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Kapitel 1Der Auserwählte
Оглавление„Sie sagen, ich sei nutzlos.“
„Kein Leben eines Raan ist nutzlos.“ Die Große Mutter sah Olud ernst an und die Nickhaut über ihren senkrecht stehenden Schlitzpupillen zog sich zusammen, um ihre Augen gegen das grelle Sonnenlicht zu schützen. „So steht es im Buch der Bücher. Du weißt es, Olud, denn du hast es studiert, wie ich es dir befohlen habe.“
„Ja, Große Mutter, ich habe es studiert.“ Olud legte für einen Moment seinen Kopf in den Nacken und entblößte im Zeichen der Ehrerbietung seine Kehle. Der sonst leuchtend rote Kehlsack des Männchens war Blass und verriet seine Unsicherheit.
„Aber du zweifelst.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, und in der Stimme der Großen Mutter schwang Verständnis mit. „Du musst dich auf deinen Ursprung entsinnen, Olud aus dem ruhmreichen Gelege der Sha. Denke an das große Ei, aus dem du geschlüpft bist. Nur besondere Raan werden aus großen Eiern geboren.“
Olud-Sha schnaubte leise. „An mir ist nichts Besonderes, Große Mutter.“
Wenn man Olud betrachtete, so schien er tatsächlich nicht von Bedeutung zu sein. Dabei hatte sein Leben für das Gelege der Sha so Hoffnungsvoll begonnen.
Es war ein großes Ei gewesen, aus dem Olud schlüpfte.
Ein sehr großes Ei, in prachtvollem Rot und Grün und Braun gesprenkelt. Das ganze Gelege hatte sich damals um das Ei versammelt, als sich die Geburt Oluds ankündigte. Zwei Tage vor seinem Schlupf öffneten sich die äußeren Lider Oluds. Er schwamm noch in der klaren Flüssigkeit der Nährstofflösung und sah, durch die schützende Schale des Eis, nur undeutliche Schemen. Schatten, die sich bewegten, und von denen rhythmische Laute ausgingen, die eher unbewusst zu ihm drangen. Alle Männchen und Weibchen des Geleges warteten auf Oluds Geburt, und die Große Mutter wachte persönlich darüber, dass die rituellen Gesänge den Geburtsvorgang begleiteten.
Dann war es so weit.
Der erste Eindruck, den Olud bewusst in sich aufgenommen hatte, war das Gefühl grenzenloser Enttäuschung, das ihn umgab.
Es war selten im Volk der Raan, dass ein großes Ei gelegt wurde, und wenn dies geschah, so schlüpfte immer ein Wesen von besonderer Bedeutung für das Volk. Normalerweise war dies ein außergewöhnlich starkes Weibchen, dazu bestimmt, eine Führungsrolle im Gelege zu übernehmen. Sehr viel seltener entschlüpfte ein Männchen der zerbrechenden Eierschale. Doch selbst diese waren dann ungewöhnlich stark und dazu bestimmt, viele Weibchen zu befruchten. Olud jedoch war, selbst für ein Männchen, ein ausgesprochen bescheidenes Exemplar.
Die Raan konnten ihre Herkunft von Reptilien nicht leugnen. Ihre Rot, Grün und Braun gesprenkelten Leiber waren schlank und dabei muskulös. Die beiden Hinterläufe, auf denen sie aufrecht gingen, hatten drei lange und tödliche Sichelkrallen, die beiden Vorderläufe waren hingegen feingliedrig. Drei Finger und ein Daumen verliehen den Raan die Fähigkeit, sich Werkzeuge zu erschaffen. Der einst lange Schwanz, der ursprünglich der Stabilisation des vorgeneigten Körpers diente, war im Laufe der Jahre kürzer geworden, hatte durch die enormen Muskeln jedoch seine ursprüngliche Masse beibehalten. Die Hälse der Raan waren lang und gaben dem Kopf große Beweglichkeit. Der Schädel war flach und lang gestreckt, ideal, um damit tief in die Eingeweide einer Beute einzudringen. Die weit auseinanderstehenden Augen, geschützt durch eine milchige Nickhaut und das lichtundurchlässige Oberlid, gaben den Raan perfekte Jagdfähigkeit und das kräftige Gebiss, mit den scharfen Reißzähnen, die dazu passende, tödliche Waffe. Es gab sehr viel mehr Weibchen, als Männchen, und die stärkeren und größeren Weibchen dominierten das Volk. Die Männchen wurden allenfalls als Träger ihrer Fruchtbarkeit geschätzt.
Als Olud aus dem großen Ei schlüpfte, wurde an ihm nichts geschätzt.
Er war lediglich ein Männchen und noch dazu ein eher kleines Exemplar. Enttäuschung, ja sogar Unmut machte sich im Gelege breit, bis Shanaii-Doras-Sha, die Große Mutter, die Männchen und Weibchen zur Ordnung rief, und ihre Untertanen daran erinnerte, dass aus einem großen Ei stets ein Raan von großer Bedeutung geschlüpft sei. Die anderen Raan mochten das nicht so recht glauben, aber Olud stand, vom Augenblick seines Schlupfes, unter dem Schutz der Großen Mutter.
Er wuchs, wie alle Raan, schnell heran und seine Jugend war von dem Empfinden begleitet, unerwünscht zu sein und mit Skepsis betrachtet zu werden. Obwohl er nun das zeugungsfähige Alter erreicht hatte, und Olud sich redlich mühte, seinen roten Kehlsack zur Schau zu stellen, gab selbst das niedrigste Weibchen keine Anzeichen von sich, Oluds Fähigkeiten als Erzeuger in Anspruch nehmen zu wollen.
Nur das offensichtliche Wohlwollen der Großen Mutter, Shanaii-Doras-Sha, hatte ihn davor bewahrt, verstoßen oder gar als nutzloser Fresser getötet zu werden. Sie hatte darüber gewacht, dass er die Schriften des Volkes studierte, und sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie überzeugt war, Olud werde dem Volk große Dienste erweisen.
Kein Raan würde es jemals wagen, die Meinung der Großen Mutter in Zweifel zu ziehen. Sie war es gewesen, die das Volk endlich geeint hatte, und trotz der vielen Jahre, die seitdem vergangen waren, erwies sich Shanaii-Doras-Sha noch immer als ausgesprochen agiles Weibchen.
Nun stand sie, mit dem an sich zweifelnden Olud-Sha, auf dem höchsten Punkt der Stadt, welche, ihren Besitzern gemäß, Sha genannt und, der Sitte des Volkes entsprechend, als Gelege bezeichnet wurde.
„Einst waren wir nur wenige“, sagte die Große Mutter und wies mit einem Vorderlauf über die Stadt hinweg. „Unsere Gelege waren klein und wir mussten uns vor den Räubern der Wüste verstecken. Aber die Göttin des Eis schenkte uns die Fähigkeit des Denkens und die Fertigkeit, uns mit der Hilfe unserer Klauen Werkzeuge und Waffen zu erschaffen. Nun sind die einstigen Räuber die gejagten und bereichern unsere Vorräte.“ Shanaii entblößte amüsiert ihre Reißzähne, wobei sie die Kiefer geschlossen hielt. „Als wir die Räuber besiegten, wurden unsere Gelege größer. Wir fanden nicht mehr genug Nahrung für unsere Brut, begannen sie bei anderen Gelegen zu stehlen. Gelege kämpfte gegen Gelege.“
Olud nickte betrübt. „Du hast es beendet, Große Mutter.“
„Nach dem Willen der Göttin.“ Shanaii-Doras-Sha legte für einen Augenblick den rechten Vorderlauf Ehrfurchtsvoll über ihre Augen, machte sich so symbolisch blind und schutzlos, und Olud folgte rasch ihrer Geste, bis die Große Mutter ihn erneut ansah. „Sie gab mir die Kraft, die endlosen Kriege der Gelege zu beenden und unser Volk endlich zu einen.“
„Der Göttin des Eis sei Dank“, murmelte Olud.
Die Herrin der Raan lächelte. „Ja, der Göttin sei Dank.“ Sie stieß das kleine Männchen auffordernd an und wies erneut um sich. „Was siehst du, Olud-Sha?“
„Ich sehe das Gelege der Sha“, erwiderte er unsicher.
Die Stadt der Sha erhob sich inmitten einer unendlich erscheinenden Wüste. Der helle Sand reflektierte das Sonnenlicht und blendete Olud, während er seinen Blick über die Stadt gleiten ließ. Die inneren Nickhäute schoben sich vor und dämpften das Licht, versahen die schwarzen Augäpfel, mit ihren gelben, geschlitzten Pupillen, mit der notwendigen Feuchtigkeit.
Die Stadt ähnelte einem stumpfen Kegel, der äußerlich nur durch seine enorme Größe beeindruckend wirkte. Um den Kegel zog sich spiralförmig eine Rinne, deren Oberfläche von den Sha sorgfältig geschmolzen und geglättet worden war. Zahlreiche Öffnungen mündeten vom Inneren des Kegels an dieser Rinne. Diese Öffnungen waren Teil des komplizierten Belüftungs- und Temperaturregelungssystems des Geleges. Im Alarmfall boten sie den Kriegerinnen zudem die Möglichkeit, die Rinne rasch zu erreichen und über sie blitzartig zum Boden hinabzugleiten, um einem Angreifer zu begegnen. Für einen Feind war es hingegen unmöglich, sie zu ersteigen, er musste die beiden großen Tore am Stumpf des Kegels einnehmen, um in das Gelege vorzudringen.
In unregelmäßigen Abständen erhoben sich kaminartige Schlote, die ebenfalls der Belüftung galten. Als Reptilien waren die Raan ursprünglich nur in der Tageshitze aktiv gewesen, und in der Nacht, wenn die Temperaturen in der Wüste unter den Gefrierpunkt von Wasser fielen, waren sie förmlich erstarrt. Erst die Fähigkeit, Werkzeuge und Hilfsmittel zu entwickeln, hatte sie von den Temperaturen unabhängiger gemacht. Auch wenn sie es bevorzugten nackt zu bleiben, so konnten sie nötigenfalls warme Bekleidung tragen, um Nachtaktiv sein zu können.
Der Stadtkegel wurde von einer Unzahl von Gängen und Kammern durchzogen. Ihre Wände bestanden, wie der gesamte Bau der Stadt, aus dem Sand der Wüste. Der Speichel der Raan enthielt eine Substanz, mit welcher sich der reichlich vorhandene Rohstoff fermentieren und härten ließ. Generationen hatten an der Stadt gewirkt, um dem Gelege die jetzige Größe zu geben.
Einst waren die Gänge und Kammern nur Zweckgebunden gewesen, aber mit seiner steigenden Intelligenz begann das Volk, einen Sinn für die Schönheit zu entwickeln. Mineralien und die in der Wüste wachsenden Kugelkakteen wurden genutzt, um die Wände mit farbenfrohen Motiven zu versehen. Die Raan lebten nach Männchen und Weibchen getrennt. Es gab einige besondere Räume, in denen die Geschlechter sich begegnen konnten, um sich der Brunst und Vermehrung hinzugeben. Ansonsten ging man sich aus dem Weg. Die weiblichen Raan dominierten das Bild der Stadt und übten sich in ihren Räumen in der Kunst des Tötens, die sie mit Perfektion beherrschten. Ihre Krallen und Kiefer waren stärker ausgeprägt, als die der Männchen, und inzwischen kamen noch jene Waffen hinzu, welche in den Schmieden entstanden. Die Schmieden wurden von Männchen betrieben, die sich auch um die Brutpflege und Klimatisierung des Geleges zu kümmern hatten.
Oben, in der Spitze des Kegels, befanden sich die Gemächer der Herrin von Sha, der Großen Mutter Shanaii-Doras-Sha, tief unten lagen die Bruthöhlen, in denen die Männchen, unter der Aufsicht wachsamer Kriegerinnen, die Eier pflegten. Einst hatte man dies nicht riskieren können. So selten es auch Regen in der Wüste gab, so waren die Wasserstürme zu Recht gefürchtet. Früher hatte man die Eier in den oberen Ebenen lagern müssen, da die unteren Räume zu schnell vom Wasser bedroht wurden. Da die Eier zu ihrer Reife jedoch eine bestimmte Temperatur benötigten, waren die Männchen gezwungen gewesen, sie ständig im Gelege hinauf oder hinab zu transportieren. Inzwischen hatten die Raan gelernt, ihr Gelege mit einem System von Schächten und Balgpumpen gleichmäßig zu klimatisieren.
Das Gelege der Sha war nicht die einzige Stadt der Raan, aber mit Sicherheit das größte Gelege des Volkes. Mehr als zwanzigtausend Köpfe zählte die Bevölkerung, darunter knapp zweitausend Männchen. Männchen, von denen Olud-Sha das unscheinbarste war.
„So, du siehst also das Gelege der Sha.“ Shanaii-Doras-Sha entblößte ein Stück ihrer Fänge. Ihr Blick wirkte verärgert, als sie Olud musterte. „Wärst du ein gewöhnliches Männchen, so würde ich die Antwort gelten lassen. Aber von dir, Olud-Sha, erwarte ich eine intelligentere Antwort. Also, nochmals, Olud, was siehst du?“
Olud grub die oberen Reißzähne in seine untere Lefze und kratzte sich unbewusst mit einem Vorderlauf am Kehlsack. „Das Land der Raan?“
Die Große Mutter schnaubte und stieß ihren Schützling ärgerlich an. „Olud!“ Sie schüttelte missbilligend den langen Schädel. „Besinne dich auf deine Fähigkeiten! Was meinst du, warum ich dich das Buch der Bücher studieren ließ? Nur wenige Kriegerinnen haben diese Ehre und du bist ein Männchen!“
Um die Stadt der Sha erstreckte sich die Wüste. Sie wirkte unendlich und, auf den ersten, flüchtigen Blick, nahezu leblos. Der Sand bedeckte den Boden in sanften Kuppen und Mulden. Oft strich Wind über ihn hinweg und brachte ihn in Bewegung. Es gab ausgedehnte Wälder der Kugelkakteen, die sich mit ihren langen Stacheln verankerten, um den Böen zu widerstehen. Die Kakteen ernährten sich von Mineralien und kleinen Insekten, die im Boden lebten. Zwischen ihnen huschte gelegentlich einer der kleinen Wüstennager umher. Die Pflanzenfresser suchten nach kranken oder abgestorbenen Kakteen und fanden zwischen den Pflanzen Schutz vor den seltenen Raubvögeln, die in den warmen Luftströmungen über der Wüste kreisten oder vor den noch seltener gewordenen Sharaks, die den Kampf gegen die Raan verloren hatten. Einst gefürchtete Raubtiere und die Herren der Wüste, waren die sechsbeinigen Räuber nun selber Bestandteil der Nahrungskette, und sie standen nicht mehr an ihrem oberen Ende.
Um den Stadtkegel herum erstreckten sich ausgedehnte Kakteenfelder. Die Raan hatten ein System ersonnen, mit dem sie die Bewegungen der Kugelpflanzen kontrollieren konnten. Auf dieselbe Weise, mit der sie die Räume und Gänge ihrer Gelege formten, hatten sie niedrige Wälle errichtet. Diese sperrten einige Areale der Wüste ab. Hatten die Pflanzen einen Bereich nach Nahrung abgesucht, wurden sie von den Ei-Geborenen mit langen Stachelstäben in einen anderen getrieben. So konnte sich der ausgelaugte Wüstenboden erholen. Die Raan förderten dies, indem sie ihn gelegentlich bewässerten und düngten. Pragmatisch, wie sie eingestellt waren, nutzten sie hierfür auch die Leiber ihrer Verstorbenen.
Olud konnte von der hohen Aussichtswarte mehrere Gruppen von Raan erkennen, welche in den Kakteenfeldern arbeiteten. Die Raan waren Allesfresser. Sie vertilgten Insekten, Sharaks, Schlangen und Pflanzen gleichermaßen, und je mehr das Volk wuchs, desto größer wurde sein Nahrungsbedarf. Das wenige Wasser, welches die Kugelpflanzen speicherten, reichte längst nicht, den Durst der Raan zu stillen. Daher standen ihre Gelege stets über einer der seltenen unterirdischen Quellen und bei einem Wassersturm wurde der willkommene Regen über die Klimaschächte in die Speicher der Stadt geleitet.
Olud-Sha knurrte leise. „Ich sehe das Land der Raan und seine Gelege.“
„Und was siehst du noch, Olud-Sha? Was?“
„Ein wachsendes Volk.“
„Richtig.“ Die Große Mutter nickte zufrieden. „Ein wachsendes Volk.“ Sie sah ihn auffordernd an und überragte ihn dabei um fast die Hälfte seiner Größe. „Nun?“
„Einst haben wir Kriege untereinander geführt“, erwiderte Olud nachdenklich. Er bemerkte ihren kritischen Blick und fuhr hastig fort. „Das hielt die Gelege klein. Nun sind wir geeint, unter dem Großen Ei der Göttin, und die Gelege wachsen.“
„Und?“
Olud war sich nun sicher, worauf die Große Mutter hinauswollte. „Die Gelege wachsen, aber nicht das Land, nicht die Menge an Nahrung, die es uns liefern kann.“
„So ist es.“ Shanaii schlug dem kleinen Männchen anerkennend auf den Schädel und Olud wäre fast vornüber gestürzt. „Wir wachsen, aber wir können es uns nicht mehr erlauben, zu wachsen.“ Sie wies über die Wüste. „Es gibt genug Raum für unsere Gelege, aber nicht genug Nahrung und Wasser.“
Olud kratzte sich am Kehlsack. „Dann dürfen wir keine Eier mehr legen.“
„Das wäre gegen die Natur der Dinge.“ Die Große Mutter lächelte ihn an. „Die Göttin hat uns die Gabe der Fruchtbarkeit gegeben, damit wir uns vermehren.“ Der Ausdruck ihrer Augen wurde eindringlich. „Und sie gab uns die Fähigkeit, zu kämpfen.“
„Ein erneuter Krieg?“ Olud sah sie schockiert an.
„Nicht gegeneinander“, wandte Shanaii ein. „Die Kriege der Gelege sind beendet. Aber unser Volk braucht neuen Lebensraum und es kann sein, dass wir darum kämpfen müssen.“
„Ich verstehe.“ Olud blickte unwillkürlich um sich. „Aber im Süden und Westen ist nur das große Wasser. Im Osten erheben sich die Gebirgszüge und im Norden…“
Das kleine Männchen stockte und die Große Mutter sah ihn aufmunternd an. „Sprich weiter, Olud-Sha.“
„Im Norden leben die zweibeinigen Säuger.“
„Ja, im Norden leben die zweibeinigen Säuger.“ Die Große Mutter schnalzte mit der dunklen Zunge. „Was wissen wir von ihnen, Olud?“
„Nicht viel.“ Olud runzelte die Stirn und seine kleinen Ohrlappen legten sich dabei eng an den Schädel. „Sie gehen, wie wir, auf zwei Beinen und haben zwei Vorderläufe, mit denen sie Dinge anfassen. Sie sind ganz weich und nicht gepanzert und sehr schwächlich.“ Er überlegte kurz. „Und sie haben nur wenige Waffen.“
„Woher weißt du das?“
Olud schnaubte verächtlich. „Weil die Kriegerinnen der Gelege in den vergangenen Jahren drei Gruppen der Säuger in der Wüste fanden und sie kaum Gegenwehr leisteten.“
„Sie waren geschwächt, von Durst und Hitze“, wandte die Große Mutter ein. „Ich habe dir in meinen Gemächern einige der Säugerwaffen gezeigt. Was hältst du von ihnen?“
„Ich bin nur ein Männchen“, knurrte Olud. „Von solchen Dingen verstehe ich nichts. Du solltest eine erfahrene Kriegerin fragen, Große Mutter.“
Olud pfiff schmerzerfüllt, als Shanaii ihn in die Flanke biss. Es war ein kurzer und ungefährlicher Biss, der ihn kaum verletzte, aber den Ärger der Großen Mutter zum Ausdruck brachte.
„Sei kein dummes Männchen“, stieß sie hervor. „Meinst du, ich hätte die Kriegerinnen nicht längst gefragt? Nun aber will ich deine Meinung hören, Olud. Also, sprich!“
„Ihre Waffen sind besser, als die unseren“, sagte er unbehaglich. „Ihr Metall ist sehr viel härter und schärfer. Sie sind schlauer als wir.“
„Unsinn.“ Die Große Mutter bellte lachend. „Sie mögen mehr wissen, aber deshalb sind sie nicht unbedingt schlauer. Was weißt du sonst noch über die Säuger?“
„Nur, dass sie ein großes Reich im Norden bewohnen.“ Oluds Kehlsack gewann wieder etwas an Farbe. Auch wenn die Große Mutter ihn nicht ernsthaft angegriffen hatte, so war die rasche Attacke für ihn doch erschreckend gewesen. „Die wir in der Wüste fingen, haben nicht viel gesagt. Wir kennen nur wenig von ihrer Sprache und noch viel weniger von ihrem Leben.“
„So ist es.“ Die Große Mutter stieß ihn besänftigend an. „Eigentlich wissen wir nichts über die Säuger. Aber da sich unser Volk nur nach Norden ausbreiten kann, müssen wir auch mehr über die Säuger erfahren. Wir müssen in Erfahrung bringen, ob sie zu einer Gefahr für die Raan werden können.“ Sie sah Olud-Sha nachdenklich an. „Und das, Olud aus dem Gelege der Sha, wird deine Aufgabe sein.“
Das Männchen sah die Herrin der Raan an. Seine Schlitzpupillen wurden vor Überraschung rund. „Meine Aufgabe?“
„Deine Aufgabe, Olud-Sha.“ Sie blickte über die Wüste und nickte langsam. „Du kommst aus einem großen Ei, Olud, und wer aus einem großen Ei stammt, erweist dem Volk der Raan auch immer einen großen Dienst. Deiner wird es sein, nach Norden zu gehen und die Säuger zu beobachten. Du wirst in Erfahrung bringen, wie sie leben, wie sie denken und…“, sie lachte leise auf, „welche Gefahr sie darstellen, wenn wir nach Norden gehen.“
Olud schluckte nervös. „Es wird also Krieg mit den Säugern geben?“
„Nur, wenn es sein muss.“ Die Große Mutter streichelte seine Flanke. „Du bist nun der Beobachter, Olud-Sha, und du wirst mir sagen, ob es Krieg geben wird.“
Das kleine Männchen sah benommen nach Norden, dorthin, wo sich das Reich der Säuger befand. „Warum ich? Ich bin nur ein Männchen. Ein sehr kleines Männchen.“
„Gerade deshalb. Du bist klein wie ein junger Zögling und wirst auf die Säuger weit weniger bedrohlich wirken, als eine ausgewachsene Kriegerin. Du hast das Buch der Bücher gelesen und bist intelligent. Du wirst es schaffen, dich unter ihnen zu bewegen und sie zu beobachten, bis du genug von ihnen weißt.“
Die Große Mutter war beruhigt, das Oluds Kehlsack eine tiefrote Farbe aufwies. Das Männchen zeigte keine Angst, was sie insgeheim befürchtet hatte. Nein, sie hatte die richtige Wahl getroffen und das beruhigte die Herrin der Raan. „Ich werde dich nun mit einigen Dingen vertraut machen, die deine Aufgabe betreffen, Olud-Sha, Beobachter der Raan.“ Sie stieß ihn sanft an. „Komm jetzt mit mir in meine Räume. Ich habe dir noch einiges zu sagen, denn Morgen wirst du deiner Bestimmung folgen.“
Olud zögerte nicht, ihr zu folgen.
Er empfand keine Furcht, obwohl er sich in den unbekannten Norden wagen musste. Im Gegenteil, er war neugierig, was er im Land der Säuger erleben würde. Er, Olud-Sha, das bislang unbedeutendste Männchen des Geleges, hatte nun eine Aufgabe, die ihn aus der Masse der anderen Männchen, ja, aller Raan, erhob. Er, Olud, würde der Beobachter des Volkes sein und, wenn auch nur zu einem kleinen Teil, zu seiner Zukunft beitragen.
Olud hörte den mahnenden Pfiff der Großen Mutter und wandte sich um. Zum ersten Mal seit Langem fuhr sein muskulöser Schwanz vergnügt von einer Seite zur anderen. Olud-Sha, Beobachter der Raan – das hatte Klang. All die Jahre hatte er den mehr oder weniger verborgenen Spott der Weibchen ertragen müssen, selbst die anderen Männchen hielten sich für etwas Besseres. Gelegentlich erhielt Olud auch Bisse und Schläge. Natürlich nur, wenn die Große Mutter dies nicht bemerken konnte, und im Vertrauen darauf, dass Olud noch immer genug Stolz besaß, nicht bei seiner Mentorin Schutz zu suchen. Olud hatte all das erduldet, in der Hoffnung, sich eines Tages beweisen zu können. Nun schien der ersehnte Augenblick gekommen. Vielleicht würde man sogar einmal im Buch der Bücher über ihn lesen können? Die Weibchen würden nicht mehr die Schnauze kräuseln, wenn er in ihre Nähe kam, sie würden um ihn buhlen…
„Olud!?“
Er seufzte leise. Vor der Brunst kam die Erfüllung der Aufgabe. Er würde sie gut erfüllen, so wahr er nun der Beobachter war.