Читать книгу Forgotten City - Michael Curtis Ford - Страница 9

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Mit Riesensätzen sprang Kobi die Stufen hinunter, machte auf den Treppenabsätzen mit klatschenden Sohlen kehrt, raste durch den Empfangsbereich, brach durch die Tür – und zwang sich, abzubremsen. Nachts war es gefährlich draußen. Von einem Snatcher erwischt zu werden, wäre kein Spaß.

Die Lichter waren nicht weit entfernt gewesen, doch jetzt waren sie nicht mehr zu erkennen, und durch lautes Rufen hätte er nur Raubtiere aufgescheucht. Kobi eilte an den Häuserwänden entlang und blieb alle paar Meter stehen, um sich genau umzuschauen. Je länger er darüber nachdachte, desto weniger Zweifel hatte er: Es gab wirklich andere Überlebende. Die hatten Dad gefunden, ganz bestimmt, und jetzt suchten sie nach seinem Sohn. Warum sollten sie sich sonst da oben herumtreiben? Vielleicht waren sie zuerst zur Schule gegangen, wo er aber nicht mehr war, und daraufhin seiner Spur hierher gefolgt. Kobis Herz raste, ein elektrisches Kribbeln huschte über seine Haut. Echte Menschen! Wo ihre Basis wohl war? Und wie viele dort wohl insgesamt lebten?

Kurz vor einer Kreuzung hörte er ein Knurren. Abrupt stoppte Kobi ab. Und sah den Wolf. Auf der anderen Straßenseite kauerte er im Eingang einer ehemaligen Bank und blickte ihn direkt an. Seine Flanken hoben und senkten sich. In seinem Hals steckte immer noch der Pfeil, in seinem Fell war das Blut zu braunen Schlieren verkrustet.

Blanke Panik überkam Kobi. Wie konnte er nur so unvorsichtig sein!? Die Augen fest auf das Tier gerichtet, zog er die Armbrust von der Schulter. Als er den Wolf anvisierte, bleckte dieser die Zähne. Er müsste ihn mit einem Schuss erlegen … doch da trollte sich der Wolf einfach, und Kobi bemerkte die gedämpften Stimmen.

Schnell ging er ein paar Meter weiter hinter einem alten, von Dornengestrüpp überwucherten Verkaufsstand in Deckung. Er spähte durch das verknotete Geäst und traute seinen Augen nicht. Sie waren zu acht. Fünf waren von Kopf bis Fuß in Schutzanzüge mit Stirnlampen gehüllt, drei trugen nur schlichte graue Kleidung ohne Kopfbedeckung. Ganz sicher war Kobi sich nicht, aber seinem Eindruck nach waren diese drei noch jung. Ungefähr in seinem Alter.

Kobi wollte sich gerade zeigen – da sah er die Gewehre über den Schultern der Erwachsenen. Big Hank’s war schon in der Anfangszeit der Pandemie geplündert worden, an echte Knarren waren Dad und er deshalb nicht mehr herangekommen. Woher hatten die die Dinger? Es sah nach richtigen Hightech-Teilen aus – hatten sie das Militär ausgeraubt? Am Gürtel trugen sie außerdem je einen schwarz schimmernden Schlagstock.

Mit ihren Taschenlampen suchten sie die Umgebung ab, leuchteten sorglos hin und her, als fürchteten sie sich nicht vor Snatchern. Dabei mussten sie doch von der Gefahr wissen, sonst hätten sie nie so lange überlebt. Also was sollte der Mist? Kobi warf einen Blick in den Himmel, schon auf das metallische Funkeln der Greifer gefasst. Am Ende kamen diese Menschen von einem Ort außer Reichweite der Scannerdrohnen? Etwa aus einem anderen Land? Oder hatten sie jahrelang in einem unterirdischen Atombunker gehaust und sich erst vor Kurzem an die Oberfläche gewagt?

Die Gruppe rückte geordnet vor, es war eine systematische Suchaktion. Wenn das Taschenlampenlicht die Jüngeren streifte, konnte Kobi sie sich kurz genauer anschauen – zwei davon waren Mädchen. Echte Mädchen. Kobi konnte es nicht fassen. Es war, als wären sie einfach aus den Postern in den Klassenzimmern der Bill Gates High spaziert. Als eine von ihnen winkte, dachte er schon, sie hätte ihn entdeckt. Doch links von ihm, ungefähr dort, wo eben noch der Wolf gelauert hatte, rannte eine Gestalt hinter einem Auto hervor. Es war ein Junge, jünger noch als Kobi. Jetzt gesellte er sich zu den Mädchen. Eines davon war deutlich größer als die anderen. Möglich, dass sie indische Wurzeln hatte, aus dieser Entfernung war es im Dunkeln aber schwer zu erkennen. Ziemlich plötzlich blieb sie stehen, als hätte sie eine Gefahr gewittert. Der Rest ging weiter, geradewegs auf ein Gitter im Bürgersteig zu.

Kobi konnte nicht mehr stillhalten. Er schnellte aus seiner Deckung. »Hey, passt auf!«

Im selben Moment drehte sich die gesamte Gruppe um, und fünf Gewehre zielten auf ihn. Hinter den dunklen Visieren konnte Kobi keine Gesichtszüge erkennen.

»Keine Bewegung, Kleiner!«, rief einer der Erwachsenen und wandte sich an seine Begleiter. »Auf D-1 stellen!«

Englisch. Sie sprachen ganz normales Englisch mit amerikanischem Akzent. Verwirrt wich Kobi zurück, die Hände mit der Armbrust über den Kopf gereckt.

»Stehen bleiben, oder wir schießen!«, schrie ein anderer.

Der kleinere Junge blickte sich verängstigt um, bevor er sich schließlich zu dem großen Mädchen und einem der Erwachsenen flüchtete. Kobi wagte nicht, sich zu rühren.

»Ich suche meinen Dad!«, rief er.

Die Gestalten im Schutzanzug kamen näher, die Gewehre weiter auf Kobi gerichtet. Einer neigte den Kopf zu seinem Kragen. Kobi wunderte sich darüber – bis er begriff, dass der Erwachsene in eine Art Funkgerät sprach. Das kannte Kobi aus den Actionfilmen, die er in der Schule auf dem zusammengeflickten Beamer geguckt hatte. »Ziel erfasst«, sagte der Mann. Eine Pause. »Ja, er ist allein.«

Dann setzte er einen Fuß auf das Gitter.

»Runter da!«, brüllte Kobi. Was ist nur in die gefahren? Haben die denn gar keine Ahnung?

Der Mann nickte einem seiner Begleiter zu. »Okay, Feuer frei. D-1.«

»Nein!«, rief Kobi, »nicht!« Ein leises Ssssst war zu hören, und im Gewehrlauf blitzte es. Kobi zuckte zur Seite, fast im selben Moment wie sich ein kleines Projektil in die Dornen hinter ihm bohrte. Irgendwie war er rechtzeitig ausgewichen.

Noch ein Ssssst.

Kobi spürte einen Stich im Bein. Er fasste sich an den Oberschenkel, ertastete einen Dartpfeil und zog ihn heraus. »Bitte, ich …«

In diesem Augenblick explodierte der Bürgersteig. Zwei Erwachsene wurden in die Luft geschleudert, ein dritter zog sich zurück, während sich vor ihm gigantische Ranken aus dem Untergrund erhoben. Würgepflanzen. Ein Mann drückte auf dem Rücken liegend ab – daneben. Ein dicker grüner Strang schlängelte sich nach unten um seine Hüfte, und entsetzt beobachtete Kobi, wie er schreiend in das klaffende Loch im Boden hinabgezogen wurde. Auch einer der Anführer kam nicht mehr davon. Sein Gewehr schepperte auf den Asphalt. Mit Händen und Füßen versuchte er, sich zu befreien, doch die Würger zerrten ihn erbarmungslos in den Untergrund.

Ein Erwachsener machte kehrt und floh.

»Hey, hiergeblieben!«, rief das kleinere Mädchen. Es hatte olivfarbene Haut und eher kurzes dunkles Haar.

Kobi hielt sich im Hintergrund. Er hatte immer noch den Dart in der Hand – hatte er ein Betäubungsmittel abbekommen? Wenn ja, wirkte es bisher nicht auf ihn. Die beiden letzten Erwachsenen wichen in Richtung ihrer jungen Begleiter zurück und feuerten dabei immer wieder präzise Salven ab. Ein Würger wurde getroffen, das Riesententakel zuckte mit zitternder Spitze zurück. Doch da gab es einen Knall, und im Rücken der Fremden sprengten weitere Pflanzen das nächste Gitter. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als zu fliehen. Als sich die Ranken von allen Seiten über die Erwachsenen hermachten, schrie das kleinere Mädchen auf. Einer wollte noch abhauen, als sich eine Schlinge um seine Knie hakte und ihn über den Asphalt in die Tiefe schleifte. Um den anderen stritten sich zwei Pflanzen, die eine hatte ihn am Bein gepackt, die andere am Arm, sodass ihm das Gewehr halb aus den Fingern rutschte und schließlich gänzlich aus den Händen glitt. So hoben sie ihn in die Luft, und Kobi glaubte schon, sie würden ihn zerreißen, bis die größere das Tauziehen für sich entschied. In den ein, zwei Sekunden, in denen sie den Mann noch in die Höhe reckte, flimmerte das Licht seiner Stirnlampe in wilden Mustern durch die Nacht. Dann zogen sich die Stränge zusammen und glitten mitsamt ihrer Beute unter die Straße.

Kurz darauf machten sich die Würgepflanzen wieder auf die Suche, schickten tastende Tentakel hinauf. Die drei Kids waren erstarrt. In wenigen Sekunden würde eine Ranke fündig werden. Nicht auszudenken, was dann passieren würde.

»Lauft!«, rief Kobi. »Na los!«

Die Kids setzten sich in Bewegung, wobei das ältere Mädchen sich im Laufen das Gewehr schnappte, das der Guardian verloren hatte – doch sie rannten nicht in Kobis Richtung, sondern von ihm weg. Kobi musste ihnen wohl oder übel folgen. Bald hatte er sie eingeholt, sie waren langsamer als er. Das kleinere Mädchen mit der olivfarbenen Haut drehte sich noch einmal zu dem Abgrund.

»Die sind schon tot«, schrie Kobi und packte sie am Arm. Endlich gab sie es auf und setzte ihren Weg fort.

Der Boden unter ihren Füßen bebte, Risse entstanden, und überall brachen Rankenspitzen durch die Oberfläche, während sie unbeirrt weiterliefen. Kobi staunte – das Geflecht aus Schlingpflanzen dort unten war offenbar riesengroß, ein wahres Monster. »Bleibt hinter mir!«, brüllte das größere Mädchen und rannte voraus. Sie legte einen Slalom durch die emporwachsenden Würger hin, oft wechselte sie im allerletzten Moment die Richtung.

Als wüsste sie vorher, woher sie kommen, dachte Kobi.

Eine massive Schlinge peitschte ihm entgegen, er schlitterte darunter hindurch. Es war, als würde die ganze Straße zum Leben erwachen. Weiter vorne sah es noch schlimmer aus – eine geschlossene Front aus Würgern freute sich auf das Festmahl. Ihre Rankenspitzen zuckten schon.

An den meisten Gebäuden wuchs eine lückenlose Schicht aus Grün, doch an einem entdeckte Kobi eine kurze Treppe zu einer geborstenen Tür. »Hier lang!«

Als er das kleinere Mädchen hinter sich herzog, wehrte sie sich nicht, und auch die anderen hörten auf ihn. Sie stürmten durch einen Lianenvorhang und fanden sich im Vorraum eines Apartmenthauses wieder. In der Luft hing ein ätzender Gestank. Kobi sah, dass sich im Treppenhaus ein Berg getrockneter Vogelmist auftürmte, auch an den Wänden klebte Dreck. Gut. Wo Vögel nisten, gibt es keine Raubtiere. Er stampfte die Treppe hinauf, blieb nach ein paar Stufen aber wieder stehen. Die anderen rührten sich nicht.

»Wir müssen höher rauf«, sagte Kobi. Wie aufs Stichwort kroch hinter ihnen der zarte Spross einer Würgepflanze durch die Tür. Sofort rempelte sich das kleinere Mädchen an ihm vorbei, das größere aber schirmte den Jungen mit dem Körper ab. Kobi führte sie die Stufen hinauf, weiter und weiter. Wie hoch konnten sich die Würger strecken? Er hatte keine Ahnung, aber ihnen war auf jeden Fall ein besonders mächtiges Exemplar auf den Fersen. Das größere Mädchen stützte den keuchenden Jungen. Kurz nach dem zweiten Stockwerk zuckten sie alle von einem Kreischen zusammen. Ein scharfes Flattern war zu hören, und zwei gigantische, sicher einen Meter große Vögel flogen ungelenk an ihnen vorbei. Gelbliche Federn segelten herab.

Ganz oben, am Ende der vierten Treppe, war die Vegetation nicht mehr ganz so dicht. An den Mauern wuchs Moos, und auf den Stufen gedieh Schimmel, doch stellenweise konnte man sich beinahe vorstellen, wie es hier vor dem Seuchenausbruch ausgesehen hatte. Windschiefe Bilder hingen an den Wänden, an manchen Türen waren noch stumpfe Blechziffern zu erkennen. Die Tür von Nummer 43 stand ein wenig offen. Kobi drückte sie weiter auf. Im Inneren tat sich nichts. Also nickte er den anderen zu und trat ein.

Sie befanden sich in einem kleinen Apartment. Unter Gestrüpp vergraben verrotteten Möbel, die Küche quoll über von Farnen. Eine Kakerlake, die so groß war wie Kobis Fuß, flitzte in die grünen Gefilde des Bads. Anscheinend war ein Rohr geplatzt, denn in einer Zimmerecke hatte sich der Boden abgesenkt, dort stand übel riechendes Sumpfwasser. Im Nachbarraum entdeckte Kobi ein Kinderbett. Hier waren die Vorhänge geschlossen, und auf den zerfledderten Überresten der Tapete prangte das ABC, illustriert mit bunten Bildchen. K stand für Katze. Eine ganz normale Katze. So etwas hatten sich die Leute früher angeblich als Haustier gehalten! Kobi hatte seine Zweifel, dass es wirklich mal solche Tiere gegeben hatte, solche niedlichen Fellknäuel mit flauschigem Schwanz. Eine lächerliche Vorstellung.

»Was waren das für Dinger?«, fragte das kleinere Mädchen. Sie zitterte leicht.

»Würgepflanzen«, antwortete Kobi. »Habt ihr noch nie welche gesehen?«

Ein Kopfschütteln.

»Fionn?«, sagte das größere Mädchen. Sie stützte das Kinn des Jungen. Trotzdem sackte sein Kopf immer wieder nach vorne. »Fionn, reiß dich zusammen.«

»Ich glaube, Guardian Krenner ist noch davongekommen«, sagte das kleinere Mädchen.

Die andere schüttelte den Kopf, als würde sie sich weniger Hoffnungen machen. »Selbst wenn – er ist einfach abgehauen, Niki.« Sie atmete tief ein. Dann spürte Kobi ihren bohrenden Blick. »Wir müssen weiter.«

Kobi wollte so vieles wissen. Wer waren die drei? Hatten sie irgendwo in der Nähe eine Basis? Dass die Erwachsenen ihre Eltern gewesen waren, bezweifelte er – sie hatten eher nach Soldaten ausgesehen. Und das Mädchen hatte den einen gerade als »Guardian« bezeichnet, als Wächter oder Beschützer … noch so ein Rätsel. Doch die Fragen mussten warten. »Runter auf die Straße können wir nicht mehr«, sagte Kobi. »Die Würger spüren jede Bewegung, und so viele auf einmal habe ich noch nie gesehen. Wenn wir …«

Die Vorhänge flatterten. Als der Junge schnaufend einatmete, presste Kobi ihm schnell die Hand auf den Mund.

Lautlos glitt die Rankenspitze einer Würgepflanze ins Zimmer.

Forgotten City

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