Читать книгу Forgotten City - Michael Curtis Ford - Страница 6

Оглавление

»Was zur –?«

Kobis Fuß wurde unter ihm weggerissen, der Bürgersteig raste ihm entgegen. Obwohl er sich im letzten Moment mit überkreuzten Armen abfangen konnte, prügelte ihm der Aufprall die Luft aus der Lunge. Er warf einen Blick zurück und stellte fest, dass sich eine gelbe Ranke um seinen Turnschuh gewickelt hatte, so dick wie sein Handgelenk.

Sie zog ihn zur Spalte. Panik durchzuckte Kobi, er rang um Atem. Als er sich losreißen wollte, stöhnte er vor Schmerz auf – die Stacheln der Würgepflanze bohrten sich durch den Hosenstoff in seine Haut. Verzweifelt versuchte er, sich festzuhalten, aber wo?

Kobi rollte sich auf den Rücken, riss die Machete aus der Scheide, zielte und hackte drauflos. Der erste Hieb ging daneben auf den Asphalt, Funken sprühten. Mit dem zweiten trieb er die Klinge tief in die Ranke. Gelber Saft floss aus der Wunde. Kobi holte noch einmal aus und schlug den Strang durch. Die verstümmelte Pflanze bäumte sich auf wie eine Schlange und glitt in den Abgrund.

Während Kobi sich völlig außer Atem aufrappelte, rutschten die abgestorbenen Schlingen von seinem Knöchel.

Wieder sah er Dads Gesicht vor sich. Seine Wangen brannten vor Scham. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was Dad jetzt gesagt hätte.

»Idiot!«, knurrte Kobi sich selbst an.

Er zog sein Hosenbein hoch und sah Blut – mehrere Reihen kleiner Stichwunden. Sie würden rasch verheilen, aber fürs Erste würde er nur langsamer vorankommen.

Und manche Raubtiere da draußen konnten Blut auf etliche Kilometer Entfernung wittern.

Leicht hinkend und extrem vorsichtig setzte Kobi seinen Weg durch dichten Wald fort. Der bemooste Boden war von Wasserläufen und sumpfigen Stellen durchzogen, Monsterfelsen entpuppten sich bei näherem Hinsehen als von Flechten bedeckte Autowracks. Hier und da schimmerten die Häuser abseits der Straße durch, manche wie aufgespießt von Baumskeletten, andere kaum zu erkennen vor lauter üppig wuchernden exotischen Blumen. In dieser Gegend hätte Kobi sich leicht verirren können, hätte er von seinen Ausflügen mit Dad nicht noch ein paar Orientierungspunkte im Kopf gehabt: der windschiefe Briefkasten von Hausnummer 3321; der alte Basketballkorb, der sich tapfer zwischen den Stämmen hielt; ein angespültes Rennboot, die Spitze hoch in der Luft, als hätte es eine Welle unter dem Bug; die alte Tankstelle mit dem Schild: »KEIN BENZIN MEHR!« Als sich das Waste richtig breitmachte, hatte Dad erzählt, hätten die Leute panisch die Flucht ergriffen, nur leider viel zu spät. Wohin hätten sie noch fliehen sollen?

Mit schnellen Schritten, aber äußerst wachsam ließ Kobi all das links liegen. Wann immer er etwas Deckung hatte, warf er einen Blick auf die Karte.

Nach einigen Stunden kam er in die Nähe des Flusses. Hier stieg die Fahrbahn an, größere Mietshäuser säumten die Straße und wichen schließlich Industriebauten, die meist schon vor Jahren eingestürzt waren. Bloß ein paar Kamine hielten der Flut an organischer Substanz, die unaufhaltsam an ihnen emporkroch, noch wacker stand. Weiter vorne, die Brücke war schon nicht mehr weit, war der Duwamish Waterway stellenweise über die Ufer getreten, ein Sumpfgebiet war entstanden. Wie die Leichen gestrandeter Wale ruhten mehrere Walmart-Lkws im Morast.

Die West Seattle Bridge stand noch. Um ihre Pfeiler hatten sich allerdings Kletterpflanzen geschlungen, und auf dem Asphalt wuchs eine Wiese aus Wildgräsern. Wie lange das Bauwerk sich wohl noch gegen die geballte Kraft von Waste und Natur würde stemmen können? Kobi wusste es nicht. Hinten schälte sich die Skyline aus dem Nebel: Wolkenkratzer über Wolkenkratzer, alle in einen Mantel aus Grün gehüllt wie Säulen aus Pflanzenmasse und überragt von einem einzelnen zierlichen Turm, der Space Needle. Nur sie war noch nicht vollständig von der Vegetation erobert worden, zur Spitze hin klafften Lücken im Grün. Kobi hatte viele Fotos von der früheren Stadt und sogar ein paar Filme aus dem Schularchiv gesehen: zahllose Menschen auf den Bürgersteigen, Tausende helle Lichter an den Fassaden, blinkende Ampeln und Werbetafeln, Unmengen von Autos … nichts davon existierte noch.

Kurz vor der Brücke blieb Kobi stehen und zückte erneut die Karte. Bis hierhin war er mit seinem Dad vorgedrungen, nie weiter. Er hatte nie weitergedurft. Jenseits der Brücke, wo die eigentliche Stadt begann, lauerten wer weiß welche Gefahren.

Sein Plan war nicht weiter kompliziert. Er wollte zu Dads Labor an der Universität. Und unterwegs möglichst nicht umkommen.

Mit kribbelnder Angst im Nacken setzte Kobi den ersten Fuß auf die Brücke. Er huschte von Autos zu Büschen, immer weiter, und ignorierte dabei den stechenden Schmerz in seinem Knöchel. Das Wasser unter ihm und drüben in der Bucht war dunkel und aufgewühlt. Ob irgendwelche Meeresbewohner die Waste-Seuche überlebt hatten, wusste er nicht. Denkbar, dass es genauso gelaufen war wie an Land … aber was hätte er davon gehabt, sich mutierte Seeungeheuer auszumalen?

Einige Minuten später hatte er drei Viertel der Brücke hinter sich gebracht. Weiter vorne hatte sich ein Laster quergestellt, seine Hecktüren hingen offen herab. Als Kobi ihn gerade vorsichtig umrundete, entdeckte er ein Schimmern am Himmel, und der Schrecken stach ihm in die Brust.

Ein Snatcher.

»Wenn du einen Snatcher sichtest, lässt du alles stehen und liegen und suchst dir Deckung. Das ist mein Ernst, Kobi. Ohne Wenn und ohne Aber. Du versteckst dich.«

Kobi schob sich unter den Truck und hielt den Atem an. Sollte der Snatcher bereits seine Wärmesignatur erfasst haben, musste er sprungbereit sein.

Nach ein paar Sekunden riskierte er einen ersten Blick in die Höhe. Das Ding flog gemächlich nach Norden, seine Drei-Meter-Flügel ausgebreitet. Beiderseits der Kamera- und Scannereinheiten an seinem Bauch glitzerten metallene Vogelklauen.

Kobi duckte sich wieder unter den Lkw. Alles in ihm schrie danach, umzukehren und zur Schule zu rennen. Mit seiner Armbrust und seinem Taser wäre er dem Snatcher niemals gewachsen.

Ich bin schon so nah an Dad dran. Ich kann jetzt nicht aufgeben.

Erneut spähte er hinaus. Am Himmel war nichts mehr zu sehen. Kobi rannte zum Brückengeländer – knapp zehn Meter tiefer verlief die untere Fahrbahn. Dad hätte sich bei einem solchen Sprung beide Beine gebrochen. Kobi dagegen schwang sich einfach hinüber, ließ sich so weit wie möglich hinab und öffnete die Hände. In geduckter Haltung federte er den Aufprall mit den Knien ab. Die Stichwunden an seinem Knöchel brannten, doch irgendwie schaffte er es, nicht zu schreien. Schnell blickte er sich auf der unteren Ebene um. Drohte auch hier Ärger? Doch es rührte sich nichts.

Also lief Kobi weiter, unter Überführungen und zwischen imposanten, von zerstörerischer Vegetation erstickten Lagerhallen hindurch, und nutzte dabei jede Deckung. Größere Raubtiere hätten hier zwar kaum Beute gefunden, ab und zu registrierte er aber ein leises Tapsen oder Vogelkreischen, und jeder Tierlaut bedeutete eine weitere Verzögerung. Immer musste er abwarten, bis das Geräusch verklungen war.

Alle paar Ecken warf er einen Blick auf die Karte, und manchmal hielt er sogar mehrere Minuten inne, um seine Umgebung in Augenschein zu nehmen. So gelangte er erst nach langer Zeit zum ersten N auf der Karte: einem Minimarkt. Dichtes Blattwerk schmiegte sich an die Scheiben und versperrte die Sicht ins Innere. Wie Kobi feststellte, stand die automatische Schiebetür einen Spaltbreit offen. Unter normalen Umständen hätten er und Dad erst sorgfältig die Lage erkundet. Solomissionen waren riskant.

Kobi zog seine Machete, denn im Nahkampf könnte er damit mehr anfangen als mit der Armbrust. Auch aus der Nähe deutete von außen erst einmal nichts auf lauernde Jäger hin. Keine Bewegung, kein Laut. Um das Gitter im Bürgersteig machte Kobi lieber einen Bogen – gut möglich, dass darunter Würgepflanzen schlummerten, die ihre Beute durch die Erschütterung erspüren konnten. Dann schob er die Tür etwas weiter auf und wischte eine Efeuschlinge beiseite. Im Inneren war es warm und stickig, der Boden übersät von Flaschensplittern, hinten war gerade so die Kasse zu erkennen. Wegen der zugewucherten Fenster war es ziemlich dunkel. Kobi schaltete die Taschenlampe ein und schwenkte sie einmal von links nach rechts.

Auf den ersten Blick erkannte er, dass der Laden bereits geplündert worden war. Vermutlich während der Tumulte kurz nach der ersten Infektionswelle oder auch später, durch Überlebende, die dem Waste erst nach einiger Zeit erlegen waren. Alles hatten sie jedoch nicht mitgehen lassen. Vieles war heute nur noch abgepackter Staub – Brot, Kartoffelchips und Bonbons etwa. Tütensuppen waren noch zu haben, aber deren Nährwert konnte man vergessen. In einem alten Kühlregal hatten sich mächtige Schimmel- und Pilzkulturen angesiedelt. Kobi trat in den nächsten Gang, und sein Herz machte einen Sprung – ein Regal voller Konservendosen! Er durchwühlte sie. Eine der ersten Lektionen, die Dad ihm beigebracht hatte, lautete: »Mindesthaltbarkeitsdaten« hatten null Bedeutung.

»Solange das Ding dicht ist, ist der Inhalt essbar.«

Kobi stöberte ein paar Dosen Makkaroni in Tomatensoße und einige Portionen Chili mit Rindfleisch auf, die ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Außerdem Gemüse: Karotten, Kartoffeln und Bohnen.

Während er sich den Rucksack vollschaufelte, rechnete er bereits in Rationen. Von dem Zeug könnten sie sich wochenlang ernähren. Er könnte später noch mal mit Dad hierherkommen, auch wenn sie wahrscheinlich mehrmals hin- und zurückmüssten, um alles zur Schule zu schaffen. Als er versteckt hinter lauter Dosen mit Pilzen eine mit Ananas entdeckte, konnte Kobi sich nicht zurückhalten. Er stach den Deckel mit seinem Schweizer Taschenmesser an und setzte sie an die Lippen. Der Saft war herrlich süß, köstlicher als alles, woran er sich erinnern konnte. Er öffnete die Dose ganz und ließ die fleischigen Fruchtstücke in seinen Mund rutschen, schluckte sie fast ohne Kauen. Und rülpste.

»’tschuldigung auch«, murmelte er grinsend.

Ein blechernes Klappern. Das Grinsen verging ihm.

Kobi rührte sich nicht. Keinen Millimeter. Der Ananassaft tropfte ihm vom Kinn.

Ganz aus der Nähe kam ein Schlurfen und Schaben.

Da ist irgendwas im Laden …

Kobi schluckte und verfluchte sich dafür. Selbst das schien ihm zu viel Krach zu machen.

Wahrscheinlich ist es nichts. Nur eine Bewegung der Ranken. Ein bisschen Zugluft. Oder es ist Dad …

Da hörte er ein tiefes Schnauben. Sein Magen drehte sich um.

Eines war klar: Es war kein Mensch.

Das Schlurfen näherte sich. Langsam wandte Kobi sich in die Richtung des Geräuschs. Es kam aus dem hinteren Teil des Ladens. Ein Blick zum Ausgang. Kobi rechnete sich seine Chancen aus. Er konnte es schaffen. Aber nicht ohne Lärm.

Möglich, dass es bloß eine Ratte war. Die wurden teils auch aggressiv, stellten aber keine größere Gefahr dar, außer sie griffen im Rudel an. Und man konnte sie essen. Das heißt, Kobi konnte sie essen, weil ihm das Waste nichts anhaben konnte. Er zog die Armbrust von der Schulter.

Ein Krachen. Plötzlich wankte das Regal vor seiner Nase – offenbar war irgendetwas von der anderen Seite dagegengerempelt. Kobi spürte kalten Schweiß im Nacken.

So viel Kraft hat keine Ratte der Welt.

Das Schnaufen war nicht mehr weit entfernt, und wie es sich anhörte, stammte es von einem Riesentier. Das ihn außerdem trotz Bärenmoschus wittern konnte.

Oder hatte es einfach keine Angst vor Bären?

Kobi orientierte sich rasch. Sein Rucksack war zu weit entfernt, da kam er nicht heran. Wie in Zeitlupe hob er die halb leere Ananasdose.

Es muss einfach funktionieren. Bitte …

Er schleuderte die Dose tief in den Laden. Scheppernd kam sie auf, und wieder erzitterte das Regal vor seiner Nase – das Tier machte kehrt und stampfte immer schneller in dieselbe Richtung. Kobi stürmte bereits zum Ausgang.

Forgotten City

Подняться наверх