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Kapitel 3
Der »weinende Indianer« und die Geburtsstunde der Ablenkungskampagne

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Gutes Handeln gibt uns selbst Kraft und inspiriert gutes Handeln in anderen.

— Plato

Aber unsere Energieprobleme sind in vielerlei Hinsicht das Ergebnis eines klassischen Marktversagens, das nur durch kollektives Handeln behoben werden kann, und die Regierung ist das Mittel für kollektives Handeln in einer Demokratie.

— Sherwood Boehlert, ehemaliger Abgeordneter des US-Repräsentantenhauses (für den Bundesstaat New York) und damaliger Vorsitzender des Wissenschaftsausschusses

In ihrem Bemühen, eine Politik zu besiegen, die sie als nachteilig für ihre Sache empfinden, haben Interessengruppen oft eine Strategie eingesetzt, die als Ablenkungskampagne bekannt ist. Diese Kampagnen zielen darauf ab, die Aufmerksamkeit von Forderungen nach gesetzlichen Reformen abzulenken und den Zuspruch für Maßnahmen zu dämpfen, die ein schlechtes, Verbraucher und Umwelt bedrohendes Verhalten der Industrie unterbinden würden. Die Verantwortung wird stattdessen auf das persönliche Verhalten und das individuelle Handeln übertragen. Es gibt zahlreiche Beispiele aus der jüngeren US-Geschichte, an denen die Tabakindustrie und die Waffenlobby beteiligt waren. Der Urtyp der Ablenkungskampagne ist jedoch zweifelsohne die Werbekampagne mit einem weinenden Indianer in den frühen 1970er Jahren.

Frühere Ablenkungskampagnen bilden den Ausgangspunkt, um die aktuelle Debatte über die Rolle des individuellen und kollektiven Handlungsspielraums bei der Bewältigung der Klimakrise zu verstehen. Ablenkung stellt eine entscheidende Komponente der mehrgleisigen Strategie dar, mit der die fossile Brennstoffindustrie auch heute gegen Versuche kämpft, ihre Tätigkeiten zu reglementieren. Sie ist eine wichtige Frontlinie im neuen Klimakrieg.

Ablenkungskampagnen

Der von der National Rifle Association (NRA) verwendete Slogan »Guns Don‘t Kill People, People Kill People« (Waffen töten keine Menschen, Menschen töten Menschen) kann als Lehrbuchbeispiel für eine solche Ablenkung angesehen werden. Er verfolgt die Absicht, von dem Problem des leichten Zugangs zu Angriffswaffen abzulenken und auf andere angeblich für Massenerschießungen verantwortliche Faktoren wie psychische Erkrankungen oder Gewaltdarstellungen in den Medien zu verweisen. Die auf diesem Slogan basierende Kampagne hat sich als bemerkenswert wirkungsvoll erwiesen, um eine vernünftige Reform des Waffenrechts zu verhindern. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass 57 Prozent der Öffentlichkeit der Meinung sind, dass Amokläufe »Probleme bei der Identifizierung und Behandlung von Menschen mit psychischen Gesundheitspro­blemen« widerspiegeln, während nur 28 Prozent das Phänomen auf allzu laxe Waffengesetze zurückführen. Satte 77 Prozent glauben, dass die tragische Schießerei an der Parkland High-School 2018 in Florida durch eine effektivere Untersuchung der psychischen Gesundheit hätte verhindert werden können. 1

Wie der Experte für Waffengewalt, Dennis A. Henigan, erklärte, »wird die politische Macht der Waffenlobby niemals überwunden werden, solange diese Mythen nicht zerstört sind. … Die Quelle der unverhältnismäßig großen politischen Macht der NRA ist nicht nur ihr Geld und die Intensität der Überzeugungsarbeit ihrer Anhänger, es ist auch die effektive Vermittlung einiger einfacher Prinzipien, die bei gewöhnlichen US-Amerikanern Anklang finden und sie davon überzeugen, dass Waffenkontrolle wenig mit der Verbesserung ihrer Lebensqualität zu tun hat«. Er merkte an, dass der »Waffen-töten-keine-Menschen«-Slogan »bemerkenswert effizient darin war, die Aufmerksamkeit von der Frage der Waffenregulierung auf die endlose und oft erfolglose Suche nach ›grundlegenderen‹ Ursachen krimineller Gewalt abzulenken.«2 Oder, wie der Journalist Joseph Dolman es ausdrückte, »es geht um die Macht einer Interessengruppe, das zu verhindern, was für die meisten von uns wie ein echter gesellschaftlicher Fortschritt erscheint.« Nicht zuletzt dank der erfolgreichen Ablenkungskampagne der Waffenlobby sterben jedes Jahr etwa vierzigtausend US-Amerikaner durch Waffengewalt.3

Ebenso feige, wenn auch weniger bekannt, ist das Bemühen der Tabakindustrie, von den Gefahren durch Hausbrände abzulenken, die von Zigaretten ausgelöst wurden, indem sie stattdessen mit dem Finger auf brennbare Möbel zeigt. »Zwar behaupteten sie keineswegs, dass Zigaretten keine Brände verursachen würden, sie wiesen jedoch darauf hin, dass flammhemmende Möbel die beste Lösung gegen das Übel darstellen würden«, so Patricia Callahan und Sam Roe, ein Journalistenpaar von der Chicago Tribune. Sie schrieben eine Reihe von Artikeln über diese klassische Ablenkungskampagne der Tabakindustrie, die diese in Abstimmung mit der chemischen Industrie durchgeführt hatte.4

Brandopfer- und Feuerwehrverbände hatten sich für Gesetze eingesetzt, die die Tabakindustrie verpflichten würden, brandsichere Zigaretten zu entwickeln, die nicht weiter abbrennen, sobald sie nicht mehr konsumiert werden. Vertreter der Tabakindustrie betonten jedoch, dass dies eine schwerwiegende Forderung sei, welche die Qualität des Raucherlebnisses und die Attraktivität ihrer Produkte schmälern würde. Stattdessen versuchten sie, die Bemühungen der Feuerwehrorganisationen zu neutralisieren und, was noch kühner war, sie zu vereinnahmen. Charles Powers, ein leitender Angestellter des Tobacco Institute – einer Interessensvertretung der Tabakindustrie – prahlte, dass »viele unserer ehemaligen Gegner in der Feuerwehr uns verteidigen, unterstützen und unsere Bundesgesetzgebung als ihre eigene ausgeben«.5

Wie hat die Tabakindustrie eine solche Herkulesaufgabe bewältigt? Durch das klassische Instrument aller erfolgreichen Ablenkungskampagnen – der Täuschung. So infiltrierten Unterstützer aus der Industrie die Brandschutzorganisationen, um ihre Aussagen zu beeinflussen, und schmierten viele Menschen, die für eine echte Reform arbeiteten. Der Vizepräsident des Tabakinstituts, Peter Sparber, initiierte die Bemühungen Mitte der 1980er Jahre. Zu jener Zeit hatte er das Tobacco Institute verlassen, um seine eigene Lobbyfirma zu leiten, während er weiterhin das Tobacco Institute vertrat, das sich zu einem wichtigen Klienten entwickelte. In dieser Funktion setzte er sich weiterhin für die Interessen des Tobacco Institute ein, während er gleichzeitig plausibel jegliche direkte Verbindung zu Big Tobacco abstreiten konnte.

Sparbers krönender Erfolg war die Transformation (und letztlich die Nutzbarmachung) einer vom Gouverneur ernannten Feuerwehrtruppe zum Nationalen Verband der Feueraufsicht (National Association of State Fire Marshals, NASFM). Er meldete sich freiwillig, um als gesetzgeberischer Berater der Organisation zu dienen und in deren Exekutivrat mitzuwirken. Es ist erwähnenswert, dass eine thematisch ähnlich ausgerichtete Gruppe, Association of State Climatologists (Verband der staatlichen Klimaforscher), später von den Kräften der Verleugnung des Klimawandels als »Waffe« eingesetzt wurde).6 Sparber wurde sogar auf dem offiziellen Briefkopf der NASFM aufgeführt und benutzte deren Büro in Washington.

Zu den ersten Aktionen unter Sparbers Führung gehörte die Billigung eines von der Industrie unterstützten Bundesgesetzes, das weitere Forschung zu feuersicheren Zigaretten forderte – anstelle eines konkurrierenden Gesetzes, der diese tatsächlich gefordert hätte. Sparber versuchte, die Aufmerksamkeit auf den vermeintlichen Bedarf an feuerfesten Möbeln und den Einsatz von Flammenschutzmitteln umzulenken.

Flammschutzmittel sind Chemikalien (genauer: polybromierte Diphenylether (PBDE)), die Produkten wie Fernsehern, Computern, Kinderautositzen, Kinderwagen, Textilien und ja, Möbeln, zugesetzt werden, um die Entstehung von Bränden zu verzögern. Sie sind giftig und reichern sich im Laufe der Zeit im menschlichen Körper an. Studien zeigen, dass PBDE die Hirnentwicklung bei Kindern hemmen und die Spermienbildung wie auch die Schilddrüsenfunktion beeinträchtigen können. Sie sind bereits in mehreren Staaten verboten worden.7 Im besagten Beispiel kam es also zu einer Traumhochzeit (oder vielmehr, einer Hochzeit in der Hölle) zwischen Big Tobacco und der chemischen Industrie, deren gemeinsame Interessen auf einmal übereinstimmen. Die Tabakindustrie brauchte einen Sündenbock – die brennbaren Möbel – und die chemische Industrie stellte eine vermeintliche Lösung zur Verfügung: Flammschutzmittel.

Ein weiteres klassisches Instrument von Ablenkungskampagnen ist der Einsatz von Industrie-Lobbygruppen, die sich als Graswurzelbewegung tarnen. Americans for Prosperity (Amerikaner für Wohlstand) ist zum Beispiel eine solche Organisation der Koch-Brüder, die die Agenda der fossilen Brennstoffindustrie vorantreibt, indem sie die Klimawissenschaft angreift und Klimaschutzaktionen blockiert. Sie setzt sich im Übrigen auch für die Tabakindustrie ein.8 Citizens for Fire Safety (Bürger für den Brandschutz) war eine Lobbygruppe der chemischen Industrie. Sie widersetzte sich aktiv einer Gesetzgebung, die die Verwendung gefährlicher, feuerhemmender Stoffe in Möbeln verbieten wollte. Ihr Geschäftsführer, Grant Gillham, kam aus der Tabakindus­trie. Die Aufgabe der Gruppe besteht laut den Steuerunterlagen darin, »gemeinsame Geschäftsinteressen von Mitgliedern zu fördern, die mit der chemischen Industrie zu tun haben. Das meiste Geld der Citizens for Fire Safety fließt dabei in die Lobbyarbeit in Bezug auf staatliche Gesetzgebungsvorhaben, bei denen Verbote von Flammschutzmitteln erwogen werden.

Ein weiterer Akteur in diesem Bemühen hat den wissenschaftlich klingenden Namen Bromine Science and Environmental Forum (Bromwissenschaft- und Umweltforum) und wurde von Chemikalienherstellern mit dem Ziel finanziert, »Wissenschaft zur Unterstützung bromierter Flammschutzmittel zu generieren«.9 Sie wurde von der Werbe- und PR-Agentur Burson-Marsteller vertreten, wie bereits zuvor auch schon die Lobbygruppe der chemischen Industrie, die sich Alliance for Consumer Fire Safety in Europe (Europäische Allianz für Verbraucher und Brandschutz) nannte. Deren Aufgabe bestand unter anderem darin, instinktive Ängste vor Feuer auszunutzen, indem sie ein »interaktives Werkzeug für Brandtests« propagierte, bei dem sich Websitebesucher mit Entsetzen bildhaft vorstellen konnten, wie ihre Sofas in Brand gerieten. Merken Sie sich den Namen Burson-Marsteller. Er wird noch häufiger vorkommen.

Eine scheinbar überzeugende, aber nicht authentische Berichterstattung ist ein weit verbreitetes Konzept bei Ablenkungskampagnen. Und hier haben wir, wie Callahan und Roe ausführlich dargelegt haben, eines der allerbesten Beispiele: Dr. David Heimbach war ein pensionierter Arzt und Chirurg für Verbrennungskrankheiten aus Seattle sowie ein ehemaliger Präsident der American Burn Association (Amerikanischen Gesellschaft zur Bekämpfung von Verbrennungen). Und auch er nutzte die Angst der Menschen aus. Er berichtete immer wieder über entsetzliche Brandopfer unter Kindern, die Möbeln ohne Flammschutzmittel zum Opfer gefallen wären. Zu diesen Betroffenen gehöre auch, so sagte er, ein neun Wochen altes Kind, das 2009 bei einem Kerzenbrand ums Leben gekommen sei. In Alaska berichtete er den Abgeordneten von einem sechs Wochen alten Baby, das 2010 in seiner Wiege tödlich verbrannt wäre. Außerdem machte er in Kalifornien die Geschichte eines sieben Wochen alten Mädchens öffentlich, das in einem von einer Kerze entzündeten Feuer verbrannte sei, als es auf einem Kissen ohne Flammschutzmittel gelegen habe. Heimbach beschrieb den Vorfall mit den Worten »die Hälfte ihres Körpers war schwer verbrannt« und führte weiter aus, wie »sie schließlich nach etwa drei Wochen Schmerz und Elend im Krankenhaus starb«. »Heimbachs leidenschaftliches Zeugnis über den Tod des Babys ließ die langfristigen gesundheitlichen Bedenken über Flammschutzmittel, die von Ärzten, Umweltschützern und sogar Feuerwehrleuten geäußert wurden, abstrakt und trivial klingen«, wie Callahan und Roe es ausdrückten.10

»Aber mit seiner Zeugenaussage gab es ein Problem«, stellten Callahan und Roe fest. Die Geschichten entsprachen nicht der Wahrheit. Es gab keine Hinweise auf gefährliche Kissen- oder Kerzenbrände wie die von ihm beschriebenen. Keines der Opfer existierte – weder das neunwöchige, noch das sechs- oder siebenwöchige. Das Einzige, was wahr zu sein schien, war, dass Heimbach tatsächlich ein Arzt für Verbrennungsmedizin war. Es stellte sich heraus, dass er als Lockvogel der Industrie dabei half, die zweifelhafte Behauptung zu unterstützen, dass chemische Hemmstoffe Leben retten würden.

Es waren die Citizens for Fire Safety, die Heimbach und seine reißerischen Zeugenaussagen über verbrannte Babys sponserten. Auf ihrer Website war ein Foto von lächelnden Kindern zu sehen, die vor einer Feuerwache aus rotem Backstein standen und ein handgefertigtes Banner mit der Aufschrift »Fire Safety« mit einem Herz auf dem »i« schwangen. Heimbach bezog sich auf das Bild, als er gegenüber dem Gesetzgeber behauptete, dass die Citizens for Fire Safety »aus vielen Menschen wie mir bestehen, die kein besonderes Verhältnis zu Chemiekonzernen pflegen. Es sind vielmehr vor allem Feuerwehreinheiten, Feuerwehrleute und viele, viele Verbrennungsmediziner«.11 Letzten Endes ist der Kunstrasen des einen – im Sinne von Astroturfing, eine hinter den Kulissen von Lobbyinteressen gesteuerte Bürgerbewegung – die Graswurzel des anderen – im Sinne von gesellschaftlicher Basis. Wer weiß das schon?

Als Ergebnis der gemeinsamen Anstrengungen der Tabak- und Chemieindustrie haben sich die Flammschutzmittel in der gesamten Umwelt weit verbreitet – sogar so sehr, dass diese gefährlichen Chemikalien heute schon bei nordamerikanischen Turmfalken und Schleiereulen, in spanischen Vogeleiern, bei Fischen in Kanada und sogar in antarktischen Pinguinen und arktischen Schwertwalen nachgewiesen werden können. Sie wurden in Honig gefunden, in Erdnussbutter – und in menschlicher Muttermilch.12 Und das alles ist das Ergebnis einer von der Industrie geförderten Ablenkungskampagne.

Der weinende Indianer

Meine lebhaftesten Kindheitserinnerungen reichen bis in die frühen 1970er Jahre zurück, als ich fünf oder sechs Jahre alt war. Ich würde Ihnen gerne erzählen, dass es bedeutungsvolle Momente aus meiner Jugend sind: ein Sommerurlaub mit der Familie an der Meeresküste von Maine, ein Urlaubstreffen mit meinen Großeltern und Cousins oder auch mein erstes Ferienlager. Aber meine klarsten Erinnerungen an frühe Kindertage betreffen das Fernsehen und um genau zu sein, die Werbespots, die dort zu sehen waren.

»Ich würde der Welt gerne eine Cola kaufen.« Ich höre immer noch den Jingle, die einprägsame Melodie, die verspricht, der Weltfrieden könnte erreicht werden, wenn sich nur alle dafür entscheiden würden, Coca-Cola zu trinken. Es ist, als ob es erst heute Morgen im Radio lief. Eingeprägt in mein Gedächtnis ist auch die strenge Mahnung des Werbemaskottchens Smokey Bear: »Nur Sie können Waldbrände verhindern.« Diese Werbekampagne trug dazu bei, dass ich schon früh die Natur und die Bedeutung ihrer Erhaltung zu schätzen wusste.

Aber eine dieser äußerst hartnäckigen Werbebotschaften hat sich besonders in meiner Seele eingegraben. Wenn Sie in einem ähnlichen Alter sind wie ich und in den Vereinigten Staaten aufwuchsen, kennen Sie den Werbespot. Sie haben es vielleicht noch bildlich vor Augen: Ein nordamerikanischer Ureinwohner, mit kantigen Gesichtszügen und traditionell gekleidet, paddelt mit seinem Kanu einen Fluss hin­unter. Im Hintergrund spielt leicht unheilvolle Musik, begleitet von einem gleichmäßigen Trommelschlag. Während er den Fluss hinuntergleitet, stößt er auf eine zunehmende Menge an Treibgut und Strandgut, hinter ihm verschmutzen Fabriken durch Emissionen die Luft. Die Musik wird lauter und bedrohlicher. Schließlich landet er mit seinem Kanu am Ufer des Flusses, das mit Abfall nur so übersät ist.

Der Mann mit dem Namen Iron Eyes Cody bahnt sich seinen Weg an Land, trampelt durch noch mehr weggeworfenen Müll und nähert sich dem Rand einer Autobahn. Ein Insasse eines vorbeifahrenden Autos wirft einen Müllsack aus dem Fenster, dessen Inhalt vor Codys Füße und auf seine Kleidung gelangt. Er blickt auf das Chaos hinunter, während man eine autoritäre Stimme aus dem Off hört. Sie erinnert an Rod Serling aus Twilight Zone: »Einige Leute haben einen tiefen, beständigen Respekt vor der natürlichen Schönheit, die dieses Land einst besaß.« Und in einem beinahe tadelnden Ton heißt es: »Manche Leute haben ihn nicht.« Es geht weiter mit: »Menschen verursachen Umweltverschmutzung. Menschen können sie beenden.« Als die Kamera auf das mürrische Gesicht des Mannes zufährt, fließt eine Träne aus den Augenwinkeln und über seine Wange. Er blickt traurig in die Kamera, im Hintergrund sieht man eine verschmutzte US-amerikanische Landschaft.

Seine Tränen waren die unsrigen. Sein Schmerz war unser Schmerz. Unser großes Land – und das Vermächtnis der indigenen Völker – war durch unser eigenes verschwenderisches Verhalten gefährdet. Könnten wir unsere Flüsse, Felder und Wälder retten, bevor es zu spät wäre? Waren wir bereit, uns zu ändern?

Und ob wir das waren. Als die zuständigen Umweltbeauftragten, die wir nun waren, kannten wir unsere Mission. Kein Stück Abfall würde unserer Konfiszierung entgehen, eine neue Generation von Müllschluckern war geboren. Bis zum heutigen Tag habe ich Schwierigkeiten, ein Stück Abfall am Straßenrand liegen zu lassen. Instinktiv suche ich nach einem Behälter in der Nähe, wo ich ihn entsorgen kann. Dieser Werbespot hat mich – und so viele Menschen meiner Generation – zum Besseren verändert, so könnte man meinen.

Der Werbespot machte sich die Kraft einer beginnenden Umweltbewegung zunutze. Als Teil der größeren Kampagne mit dem Spruch »Keep America Beautiful« (Haltet Amerika schön).13 Das große Feuer am Fluss Cuyahoga in Ohio ist eine weitere Erinnerung, die tief im amerikanischen Kollektivbewusstsein verwurzelt ist. Dieses Ereignis bedeutete wohl einen Wendepunkt im öffentlichen Bewusstsein. Es löste eine neue Ära des Umweltbewusstseins und eine Flut neuer umweltpolitischer Maßnahmen aus, wie etwa die Schaffung der Umweltschutzbehörde (EPA) und von Bundesgesetzen zum Gewässerschutz (Clean Water Act) und zur Luftreinhaltung (Clean Air Act). Dies war der »Anbruch des Zeitalters des Wassermanns« (siehe »the dawning of the Age of Aquarius« aus dem Musical Hair), – eines neuen Zeitalters des Umweltbewusstseins.

Der »weinende Indianer« war die richtige Botschaft zur richtigen Zeit, einfach und kraftvoll: Sie und ich können dieses Problem lösen. Wir müssen nur nachdenken, gemeinsam handeln und die Ärmel hochkrempeln. Sie gilt als eine der effektivsten Werbeanzeigen in der Geschichte. Naturschutzorganisationen wie Sierra Club und Audubon Society haben die Anzeige begrüßt und gehörten sogar dem Beirat für die Kampagne an. Cody fand schnell seinen Weg auf Autobahn-Reklametafeln. Er wurde zu einer Ikone der modernen Umweltbewegung.

Aber wenn Sie hier Ausschau nach einer Gute-Laune-Geschichte halten, sollten Sie sich lieber auf eine Enttäuschung gefasst machen. Manche Dinge sind nicht ganz so, wie sie scheinen. Denn sollten sie, wie es der Historiker Finis Dunaway in einem 2017 erschienenen Kommentar in der Chicago Tribune tat, an der Oberfläche des weinenden Indianers kratzen, beginnt sich ein anderes Bild abzuzeichnen – ein drastisch anderes Bild.14

Falsus in Uno, Falsus in Omnibus: In einer Sache falsch, in allen falsch

Dunaway unterstrich dabei die Rolle, die die Ureinwohner Amerikas in der Gegenkultur der frühen 1970er Jahre spielten. Der weinende Indianer griff dieses Ethos auf, indem er sich an der Friedensbewegung orientierte, ähnlich wie der Jingle »Buy the World a Coke« (Kaufen Sie der Welt eine Cola), der etwa zur gleichen Zeit ausgestrahlt wurde. Wir werden später sehen, dass die Verbindung mit Coca-Cola nicht nur zufällig ist. Zwei der denkwürdigsten Filme aus meiner Kindheit, die beide 1971 erschienen, bezogen sich auf dieselben Themen. Billy Jack erzählt die Geschichte eines Mannes, der ein halber amerikanischer Navajo war. Seine pazifistischen Bestrebungen stehen dabei im Widerspruch zu seinem Temperament und seinem Hang zur Selbstjustiz. In dem Film verteidigt er eine Gruppe von Friedensaktivisten und Hippies, von denen viele aus indigenen Stämmen stammen, gegen feindselige, heuchlerische Stadtbewohner. Der andere, Bless the Beasts and Children (Denkt bloß nicht, dass wir heulen), erzählt die Geschichte einer Gruppe jugendlicher Außenseiter, die Sinn, Bestätigung und Macht erlangen, indem sie eine Büffelherde befreien, die von skrupellosen Männern zum Sport gejagt wird. Es sind nicht nur die Büffel, die vernichtet werden; es ist der Geist der US-amerikanischen Ureinwohner, für die der Büffel ein dauerhaftes Symbol ist. Die zugrundeliegenden Themen in beiden Filmen waren unverkennbar: der Kampf zwischen Frieden und Befreiung, und die zentrale symbolische Rolle, die in diesem Kampf indigene Völker und ihre Notlage spielten. Indem er mit genau derselben Symbolik spielte, hat der weinende nordamerikanische Ureinwohner den Zeitgeist der frühen 1970er Jahre eingefangen. Er hat sich all diese Kraft zu eigen gemacht.

Und es ist die indianische Symbolik der Werbekampagne mit dem weinenden nordamerikanischen Ureinwohner, in der wir unserem ersten Betrug begegnen, wenn auch einem scheinbar geringfügigen und oberflächlichen. Denn, wie sich herausstellte, gehörte Iron Eyes Cody keinem Indianerstamm an. Er war nicht einmal amerikanischer Ureinwohner. Er wurde als Espera Oscar de Corti geboren und war ein italienisch-stämmiger US-Amerikaner, der oft nordamerikanische Ureinwohner in Hollywood-Filmen porträtierte, darunter der »Häuptling mit eisernen Augen« im Film Das Bleichgesicht (The Palface) mit Bob Hope. Dies war nicht der bedeutendste, aber auch nicht der einzige Trick in der Werbekampagne mit dem »weinenden Indianer«.

Diese Werbeanzeige muss auch vor dem Hintergrund des wachsenden Problems des Abfalls entlang von Autobahnen betrachtet werden, insbesondere in Form von Flaschen und Dosen, das nach dem Bau des Fernstraßennetzes in den USA in den 1950er Jahren aufkam. Ende der 1960er Jahre hatte das Problem krisenhafte Ausmaße angenommen. Es war auffällig und beunruhigend geworden. Wer würde schließlich nicht »Haltet Amerika schön« befürworten? Es war somit klar, dass wir ein Problem hatten. Doch wie ist es am besten zu beheben? Und wer zahlt die Kosten?

Der Verbraucherschützer Ralph Nader gründete in den Vereinigten Staaten das Netzwerk Public Interest Research Groups (PIRGs), das sich Verbraucher- und Umweltfragen widmete. Das war 1971, im selben Jahr, in dem der weinende nordamerikanische Ureinwohner zum ersten Mal auftauchte, Die PIRGs würden eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum ginge, eine bestimmte Idee voranzubringen, die zeigen würde, wie das Problem gelöst werden kann und wer dafür zahlen sollte. Mit der Flaschenverordnung wurde ein Gesetzesentwurf vorgestellt, der ein Pfand auf Flaschen und Dosen von fünf oder zehn Cent vorsah, das den Verbrauchern bei der Rückgabe erstattet werden sollte. Dadurch sollten Mehrwegflaschen und nachfüllbare Flaschen gefördert und die Verbraucher dazu ermutigt werden, diese zu recyceln, anstatt sie wegzuwerfen. Diese Gesetzgebung stellte eine zusätzliche Belastung für Supermärkte, Lebensmittelgeschäfte und Paketshops dar. Aber die Getränkeindustrie, also Coca-Cola, Anheuser-Busch, PepsiCo und so weiter, sollten die Hauptlast der Verantwortung und der Kosten tragen, da sie die zurückgegebenen Flaschen und Dosen hätten verarbeiten müssen. Das hätte ihre Ausgaben erhöht und ihre Gewinne geschmälert.

Springen wir nun nach vorne in den Sommer 1984, dreizehn Jahre nach der Gründung von PIRG und der erstmaligen Ausstrahlung des weinenden Indianers. Ich hatte gerade die Highschool abgeschlossen und brauchte einen Sommerjob. Da schien MassPIRG – die PIRG-Mitgliedsorganisation in Massachusetts – mit einem Stützpunkt in meiner Heimatstadt Amherst, eine perfekte Gelegenheit zu sein, etwas Geld zu verdienen. Ich könnte etwas über die moderne Umwelt- und Konsumgeschichte lernen und gleichzeitig der Umwelt helfen.

MassPIRG war für seine Bemühungen bekannt, die Verabschiedung einer Flaschenverordnung im Bundesstaat Massachusetts zu unterstützen. Während meiner Ausbildung begleitete mich ein altgedienter Werber, als ich von Tür zu Tür ging, um die Bewohner einer kleinen Stadt im Westen von Massachusetts um Beiträge zu bitten. Unter anderem arbeitete mein Ausbilder mit mir zusammen, während ich meinen »Rap« verfeinerte – die kurze Erklärung, die ein Werber in diesem unangenehmen, aber entscheidenden Moment schnell rezitiert, zwischen dem Augenblick, in dem jemand die Tür geöffnet hat, und dem Moment, in dem er die Chance hatte, etwas anderes als »Hallo« zu sagen. Mein Ausbilder riet mir ausdrücklich davon ab, in meinem Rap die Flaschenverordnung zu erwähnen – MassPIRGs großartige Leistung. Zumindest nicht bei der Befragung von Arbeitern oder in konservativen Gegenden. Stattdessen wurde ich dazu ermutigt, über das Lemon Law (Zitronengesetz) genannte Verbraucherschutzgesetz zu sprechen: ein weniger bekanntes Gesetz, das MassPIRG unterstützt hatte. Es sollte Autokäufer vor dem Kauf eines defekten Autos schützen, eines sogenannten Montagsautos oder auf Englisch Lemon. Wie seltsam, dachte ich damals, dass MassPIRG nicht jede Gelegenheit nutzte, seine krönende Leistung herauszustellen.

Die Geschichte der Flaschenverordnung in Massachusetts geht auf das Jahr 1973 zurück, als ich acht Jahre alt war. Zusammen mit der Massachusetts Audubon Society und anderen Umweltorganisationen half MassPIRG bei der Lobbyarbeit für das Gesetzesvorhaben des Bundesstaates, ein Fünf-Cent-Pfand auf Flaschen und Dosen zu erheben. Nach mehreren gescheiterten Versuchen, den Gesetzentwurf zu verabschieden, gelang es ihnen aber schließlich, ihn zur Abstimmung auf den Stimmzettel zu bringen. Ihnen stand jedoch eine zwei Millionen Dollar schwere, von der Getränkeindustrie finanzierte Werbekampagne entgegen, die von zwei Lobbygruppen betrieben wurde: Committee to Protect Jobs (Ausschuss für den Schutz von Arbeitsplätzen) und Use of Convenient Containers (Verwendung handlicher Behälter). Der Getränkeindustrie gelang es, das Gesetz zu verhindern, wenn auch nur mit einem Vorsprung von weniger als einem Prozent. 1977 fand die Flaschenverordnung im Repräsentantenhaus eine Mehrheit, scheiterte aber im Senat. Im Jahr 1979 meisterte das Gesetz sowohl die Hürde des Repräsentantenhauses als auch den Senat, jedoch legte der Gouverneur des Bundesstaates Massachusetts, Edward King sofort sein Veto ein (King war damals Demokrat und wurde später Republikaner).

Vielleicht spürte King die wachsende Unterstützung für die Flaschenverordnung, als er dabei half, eine von der Getränkeindustrie geförderte Alternative zu dem Gesetz mit Hilfe einer Lobbygruppe durchzusetzen, die sich selbst »Corporation for a Cleaner Commonwealth« (Körperschaft für ein sauberes Gemeinwesen«) nannte. Dazu gehörte das Anwerben von Kindern zum Aufsammeln von Flaschen- und Dosenabfällen. Wie Sie sehen, sieht diese Lösung keine Reglementierung der Industrie vor, sondern konzentriert sich auf individuelles Handeln. Diese Art von Ablenkungskampagnen werde ich später noch deutlicher beschreiben.

Die Flaschenverordnung wurde 1981 erneut sowohl vom Repräsentantenhaus als auch vom Senat verabschiedet, woraufhin King sein Veto ein zweites Mal ausübte und den Gesetzentwurf als Verkörperung »all dessen, was an einer mächtigen Regierungspolitik falsch ist« bezeichnete. Er behauptete, dass er eine unangemessene finanzielle Belastung für den Einzelnen darstelle und negative Auswirkungen auf die Wirtschaft des Staates haben würde. Diese Art von Argumenten – dass ordnungspolitische Lösungen für Umweltprobleme angeblich schlecht für die Wirtschaft sind – wird Ihnen allzu vertraut sein, wenn unsere Geschichte zu Ende erzählt ist.

Unter dem Einfluss einer intensiven Lobbykampagne von Mass­PIRG und anderen stimmte die staatliche Legislative – sowohl das Repräsentantenhaus als auch der Senat – dafür, Kings Veto aufzuheben. Das Gesetz trat am 16. November 1981 offiziell in Kraft. Aber die Getränkeindustrie wollte nicht einfach aufgeben. Sie finanzierte eine Kampagne zur Aufhebung der Flaschenverordnung, um eine Abstimmung zu erreichen. Das Referendum scheiterte, aber 40 Prozent der Wähler sprachen sich für die Aufhebung aus. Die Flaschenverordnung wurde am 17. Januar 1983 mit geteilter öffentlicher Zustimmung umgesetzt, nach einem zermürbenden Kampf mit Millionen Dollar für negativ konnotierte Werbung. Etwas mehr als ein Jahr später, im Sommer 1984, als ich für MassPIRG Klinken putzte, wurde mir davon abgeraten über die Flaschenverordnung zu sprechen, außer in den fortschrittlicheren Vierteln.

Ähnliche Dramen spielten sich auch in anderen Staaten ab. Oregon war der erste US-Bundesstaat, der eine Flaschenverordnung verabschiedete. Das war 1971. Als nächstes kam 1973 der sehr grüne Staat Vermont hinzu. Die relativ fortschrittlichen Bundesstaaten Connecticut, Delaware, Iowa, Massachusetts, Maine, Michigan und New York folgten dem Beispiel Anfang der 1980er Jahre. In zahlreichen anderen Staaten scheiterten Flaschenverordnungen jedoch erneut an der intensiven Lobby- und Kampagnenarbeit der Getränkeindustrie. Eine Werbung zeigte gar eine Gruppe trauriger Kinder in Pfadfinderuniformen, die vergeblich nach Flaschen und Dosen suchten. Die zwei Organisationen, die Boy Scouts und die Campfire Girls of America, beschwerten sich anschließend darüber, dass sie aus zweifelhaften politischen Motiven ohne ihre Zustimmung für eine solche Kampagne vereinnahmt wurden. Die Flaschenverordnung würde ihren gewinnbringenden Recycling-Anstrengungen einen Dämpfer versetzen. Auch hier sehen wir wieder die übliche Methode der Ablenkung.

Mit anderen Worten, die Getränkeindustrie wandte sich mit einer gewieften, mehrgleisigen Strategie gegen die Verabschiedung von Flaschenverordnungen. Sie bekämpfte sie durch Lobbyarbeit bei der Gesetzgebung und durch Werbekampagnen, die sich an die Wähler richteten und solche Gesetze als kostspielig für die Verbraucher und schlecht für die Geschäftswelt darstellten.

Durch die Werbekampagnen tat die Industrie ihr Bestes, um sicherzustellen, dass die Flaschenverordnungen in den Bundesstaaten, in denen sie durchgesetzt wurden, zerschlagen wurden oder auf marginale Beliebtheit, wenn nicht gar Ablehnung, stießen. Das alles genügte, um jeden Versuch einer nationalen Flaschenverordnung im Sande verlaufen zu lassen, wie sie der Politiker der Demokratischen Partei, Edward Markey aus Massachusetts, 2007 und 2009 im US-Repräsentantenhaus) vorgeschlagen hatte. Aber es gab noch eine weitere kritische Aufgabe – die Industrie musste den Enthusiasmus der »Basis« dämpfen, d.h. der Umweltschützer, die handeln wollten. In der Woche des allerersten internationalen Tags der Erde, im April 1970, kippten Umweltaktivisten einen riesigen Haufen Einwegflaschen vor den Coca-Cola-Hauptsitz in Atlanta, Georgia, um das Unternehmen unter Druck zu setzen, eine Flaschenverordnung zu unterstützen.15 Die Getränkeindustrie wusste, dass es schwierig sein würde, diese Leute und ihre wachsende Zahl von Anhängern davon zu überzeugen, dass eine Flaschenverordnung keine gute Sache für die Umwelt wäre. Aber sie wollten sie davon überzeugen, dass ein Gesetz nicht notwendig oder nicht wirksam wäre. Da kam auch wieder der weinende Indianer ins Spiel.

Lassen wir die Bilder der US-amerikanischen Ureinwohner vorerst beiseite und betrachten wir die grundlegendere Botschaft der Kampagne mit dem weinenden Indianer: Diese Flaschen und Dosen, die unsere Landschaft verunreinigt haben – sie waren das Ergebnis unseres schlechten persönlichen Verhaltens. Das ist eine bequeme Botschaft, wenn sie eine Branche sind, deren Praktiken massive Metall- und Plastikverschmutzung verursachen, und die versucht, gegen Vorschriften anzukämpfen, die darauf abzielen, dass Sie diesen Abfall verpacken und verarbeiten müssen.

Geben Sie mal in eine Suchmaschine »Coke« und »Madison Avenue« ein. Dann werden Sie sehen, dass zu dem Konsortium US-amerikanischer Unternehmen hinter der Kampagne »Haltet Amerika schön« die Unternehmen Coca-Cola, Pepsi, Anheuser-Busch und der Tabakgigant Philip Morris gehören. Diese Kampagne arbeitete mit dem Ad Council zusammen, einer gemeinnützigen Organisation, die im Auftrag verschiedener Sponsoren, darunter auch Umweltgruppen, public service announcements (Werbespots zur Information der Öffentlichkeit) produziert und fördert. 1971 engagierten sie den New Yorker Werberiesen Marsteller, um die »Weinender-Indianer«-Werbekampagne zu erschaffen. Ihre PR-Abteilung ist Burson-Marsteller, an die Sie sich aufgrund meiner Ausführungen über Flammschutzmittel bei Tabakprodukten erinnern werden.

Umweltgruppen wie der Sierra Club und die Audubon Society waren anfangs Partner der Kampagne, da sie glaubten, dass sie ein wirksames Mittel zur Sensibilisierung für das Abfallthema sei. Aber schließlich distanzierten sie sich davon, als ihnen bewusst wurde, dass sie hereingelegt worden waren. Das wurde ihnen klar, nachdem sie durchschaut hatten, dass der »weinende Indianer« in Wirklichkeit ein PR-Täuschungsmanöver war, das von den Lobbygruppen der Getränkeindustrie ausgeheckt worden war.

Diese Kampagne – Teil mehrgleisiger Bemühungen, die Flaschenverordnung zu stoppen – hatte ihr Hauptziel erreicht. Wie wir wissen, hat nur eine begrenzte Anzahl von Staaten, in denen die Demokraten regieren, solche Verordnungen verabschiedet. Eine bundesweite Flaschenverordnung ist auch Jahrzehnte später nicht in Sicht. In der Zwischenzeit hat die wachsende Menge an weggeworfenen Plastikflaschen zu einer weiteren großen Umweltkrise unserer Zeit geführt – der globalen Plastikverschmutzung. Es geht nicht mehr alleine um die Vermüllung der Landschaft: Heute ist die Plastikverschmutzung so massiv, dass sie im Marianengraben, einem Tiefseegraben im Pazifischen Ozean, in einer Tiefe von elftausend Metern unter Wasser festgestellt wurde. Und es findet sich auch schon etwas in der Luft: Die Computerzeitschrift Wired veröffentlichte im Juni 2020 einen Artikel, in dem verkündet wurde: »Plastic Rain Is the New Acid Rain.« (Plastikregen ist der neue saure Regen) Wired zitierte Forschungsergebnisse, wonach jedes Jahr viele Tonnen Mikroplastik in Wildnisgebiete fallen.16

Ironischerweise sollte der Ad Council im Jahr 2006 eine weitere Werbekampagne durchführen, über die Verschmutzung der Ozeane mit Plastik. Mit der Titelfigur aus Disney‘s Die kleine Meerjungfrau wurde die Botschaft vermittelt, wie der Einzelne handeln kann, indem er den Müll richtig entsorgt. Die Rolle der Getränkeindustrie bei der Umweltverschmutzung durch Kunststoffe wurde nicht erwähnt. Umweltorganisationen – wie der Environmental Defense Fund – waren Co-Sponsoren und ließen sich erneut täuschen.

Wenn ich über die wahre Geschichte hinter dem weinenden Indianer nachdenke, fällt es mir schwer, mich nicht persönlich verraten zu fühlen, als ob die Unschuld unserer Jugend eine Illusion war, als ob ich – und jeder andere meiner Generation – von einem falschen Propheten in die Irre geführt wurde, aus dem Motiv des Unternehmensgewinns.

Was das weitere Vermächtnis des weinenden Indianers anbelangt, so bot Finis Dunaway diese Einschätzung an:

»Die Antwort auf die Umweltverschmutzung, wie Keep America Beautiful sie formulieren würde, hatte nichts mit Macht, Politik oder Produktionsentscheidungen zu tun. Es ging einfach darum, wie der Einzelne in seinem täglichen Leben handelte. Seit dem ersten Earth Day haben die Mainstreammedien große systemische Probleme immer wieder zu Fragen der individuellen Verantwortung degradiert. Allzu oft haben einzelne Aktionen wie Recycling und grüner Konsum den Amerikanern eine therapeutische Dosis ökologischer Hoffnung gegeben, die unsere zugrundeliegenden Probleme nicht lösen.«17

Damit sind wir wieder beim Thema Klimawandel angelangt.

Was ist zu tun?

Die zwei Zitate, die dieses Kapitel einleiten, beschreiben die Dualität der Hebelarme des Handelns in einer funktionierenden Demokratie. Fortschritt erfordert individuelles Handeln, denn was ist schließlich ein Kollektiv, wenn nicht eine Gruppe von Individuen? Das Richtige zu tun, setzt ein Beispiel, dem andere folgen können, es schafft ein günstigeres Umfeld für Veränderungen. Aber wir brauchen auch einen Systemwandel, der kollektives Handeln erfordert, das darauf abzielt, Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben, die in der Lage sind, Entscheidungen über gesellschaftliche Prioritäten und staatliche Investitionen zu treffen.

Es gibt viele Veränderungen unseres Lebensstils, die gefördert werden sollten. Viele davon machen uns glücklicher und gesünder, sparen uns Geld und verringern unseren ökologischen Fußabdruck. Der Druck der Verbraucher auf der Nachfrageseite kann den Markt sicherlich beeinflussen. Deshalb werden Millennials, also die Generation der zwischen den frühen 1980er und den späten 1990er Jahren Geborenen, auch beschuldigt, mit ihren Kaufentscheidungen traditionelle Produkte und Dienstleistungen wie Festnetztelefone, Herrenanzüge und Fast-Food-Ketten zerstört zu haben.18 Aber die Wahlfreiheit der Verbraucher führt nicht zum Bau von Hochgeschwindigkeitszügen, zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung im Bereich Erneuerbarer Energien oder zur Festsetzung einer CO2-Steuer. Jede echte Lösung muss sowohl individuelles Handeln als auch systemische Veränderungen beinhalten.

Wir müssen uns vor Bestrebungen hüten, es so aussehen zu lassen, als ob Ersteres eine gangbare Alternative zu Letzterem wäre. Studien deuten darauf hin, dass eine alleinige Konzentration auf freiwillige Maßnahmen die Unterstützung der Regierungspolitik, die darauf abzielt, die Treibhausgasemittenten zur Rechenschaft zu ziehen, untergraben könnte.19 Dafür gibt es einen filigranen Mittelweg, den wir ausfindig machen müssen. Ein Weg, der zu persönlicher Verantwortung und individuellem Handeln ermutigt und gleichzeitig weiterhin alle Hebel der Demokratie einsetzt, einschließlich des Wahlsystems, um Druck auf die Politiker auszuüben, damit sie eine klimafreundliche Regierungspolitik unterstützen.

Diejenigen, die Ablenkungskampagnen fahren, sind nicht wirklich an der Lösung von Problemen interessiert, denn wenn sie es wären, würden sie sich für mehrgleisige Ansätze einsetzen, die der Gesellschaft als Ganzes zugutekommen. Stattdessen ist es ihre Absicht, durch Täuschung und Irreführung systemische Lösungen zu sabotieren, die für die Großfinanz nachteilig sein könnten. Wir können dies an den Versuchen der Waffenlobby erkennen, den Fokus von der Waffenkontrollreform abzulenken, indem sie die Aufmerksamkeit von der großen Zahl schlecht regulierter Waffen im Land auf die psychische Gesundheit einzelner bewaffneter Gewalttäter lenkt. »Big Tobacco« verweigerte uns mit Hilfe der chemischen Industrie sicher brennende Zigaretten, gab uns aber giftige Erdnussbutter und toxische Muttermilch. Die Getränkeindustrie hat die Bemühungen um die Verabschiedung von Flaschenverordnungen weitgehend zunichtegemacht und uns das Problem der globalen Kunststoffverschmutzung beschert.

Heute versuchen die Lobby der fossilen Brennstoffe und diejenigen Klimainaktivisten, die in ihrem Namen arbeiten, den politischen Weg der Regulierung von CO2-Emissionen zu blockieren, indem sie eine Ablenkungskampagne im Stil des weinenden Indianers einsetzen. Es ist aufschlussreich, einige der auffallenden Parallelen zwischen der aktuellen Kampagne und früheren Ablenkungskampagnen zu betrachten. Die alberne Behauptung rechter Gestalten, dass ihnen Klimabefürworter »ihre Burger wegnehmen wollen«, klingt etwa wie die Ermahnung der NRA, dass Befürworter einer Schusswaffengesetzesreform den Menschen »ihre Gewehre wegnehmen wollen«. Beides spiegelt den Versuch wider, die unter Konservativen vorherrschenden Ängste vor einer mächtigen Regierung und Einschränkungen der Freiheit auszunutzen.

Darüber hinaus versuchen die Verharmloser des Klimawandels, wie wir sehen werden, einen Keil in bereits bestehende Gräben innerhalb der Gemeinschaft der Klimaaktivisten zu treiben. Dazu gehören Gräben, die sich aus der anhaltenden Debatte über die Rolle des persönlichen Verhaltens gegenüber systemischen Veränderungen ergeben. Dazu gehören auch Gräben in der Identitätspolitik sowie Fragen des Geschlechts, des Alters und der ethnischen Herkunft. Wenn sich der Klimadiskurs in ein Gezeter über Ernährungs- und Reiseentscheidungen verwandelt und sich um persönliche Reinheit, Bloßstellen von Menschen aufgrund ihres Verhaltens und um Tugendhaftigkeit dreht, werden wir nicht in der Lage sein, mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen. Dann werden wir verlieren und es werden sich die Interessen der fossilen Brennstoffwirtschaft durchsetzen.

Im Juni 2019 habe ich dieses Thema in einem Gastbeitrag bei USA Today dargelegt, den ich zusammen mit meinem Kollegen Jonathan Brockopp von der Penn State University verfasst habe.20 Darin stellten wir die Ähnlichkeit zwischen der »Weinender-Indianer«-Ablenkungskampagne der 1970er Jahre und den aktuellen Bemühungen dar, den Klimaschutz fast ausschließlich mit persönlicher Verantwortung gleichzusetzen. Ein prominenter Politiker aus Vermont, der gegen den Flugverkehr kämpft, reagierte verärgert auf den Vergleich. »Ist Ihnen klar, dass zehn Staaten Flaschenverordnungen haben?«, fragte er in der Hoffnung, damit meinen Standpunkt zu widerlegen. In der Debatte wird so etwas manchmal auch als »Eigentor« bezeichnet. Die Tatsache, dass weniger als ein Dutzend dunkelblauer Staaten, in denen traditionell die Demokratische Partei die Mehrheit hat, eine Flaschenverordnung haben – und die Tatsache, dass eine landesweite Flaschenverordnung nirgendwo am Horizont zu sehen ist – spricht für den Erfolg dieser vergangenen Ablenkungskampagne. Es dient als Warnhinweis, wenn es um die aktuelle Ablenkungskampagne zum Thema Klima geht, die im Mittelpunkt des nächsten Kapitels steht.

Propagandaschlacht ums Klima (Telepolis)

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