandenen Kamillentee auf. Als er damit fertig war, neigte sich der Nachmittag dem Ende zu. Noch hätte er es vor Einbruch der Dunkelheit zur Schule schaffen können, wenn auch nicht ohne Risiko. Aber er konnte nicht einfach umkehren, wo er doch schon so weit gekommen war. Das Labor, zu dem Dad wollte, war nur noch ein paar Kilometer entfernt.

Wenn er denn dort angelangt ist.

Kobi schob die Zweifel beiseite, doch sie lauerten weiter am Rand seines Bewusstseins, und hätten sie die Barriere überwunden, wäre er in Verzweiflung versunken. Er musste also noch eine Nacht allein überstehen. Und Dad musste weitere 24 Stunden ohne Medikamente auskommen.

Was, wenn sie aneinander vorbeigelaufen waren und Dad inzwischen wieder in der Bill Gates High war?

Kobi hatte ihm nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Wie dumm konnte man sein?

»Mach dir keine Gedanken über Dinge, die du sowieso nicht ändern kannst.«

Die Erinnerung an Dads freundliche, gelassene Stimme beruhigte Kobi – die Vorstellung, in der Gesellschaft von lauter Toten in einem alten Krankenhaus zu übernachten, machte ihn aber immer noch ziemlich fertig. Er stieg die Treppe wieder hoch, diesmal bis in den dritten Stock, um sich einen geschützten Schlafplatz zu suchen. Seinem ersten Eindruck nach gab es in dieser Etage nur OPs und Büros und ein paar Labors mit verschiedenen Diagnoseinstrumenten. Die Vegetation hatte sich noch zurückhaltender entwickelt als anderswo, und Leichen waren überhaupt nicht zu entdecken. In einem Wartezimmer mit einem Stapel vergilbter Rätselhefte und Zeitschriften blickte Kobi aus dem Fenster. Über dem bewaldeten Häusermeer Seattles ging die Sonne unter. Weit hinten, als höchster Punkt der Skyline, schwebte die scheibenförmige Spitze der Space Needle.

Früher, hatte Dad erzählt, sei sie ein Aussichtsturm gewesen, Unmengen von Touristen seien Tag für Tag mit dem Aufzug hinaufgefahren. Nach dem Ausbruch der Seuche war sie vom Militär übernommen worden, von dort aus waren die Snatcher losgeschickt worden, und nach jeder Patrouille kehrten die Greifdrohnen zurück wie Vögel in ihr Nest. Auch jetzt sah Kobi ihre kreisenden Schatten. Wie Aasgeier.

Kurz überlegte er, es sich über Nacht auf einem der Stühle gemütlich zu machen, aber die wirkten superunbequem, sogar verglichen mit seinem selbst gebastelten Schlaflager in der Turnhalle – da sah er sich lieber noch im letzten Stockwerk um. Kobi lief die Treppe hinauf. Oben hatten dicke, aus einem Luftschacht quellende Ranken die bemooste Zugangstür aus den Angeln gebrochen. Er stieg hinüber.

Einige Meter weiter hing ein transparenter Plastikvorhang von der Flurdecke, der außerdem seitlich an den Wänden befestigt war. Eine Barriere. Was dahinter war, konnte Kobi nur schemenhaft erkennen, doch darüber prangte ein Schild: »Quarantänezone. Zutritt nur mit Schutzanzug.«

Kobi ging darauf zu. In einer abgetrennten Nische zu seiner Linken befanden sich Haken mit den Anzügen, weiße Overalls mit Kapuze und eingebautem Visier. Sie waren ein sonderbarer Anblick, wie Hüllen aus abgestreifter Haut. Kobi erschauderte. Immerhin fand er ein Paar Turnschuhe, das ungefähr seine Größe hatte, und schlüpfte hinein.

Dann zog er den Reißverschluss an der Seite der Plane vor dem abgeriegelten Gang auf, trat hindurch – und staunte. Das hatte er nicht erwartet. Die Wände waren absolut weiß, kein Fleckchen Grün weit und breit. Überraschend warme, aber abgestandene Luft. Zumindest das leuchtete ihm ein. Kein Waste bedeutete keine Frischluft.

Durch eine Tür blickte Kobi in eine Art medizinisches Labor: Computerarbeitsplätze, große Monitore mit dunklem Display, von Papier übersäte Schreibtische, Molekülmodelle, die ihn an die Chemie- und Physikräume der Bill Gates High erinnerten, und kleine Kammern, die wie futuristische Särge aussahen. In Regalen lagerte technische Ausrüstung, möglicherweise auch Medikamente, und eine Wand wurde fast vollständig von einem überdimensionierten Whiteboard eingenommen – wie in der Schule, nur zehnmal so groß. Daran klebten Fotos von verschiedenen Personen und Großaufnahmen irgendwelcher Körperteile, aus denen Kobi nicht schlau wurde. An eine Seite hatte jemand lange Gleichungen gekritzelt.

Sie haben nach einem Weg gesucht, Waste-Kranke zu behandeln. Ob Dad wohl von diesem Labor weiß?

Hinter einer gläsernen Trennwand am Ende des Raums lag eine weitere Station mit sechs Betten, jeweils umstellt von einer Masse an komplizierter Überwachungstechnik. Zu Kobis Erleichterung war keines der Betten belegt.

Ihm war ein wenig flau im Magen, aber ob das von seinem eigenwilligen Abendessen kam oder ob die Angst an ihm nagte, wusste Kobi nicht. Hier schien es jedenfalls sicher zu sein, und das war das Wichtigste. Er betrat die Station, schloss die Tür und schob ein Bett davor.

Man kann ja nie wissen.

Kobi legte sich in eines der anderen Betten und zog die Decke bis zum Kinn. Die seltsamen Apparaturen um ihn herum musste er wohl einfach ignorieren.

Morgen suche ich weiter.

Bei Tagesanbruch würde er das Krankenhaus verlassen und weiter in Richtung Labor marschieren. Und diesmal würde er besser aufpassen, viel besser.

»So schnell gebe ich nicht auf, Dad«, sagte er zur weißen Decke.

Er dachte noch, er würde sicher ewig nicht einschlafen können, doch dann dämmerte er schon nach einer Minute weg.

Kobi lag auf der Hantelbank, die Finger um die Stange über seiner Brust gekrallt, die Hände weiß von Kreidestaub. Dad blickte stirnrunzelnd auf ihn hinab. »Tu dir ja nicht weh, Junge.«

»Passiert schon nichts.« Kobi holte Luft und schob die Stange nach oben. Als er sie vorsichtig aus der Halterung hob, zog sich seine Brustmuskulatur zusammen. Er drückte die Arme durch, machte die Ellenbogen gerade. Dad hielt die Hände ausgestreckt, um sofort zupacken zu können, sollte Kobi das Gewicht fallen lassen. Doch Kobi ließ es mit einem schnaufenden Einatmen kontrolliert zur Brust sinken. Ausatmen, und wieder hoch. Trotz zitternder Arme konnte er die Stange noch ordentlich in die Haken legen. Er richtete sich auf.

»Kobi, das waren über 130 Kilo!«, rief Dad und schüttelte den Kopf. »Das kriegen die meisten erwachsenen Männer nicht gedrückt.«

»Ich glaube, ich würde noch mehr schaffen.« Kobi wurde ganz rot vor Stolz. »Packen wir noch zehn drauf.«

Dad notierte etwas auf seinem Klemmbrett. »Ein andermal. Du machst unglaubliche Fortschritte, aber solange wir nicht wissen, was mit deinem Körper los ist, sollten wir es nicht übertreiben. Hast du heute schon deine Vitamintabletten genommen?«

»Sicher«, antwortete Kobi. Dann blickte er Dad in die Augen. »Wir wissen doch, was mit mir los ist. Das Waste.«

»Sieht so aus.« Dad nickte. Er wirkte besorgt.

»Stimmt was nicht?«

Dad legte das Klemmbrett weg und fasste ihn an der Schulter. »Dass dein Körper gut mit der Infektion zurechtkommt, ist uns inzwischen klar. Auch, dass du dadurch stärker und schneller geworden bist als normale Teenager. Aber deshalb haben wir noch lange nicht verstanden, was dahintersteckt. Ich brauche noch ein bisschen Blut von dir. Muss ein paar Tests durchführen.«

»Kein Problem.« Während Dad eine saubere Spritze vorbereitete, streckte Kobi den Arm aus und wandte den Blick ab.

»Du kannst das immer noch nicht leiden, was?«

Mit geschlossenen Augen nickte Kobi. Um zu beobachten, was in seinem Körper vor sich ging, nahm Dad ihm alle paar Tage Blut ab, mittlerweile schon Tausende Male. Aber trotzdem, wenn die Nadel in der Haut versank …

Er spürte jedoch keinen Stich. Und als er die Arme heben wollte, konnte er nicht – Ledergurte fixierten seine Handgelenke. Den Kopf konnte er wegen irgendwelcher Fesseln außerhalb seines Sichtfelds auch nicht bewegen. Er spannte den Hals an. Nichts zu machen. Er lag nicht mehr auf der Hantelbank, sondern auf einer Krankenliege.

»Dad? Was ist hier los?«

Dad war verschwunden. Die Turnhalle ebenfalls. Eine Gestalt im weißen Overall beugte sich über Kobi, eine Kapuze über dem Kopf, das Gesicht hinter einem spiegelnden Visier verborgen. Eine zweite kam dazu. Kobi wollte mit den Beinen austreten. Auch die waren eingeschnürt. Er wollte schreien, doch irgendetwas steckte in seiner Kehle, er bekam kaum Luft. Einer der Forscher lehnte sich noch weiter nach vorne. In der Hand hielt er ein glänzendes Skalpell.

Nein … bitte nicht!

»Keine Angst«, sagte eine Stimme. Es klang nach einem Jungen.

Doch Kobi hatte Angst. Todesangst. Das Skalpell näherte sich seinem Gesicht. Durch die Maske erhaschte er einen Blick auf kalte, gefühllose Augen.

Oh Gott, oh Gott, oh Gott.

Kühl legte sich der Stahl auf seine Haut, und die Klinge drückte sich hinein …

Im Halbdunkel, umgeben von den Schatten der Krankenstation, öffnete Kobi die Augen. Irrte er sich, oder drang gerade noch ein ausklingendes Wolfsheulen an seine Ohren? Er blickte sich um.

Kein Mensch zu sehen.

Keine Forscher, keine Skalpelle.

Natürlich nicht. Es gibt niemanden mehr.

Ihm dröhnte der Schädel. Es war kein normales Kopfweh – es war ein Gefühl, als hätte sich sein Inneres mit knisternder Elektrizität aufgeladen. Seine Augäpfel brannten in den Höhlen. Kobi wischte die Bettdecke beiseite, atmete angestrengt durch und wusste endlich wieder, wo er war: in der Quarantänezone im vierten Stock des SODO Medical Center. Es war das erste Mal, dass er außerhalb der Schule übernachtete, und das ging offenbar doch nicht spurlos an ihm vorbei. Hätte ich mal meine Vitamine genommen, dachte er mit einem bitteren Lächeln. Kobi griff sich die Taschenlampe vom Nachttisch und knipste sie an. Auf der Station hatte sich etwas verändert … aber was eigentlich? Nach ein paar Sekunden kapierte er es. Über die Tür zog sich ein zartes Moosgeflecht, und aus allen Matratzen, auch aus seiner eigenen, sprossen grüne Triebe.

Er hatte vergessen, den Reißverschluss der Plastikplane auf dem Gang zu schließen, und so hatten einige Waste-Sporen rasch den Weg ins Innere gefunden, wie immer eben. Egal, er wollte sowieso nicht lange bleiben.

Kobi ging zum Fenster und blickte auf die dunkle Stadt hinaus. Noch war es Nacht, nur wie spät war es genau? Und wartete der Wolf wirklich noch dort draußen auf ihn, oder hatte das noch zum Traum gehört? Kobi schaltete die Lampe aus. Nach und nach gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, und der Schweiß auf seiner Haut trocknete.

Was zur Hölle hatte er da überhaupt geträumt? Das mit Dad war bloß eine Erinnerung gewesen, klar, aber der Rest, mit den Ärzten oder Wissenschaftlern oder was sie auch immer sein sollten? Dann diese Jungenstimme … Hatte er etwa vom Anblick der leeren Schutzanzüge Albträume bekommen?

Jetzt würde er sowieso nicht mehr schlafen können.

Da stutzte Kobi. Draußen, zwei Straßen weiter, war etwas. Auf dem Dach eines Gebäudes zerteilte ein Lichtkegel die Dunkelheit.

Kobis Körper verkrampfte sich. Sein Puls donnerte ihm in den Ohren, und das Unwohlsein, das vom Traum geblieben war, wurde von plötzlich aufflammender Hoffnung weggefegt. »Dad!«, rief er. Sein Atem ließ das Glas beschlagen.

Doch binnen Sekunden wich seine Freude der Panik. Was macht er da auf dem Dach? Die Snatcher werden ihn …

In der Nähe blitzte ein zweites Licht auf. Und ein drittes.

Kobi schnappte nach Luft und drückte die Hände gegen die Scheibe.

Das kann nicht sein.

Die Lichter erloschen. Aber Kobi war sich sicher, er hatte sie sich nicht eingebildet. Es waren Taschenlampen gewesen, und sie hatten sich bewegt … das konnte nur eines bedeuten: Dort waren Menschen. Echte, lebendige Menschen. Kobis Eingeweide schienen zu einem harten Knäuel zu schrumpfen. Dad war überzeugt davon, dass alle anderen Bewohner Amerikas ausgelöscht worden waren. Und wenn nicht, meinte er, wären die anderen Überlebenden außer Reichweite. Es wäre aussichtslos, sich auf die Suche nach ihnen zu machen. Bisher hatte Kobi gedacht, sein Vater hätte immer in allem recht, aber hier lag er falsch. Komplett daneben.

Kobi musste sich zusammenreißen, musste gründlich überlegen. Wäre Dad hier, würde er ihn streng ermahnen, sich vorzusehen. Sich an die Regeln zu halten. Aber eventuell könnten ihm diese Menschen helfen, Dad zu finden?

Ohne noch weiter nachzudenken, schnallte Kobi sich den Werkzeuggürtel um und schlang die Armbrust über die Schulter, bevor er zitternd die Karte auseinanderfaltete. So genau wie möglich rechnete er aus, auf welchem Hausdach die Lampen aufgeleuchtet waren. Dann rannte er zur Tür.

Ich komme, Dad.

Forgotten City

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