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Kapitel 5 Die Hüterin des Eis

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Die Raan erhob sich auf einen Hinterlauf, gab ihrem Körper mit dem Schwanz eine Drehbewegung und führte mit dem anderen Hinterlauf eine kreisförmige Bewegung aus. Die fast dreißig Zentimeter lange, sichelförmige Kampfkralle traf den weichen Unterleib des anderen Weibchens, das zu langsam reagierte. Die Kralle war dick gepolstert, sonst hätte die Getroffene eine tödliche Verletzung erlitten. Auch so war der Treffer schmerzhaft genug und das Weibchen maunzte schrill, während sein Körper gegen die Wand der Übungskammer geworfen wurde.

„Zu langsam“, stellte die Kriegerin fest und bleckte ihre Reißzähne. „Du bist immer zu langsam.“

Die Getroffene richtete sich auf und ignorierte den Schmerz, den sie spürte. „Du hat gesagt, wir übten den Schädelkampf. Du hast aber die Kralle genommen, Hüterin.“

Nadaii-Sha, die Hüterin des Geleges der Sha, lachte pfeifend. „Meinst du, ein Feind würde dir mitteilen, wo er dich angreifen will?“ Sie bleckte spöttisch ihre Lefzen. „Im Kampf musst du immer mit dem Unerwarteten rechnen, Kriegerin. Also beschwere dich nicht, sondern lerne, auf den Feind zu reagieren.“

Der Übungsraum befand sich in der unteren Ebene des Stadtkegels, in direkter Nähe zu den beiden Toren des Geleges. Gaben die Wachen Alarm, konnten die übenden Kriegerinnen sofort in den Kampf eingreifen. Der Raum hatte die Abmessungen einer großen Halle und der Innenraum war mit Säulen unterteilt. Der Boden war dick mit Sand bestreut, um die Klauen zu schonen und gelegentlich fließendes Blut aufzunehmen. Nadaii-Sha, die Kommandantin der Kriegerinnen und somit Hüterin des Eis, legte Wert auf realistische Übungen und duldete nur die notwendigsten Polsterungen. Das ging nicht ohne Verletzungen ab, aber Nadaii wollte, dass ihre Klauen, wie man die Truppen der Gelege nannte, auf alles vorbereitet waren.

Einige Hundert Kriegerinnen übten in der Halle und es war nicht die einzige des Geleges. In einer anderen wurde mit den Rüstungen und Waffen geübt, welche die Sha-Männchen in den Schmieden herstellten. Die Rüstungen waren eher bescheiden, denn die Weibchen schätzten es nicht, wenn sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurden. Auch wenn sie inzwischen Wurflanzen und Schleuderkugeln benutzten, setzten sie bevorzugt die scharfen, dolchartigen Zähne und die tödlichen Klauen der Hinterbeine ein. Ihr metallener Körperschutz beschränkte sich daher auf einen kurzen Brustschild und einen Augenschutz, der die natürlichen Knochenwülste über den Augen verstärkte.

Nadaii war eine außergewöhnlich große Raan, aber das war auch kein Wunder, denn sie war aus einem außergewöhnlich großen Ei geboren worden. Schon früh hatte sie sich als exzellente Kämpferin erwiesen und zunächst eine einzelne Klaue aus zweihundert Kriegerinnen geführt. Die Erstürmung des Dorsa-Geleges war ihr Verdienst und hatte ihr das Kommando über alle Klauen der Sha eingetragen. Nadaii war es irgendwie gelungen, sich die Alarmrutsche des feindlichen Geleges hinaufzuarbeiten und hatte, während man in den unteren Ebenen um den Besitz der Gelegetore kämpfte, die Mutter des Dorsa-Geleges in deren oberen Räumen getötet.

„Hüterin?“

Nadaii-Sha wandte sich um und sah ein Weibchen mit dem Halsband der Leibwache der Großen Mutter. Die Wächterin ging ehrerbietig in Habacht. Auf einem Hinterlauf stehend und den Körper mit dem Schwanz ausbalancierend, hob sie den rechten Hinterlauf und präsentierte ihre Kampfkralle auf Augenhöhe. Es war ein Ehrensalut, und nur wenn die Wache gleichzeitig die Reißzähne entblößt hätte, wäre die Haltung zu einer Drohgebärde geworden.

Die Hüterin des Eis musterte die Wache, aber deren Haltung war untadelig. Keine ihrer Nickhäute zuckte und sie wartete darauf, dass die Kommandeurin ihr die Erlaubnis zum Sprechen gab.

„Was gibt es?“, knurrte Nadaii ärgerlich. „Du störst unsere Übung.“

„Die Große Mutter wünscht dich zu sehen, Hüterin des Eis.“

„Jetzt? Mitten in der Übung?“

„Sie sagte es.“ Die Wache blinzelte vertraulich mit einer Nickhaut. „Es muss wirklich wichtig sein.“

Nadaii stieß ein warnendes Zischen aus. „Halte Disziplin, Wächterin. Niemals eigene Vermutungen äußern, verstanden? Verstanden?!“

Durch die Wache schien ein unmerklicher Ruck zu gehen. „Ich habe verstanden, Hüterin.“

„Dann geh zurück auf deinen Posten und berichte der Großen Mutter, dass ich sofort kommen werde. Ich will mich nur rasch reinigen, dann folge ich.“

Die Wache löste sich aus dem Habacht und eilte davon. Nadaii sah ihr einen Moment nach. Die Bewegungen waren richtig. Nicht zu schnell und nicht zu langsam. Keine Nachlässigkeit und kein zur Schau gestellter Eifer. Das richtige Maß und darauf kam es an. Eine Kriegerin brauchte Disziplin, im Gelege, wie im Kampf. Man konnte es nicht oft genug betonen, sonst wurden sie nachlässig. Der letzte Kampf lag einfach zu lange zurück. Es wurde Zeit, dass man wieder die Klauen in Blut senkte.

Nadaii-Sha gab einen tremolierenden Pfiff von sich und der Lärm in der Halle verstummte. „Ihr werdet weiter den Klauen- und Zahnkampf üben, Kriegerinnen. Wenn ich zurück bin, werden wir uns mit den Wurfkugeln befassen. Shana, du bist verletzt!“

Eine Kriegerin, deren Flanke blutete, hob rasch die Vorderläufe. „Nichts Ernstes, Hüterin. Das Polster saß nicht richtig und kostete mich etwas Fett und Muskelfleisch. Keine Sorge, ich werde dem Gelege nicht zur Last fallen. Ich kann noch kämpfen.“

„Gut. Es wäre schade um dich“, knurrte Nadaii. „Bislang zeigst du gute Leistungen. Es könnte sein, dass ich dich bald zu Trägerin des Eis mache.“

Die Schlitzpupillen von Shana weiteten sich einen Augenblick überrascht, aber das Weibchen verzichtete auf eine Erwiderung. Nadaii schätzte weder zu großes Selbstbewusstsein, noch falsche Bescheidenheit. Für die Hüterin standen die Belange des Geleges über allem anderen. Es war besser, die Reißzähne geschlossen zu halten und zu akzeptieren, was die Hüterin einem bot.

Nadaii-Sha wandte sich zum Ausgang der Halle und hörte, wie hinter ihr der Lärm der Übungen wieder einsetzte. Sie ging in den Reinigungsraum, trat an die Badekuhle und schob sich in den heißen Sand. Wohlig rieb sie sich an den feinen Körnern, die Schmutz und Schweiß von ihrem Leib entfernten. Nadaii liebte ein ausgedehntes Sandbad, aber die Große Mutter hatte sie gerufen und so beschränkte die Kommandeurin sich auf die notwendigsten Reinigungen. Als sie aus der Kuhle stieg, schüttelte sie sich und streifte die letzten Sandkörner ab. Dann trat sie zu dem Korb, der ihr Zeichen und ihre persönlichen Gegenstände beinhaltete, die sie zur Übung abgelegt hatte. Jeder im Gelege der Sha kannte die Hüterin des Eis, aber die Disziplin verlangte, dass Nadaii die Zeichen ihres hohen Standes anlegte.

Sie schob den einzelnen Beinreif über ihr rechtes Hinterbein, dicht über der Kralle, sodass die Metallgravur des Großen Eis sichtbar wurde, wenn sie in Ehrenhaltung ging. Es gab nicht viele Raan, denen Nadaii ihren Respekt zollte, aber die Große Mutter, Shanaii-Doras-Sha gehörte mit Sicherheit zu ihnen. Nadaii legte den Halsgurt um und führte den symbolischen Sicheldolch in die Scheide, Zeichen ihres Rangs als bewährte Kämpferin, die ein feindliches Gelege gestürmt hatte.

Einige andere Weibchen machten hastig Platz, als Nadaii an ihnen vorbei in den Hauptgang trat, von dem die breiten Sturmrampen nach oben und unten abzweigten. Nadaii verzichtete jedoch auf ungebührliche Hast, erwiderte mit leichtem Blinzeln der Oberlider die Grüße anderer Weibchen und schritt die Rampe hinauf, die zu den oberen Ebenen führte.

Der Gang war breit und stieg sanft an. Querrillen waren in den steinigen Grund geschliffen, die den Füßen der Raan guten Halt boten. Die Wände waren ohne Schmuck, wenn man von einem schmalen roten Streifen absah, der sich an beiden Wänden entlang zog. Rot war die Farbe des Blutes der Raan und die Farbe der Kehlsäcke der Männchen. Kein männlicher Raan durfte es wagen, sich in einem Gang oder Raum blicken zu lassen, der den roten Verbotsstreifen zeigte. Jedes Weibchen hätte ihn sofort töten können, ohne hierfür Rechenschaft ablegen zu müssen. Dies waren die Territorien der Kriegerinnen und sie würden das andere Geschlecht erst in den Wohn- und Wirtschaftssektoren des Geleges dulden.

Nadaii blinzelte mit den Nickhäuten ihrer Augenlider, als sie unerwartet den roten Kehlsack eines Männchens vor sich sah. Instinktiv entblößte sie ihre Reißzähne und spürte dabei, wie sich die Krallen an ihren Hinterbeinen zur Kampfbereitschaft aufrichteten. Aber dann sah sie zwei weibliche Wachen und den Grund der Anwesenheit des Männchens. Den einzigen Grund, der ein Weibchen dazu bewog, den männlichen Raan im Sektor der Kriegerinnen nicht sofort zu töten.

Unter der Decke zogen sich die aus Sand gebrannten Rohre entlang, die in regelmäßigen Abständen in metallenen Kästen verschwanden. Diese Kästen wiesen lamellenartige Blenden auf, die geöffnet oder geschlossen werden konnten. Rohre und Kästen gehörten zum Lüftungssystem des Geleges und wurden auch zur Ableitung des Wassers bei Gewitterstürmen genutzt. Die Lamellen eines Kastens waren beschädigt worden und die Kriegerinnen beaufsichtigten das Männchen bei der Reparatur. Wahrscheinlich hätten sie dies auch selber bewerkstelligen können, aber das Interesse eines Weibchens bestand nicht darin, niedere Arbeiten zu verrichten.

Das Männchen zuckte furchtsam zusammen, als es die Hüterin des Eis erkannte. Sein ohnehin blasser Kehlsack wurde nahezu farblos. Nadaii vermutete, dass es in seiner Angst wohl unter sich gemacht hätte, wenn nur etwas Flüssigkeit in seiner Blase gewesen wäre. Der Anblick nackter Todesangst hob Nadaiis Laune wieder an. Sie blinzelte den Kriegerinnen versöhnlich zu, während sie an der Gruppe vorbei schritt.

Sie erreichte den offenen Sektor, in dem sich auch Männchen aufhalten durften. Gegenüber der strengen Ordnung und Disziplin, die in den Bereichen der Kriegerinnen herrschte, erschien Nadaii das Leben in den anderen Bereichen seltsam ungeordnet. Sie wusste, dass sie damit den hier arbeitenden Weibchen und Männchen Unrecht tat. Alles folgte einem Sinn und hatte eine Aufgabe.

Wasser und Nahrung wurden durch die Ebenen transportiert, um die zahlreichen Raan und ihre Brut zu versorgen. Räume und Gänge wurden auf Schäden überprüft und ausgebessert oder neue Kammern geschaffen, da das Gelege wuchs. Die Raan schienen durch die Gänge zu quirlen und keinem System zu folgen, aber jede Handlung war aus der Erfahrung vieler Generationen entstanden.

Das Leben in der Wüste, mit ihren begrenzten Ressourcen, erforderte einen sorgfältigen Umgang mit den Kräften und die Raan waren es gewohnt, nichts zu verschwenden.

Kugelkakteen wurden zur Ernte aus den Gehegen getrieben. Mit Stangen gegen einen Damm gepresst, konnten sie nicht entkommen und Weibchen brachen die Stacheln der Pflanzen, achteten sorgfältig darauf, die Kugeln so wenig wie möglich zu beschädigen. Die Pflanzen ließen sich nicht nur mit dem Wind treiben, sondern rollten gezielt, in dem sie ihren Wasservorrat, den sie mit sich führten, innerhalb ihres Körpers bewegten. Sie pumpten ihn durch Schließen und Öffnen von Gefäßen und verlagerten so den Schwerpunkt. Dieses Wasser, durch Nährstoffe der Kakteen angereichert, war eine willkommene Nahrungsergänzung der Raan. Einst war dies ihr einziges Trinkwasser gewesen, von den seltenen Regengüssen abgesehen, aber seitdem die Gelege ihre Brunnen gebohrt hatten, galt das Hauptinteresse der Echsen dem Fruchtfleisch der Pflanzen. Die geernteten Kakteen wurden in das Gelege gerollt, dort geöffnet und verwertet. Fleisch und Wasser dienten der Ernährung, die Stacheln würden zu Wurflanzen verarbeitet werden und das ölige Pflanzenfett als Schmiermittel dienen. Die äußere Hülle der Kaktee konnte zu Umhängen verarbeitet werden, die in den kalten Wüstennächten die Wachen schützten.

Nadaii-Sha sah zwei junge Männchen, die auf das muskulöse Hinterteil einer jungen Kriegerin starrten. Ihre Kehlsäcke waren gebläht und tiefrot. Sie bemühten sich offensichtlich, die Raan von den Vorzügen ihrer Männlichkeit zu überzeugen und Nadaii zischte amüsiert. Als die Männchen sie bemerkten, fielen die Kehlsäcke erblassend in sich zusammen. Nadaii bellte lachend und kratzte amüsiert mit einer Kralle am Boden des Ganges.

Männchen. Sie waren so erbärmlich, allenfalls zur Vermehrung des Geleges zu gebrauchen. Ansonsten waren sie nutzlose Fresser. Nun, bei der Versorgung des Geleges erfüllten sie ihre Pflichten. Nadaii zischte vergnügt. Es gab die eine oder andere Gelegenheit, an der auch sie Vergnügen an einem Männchen fand.

Die Hüterin des Eis erreichte die obere Ebene, fast unmittelbar unterhalb der Aussichtsplattform des Stadtkegels. Hier befanden sich die Räume der Großen Mutter, Nadaii erkannte sofort die Ehrenwachen, ausgewählte Kriegerinnen, die in voller Rüstung, mit Brustschild und Augenschutz, rechts und links der Doppeltür standen, die in das Allerheiligste der Doras-Sha führte.

Die beiden Wächterinnen erkannten Nadaii und präsentierten ihre rechten Krallen. „Haltet die Krallen spitz und die Zähne scharf“, sagte die Hüterin wohlwollend und klopfte mit der Klaue gegen das Metallschild an der Unterseite einer Türhälfte. „Die Große Mutter erwartet mich.“

Die beiden Türflügel wurden geöffnet und zwei andere Weibchen traten demütig zur Seite. Es war angemessen, dass die Große Mutter von starken Weibchen bedient wurde und nicht von einfachen Männchen, wie Nadaii fand.

Der Raum war Kegelförmig, wie das Gelege der Sha und wurde von dem Thron der Großen Mutter dominiert. Ein prachtvoller Sitz aus den Knochen getöteter Feinde. Die Armlehnen waren aus den Schädeln zweier großer Kriegerinnen gefertigt. Kriegerinnen, die einst Gelege angeführt hatten und nun, in gewisser Weise, zu Untertanen der Großen Mutter geworden waren. Nadaii fand auch dies sehr amüsant.

Die Große Mutter, Shanaii-Doras-Sha, bemerkte die vergnügt hochgezogenen Lefzen der Hüterin des Eis. Der Blick ihrer gelblichen Schlitzpupillen war starr auf Nadaii gerichtet. „Ich sehe, du fühlst dich vergnügt?“

„Ich musste an die Hüterinnen der anderen Gelege denken, die nun deinen Sitz schmücken, verehrte Doras-Sha.“

„Und das findest du vergnüglich?“ Die Große Mutter schüttelte langsam ihren Schädel. „Ich kann nichts Vergnügliches daran finden, Hüterin des Eis. Es waren tapfere Raan und sie hätten dem Volk gut dienen können.“ Shanaii sah die Kommandantin der Kriegerinnen ernst an. „Die Zeit der Kriege, in denen die Rann sich gegenseitig töteten, ist vorbei, Hüterin.“

„Der Großen Mutter sei Dank“, versicherte Nadaii rasch und hob ehrerbietig ihre Kampfkralle zum Gruß. Sie dachte flüchtig daran, dass ein Männchen, bei dem Blick den Shanaii ihr zuwarf, sicher aus Angst seinen Kehlsack entblößt hätte.

Die Große Mutter schnalzte leise und ignorierte den Thron, schritt zu einem bequemen Stuhl hinüber, der an einer Sitzgruppe stand. Das Polster war hinten eingeschnitten und bot dem Schwanz der Raan eine komfortable Auflage. „Setz dich zu mir, Hüterin des Eis, wir haben etwas von großer Bedeutung zu besprechen.“

Nadaii spürte die unterbewussten Impulse, die von der Großen Mutter ausgingen. Einige Weibchen der Raan verfügten über besondere geistige Fähigkeiten. Sie waren unterschiedlich stark ausgeprägt und verschieden in ihren Eigenschaften. Einige konnten durch ihren Willen andere Lebewesen beeinflussen, andere für Augenblicke in die Zukunft sehen, was sie zu außergewöhnlichen Kämpferinnen machte. Die Große Mutter konnte die Empfindungen ihrer Umgebung erfassen, deuten und in ihrem Sinne verändern. Es war nicht so, dass sie ihren Willen aufzwang, aber sie konnte Aggressionen dämpfen und bestimmte Stimmungen erzeugen. Diese Fähigkeit hatte der Großen Mutter geholfen, die Führung des Volkes zu übernehmen.

Es gab nur wenige Weibchen mit solchen Begabungen und sie standen unter dem Schutz der Großen Mutter. Es gab Fälle, in denen auch Männchen mit einer Gabe geboren wurden, doch sie überlebten nicht lange genug, um sie zu entwickeln. Die Kriegerinnen achteten streng darauf, dass die besonderen Fähigkeiten den Weibchen vorbehalten blieben.

Nadaii-Sha, die Hüterin des Eis, musterte die Große Mutter durch halb geschlossene Nickhäute. Shanaii versuchte nicht, ihr Gegenüber zu beeinflussen, Nadaii hätte dies gemerkt, sie war erfahren genug, den sanften Druck zu registrieren, der sich dabei über den Schädel zu legen schien.

„Wie steht es um deine Klauen, Hüterin des Eis?“

Die Frage traf Nadaii nicht unvorbereitet. Man suchte die Räume der Herrin nicht ohne Grund auf. Wenn die Große Mutter die Kommandantin zu sich rief, konnte es nur um Belange gehen, welche die Klauen der Raan betrafen. „Sie sind bereit, Große Mutter.“

Shanaii-Doras-Sha pfiff belustigt. „Ich habe keine andere Antwort von dir erwartet, Nadaii-Sha. Ich weiß, dass deine Klauen immer bereit sind, wenn sie gebraucht werden.“

„Und?“ Nadaii schnalzte mit ihrer Zunge. „Werden sie gebraucht?“

„Es mag sich so fügen.“ Shanaii machte eine ausholende Geste. „Das Volk der Raan wächst.“

„Wir sprachen darüber.“ Nadaiis Schwanz zuckte nervös und kündete von ihrem Interesse. „Dann ist es jetzt so weit? Gehen wir nach Norden? Kämpfen wir gegen die Säuger?“

„Du kannst diesen Kampf kaum erwarten, nicht wahr, Hüterin?“

„Es ist lange her, dass wir unsere Klauen in Blut tauchten“, erwiderte Nadaii und schnalzte erneut nachdenklich mit der Zunge. „Es ist nicht gut für eine Kriegerin, wenn sie ihrer Bestimmung nicht folgen kann.“

„Und Krieg ist nicht gut für das Volk“, wandte Shanaii ein. „Die Gelege werden zu leiden haben.“

„Sie werden auch leiden, wenn es nicht genug zu Fressen gibt.“

Sie sahen sich an und schwiegen. Die beiden Raan hingen ihren Gedanken nach.

Vor einigen Jahren hatten sie zum ersten Mal darüber gesprochen, dass ihr Volk an einem Wendepunkt angelangt war. Damals hatten sie auf der Aussichtsplattform eines eroberten Geleges gestanden und hinabgesehen, auf die Männchen und Weibchen, die man aus dem Stadtkegel hinaustrieb. Den Weibchen hatte man vor die Möglichkeit geboten, der Großen Mutter die Treue zu schwören. Einige verweigerten dies und erwiesen der Großen Mutter dennoch einen letzten Dienst, indem sie die Kakteenfelder düngten. Die Männchen wurden gar nicht erst gefragt. Shanaii-Doras-Sha hatte über die Wüste geblickt und dann ihre Kriegsherrin angesehen. „Die Kriege der Gelege sind vorbei. Nun wird das Volk der Raan sich mehren, wie es der Wunsch der Göttin des Eis ist.“

Nadaii-Sha hatte mit dem Pragmatismus der Kriegerin geantwortet. „Eines Tages wird es eng werden, in den Gelegen.“

Sie hatten sich angesehen, in stillem Einvernehmen. „Eines Tages.“

Jahre waren nun vergangen, doch die beiden Raan konnten sich gut an die Gedanken erinnern, die sie damals bewegt hatten und die sie an diesem Tag zusammenführten.

Die Große Mutter legte nachdenklich die Ohren an und erhob sich. Bedächtig schritt sie zu dem großen Sandkasten hinüber und die leichten Bewegungen ihres Schwanzes verrieten, dass sie ihre Erregung nur mühsam unterdrücken konnte. Sie trat an den Kasten und hob auffordernd einen Vorderlauf. Als Nadaii neben sie trat, nahm die Große Mutter ein metallenes Streichbrett, glättete den Sand und begann, mit dem spitzen Ende des Streichbretts, Konturen in den feinkörnigen Grund zu ziehen. Sie tat es schweigend und konzentriert. Nadaii sah ebenso schweigend und konzentriert zu. Als Shanaii den Sand mit Zeichen überzogen hatte, sah sie ihre Hüterin forschend an.

Nadaii schnalzte kurz mit der Zunge und beugte sich ein wenig über den Kasten. „Die zwölf Gelege der Raan. Die Unendlichkeit der Wüste mit den fernen Küsten. Dies ist die Stelle, an der sich die Kaam-Quelle befindet, nicht wahr? Dort fingen wir die letzte Gruppe der Säuger.“ Nadaii kratzte vergnügt mit einem Hinterlauf auf dem Boden. „Hier die Nordgrenze, wo das grüne Land beginnt.“ Sie hob den Blick. „Das Land der Säuger.“

„Das Land der Säuger.“

„Also werden wir unsere Klauen in ihr Blut senken.“ Es war halb Frage und halb Feststellung, und die Zufriedenheit Nadaiis war unverkennbar.

„Vielleicht ist es unausweichlich.“ Die Große Mutter wies über die Zeichen des Sandkastens. „Noch haben wir Raum in der Wüste. Scheinbar unendlichen Raum und die Gelege können noch wachsen. Aber nicht mehr lange, wenige Jahrzehnte oder Jahrhunderte, und die Wüste wird zu klein für uns und kann das Volk der Raan nicht mehr ernähren.“ Shanaii schloss bedauernd die gelben Schlitzpupillen und pfiff leise. „Ich weiß, wir könnten noch warten. Aber jedes Jahr des Wartens erhöht die Gefahr, dass die Säuger auf uns aufmerksam werden, erhöht vielleicht ihre Stärke.“

„Die Klauen der Gelege sind bereit, Große Mutter.“

„Wir wissen so wenig von den Säugern.“ Shanaii strich Gedankenversunken mit einem Vorderlauf über den Sand, verwischte dabei einige der Symbole. „Wir wissen nicht, wie stark sie sind und wie sie sich rüsten.“

„Unsere Klauen werden sie zerfetzen.“

Nadaii zuckte kurz zusammen, als die Große Mutter ärgerlich zischte und symbolisch nach ihrer Flanke schnappte. „Sei kein Männchen, Nadaii-Sha, das ist unter deiner Würde. Du bist die Hüterin des Eis und die erfahrenste Kriegerin aller Gelege… Du weißt besser als alle anderen Raan, dass man sich auf einen Kampf gut vorbereiten muss.“

Für einen flüchtigen Augenblick legte Nadaii entschuldigend ihren Kopf in den Nacken und entblößte ihre Kehle. „Du hast recht, Große Mutter. Ich führte mich auf, wie ein Männchen. Natürlich wäre es gut, wenn wir mehr von den Säugern wüssten.“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Soll ich ein paar einfangen?“

„Es ist zu unsicher, abzuwarten, bis sich wieder einige von ihnen in die Wüste wagen. Sie muss ihnen so fremd sein, wie uns das grüne Land der Säuger.“ Die Große Mutter sah auf die Landkarte hinab. „Ebenso unsicher wäre es, eine Klaue in das Territorium der Säuger zu entsenden, um einige von ihnen einzufangen. Unsere Existenz könnte offenbart werden.“

„Ich würde dafür sorgen, dass kein Säuger übrig bleibt, der von uns berichten könnte.“

„Nein, Nadaii-Sha. Ich schätze deine Fähigkeiten, aber dies wird keine Aufgabe für eine Klaue sein.“ Die Große Mutter deutete auf einen bestimmten Punkt im Sandkasten. „An dieser Stelle unterhalten die Säuger einen kleinen Posten. In diesen Posten werde ich einen Beobachter entsenden. Einen Raan, der sich unter den Säugern bewegt und sie für uns erkundet.“

Nadaii pfiff überrascht. „Kein Weibchen könnte sich unerkannt unter den Säugern bewegen.“

„Kein Weibchen, richtig.“

Nadaii sah die Große Mutter schockiert an. „Du denkst an ein Männchen?“ Die Hüterin des Eis schnaubte verächtlich. „Auch ein Männchen könnte sich nicht unerkannt bewegen. Es mag kleiner als eine Kriegerin sein, aber es ist zudem auch noch zu dumm, sich richtig zu verhalten.“

Shanaii-Doras-Sha richtete sich auf und sah die Hüterin kalt an. „Hältst du deine Große Mutter für dumm?“

„Natürlich nicht“, versicherte Nadaii. Ihre Kehle wurde dunkel vor Erregung. „Du willst wirklich ein Männchen mit einer solch wichtigen Aufgabe betrauen?“

„Es wird nicht alleine sein. Eine deiner Klauen wird es begleiten und ihm notfalls beistehen. Aber ich will, dass die Klaue sich verborgen hält. Das Männchen soll Gelegenheit erhalten, sich unter den Säugern zu bewegen. Sie sollen es für harmlos halten und kein Misstrauen gegen es verspüren.“

„Das werden sie nicht. Männchen sind harmlos.“

„Nadaii!!“

„Verzeiht, Große Mutter. Ich will nicht respektlos erscheinen, aber ich verstehe nicht, wie ein Männchen sich unter den Säugern bewegen können soll. Auch wenn es nur ein Männchen ist, werden sie es als Raan erkennen.“

„Olud-Sha.“

„Oh.“ Nadaii entblößte amüsiert die Reißzähne und kratzte mit dem Hinterbein. „Ja, den mögen sogar die Säuger für harmlos halten. Er ist sehr klein, harmlos und unbedeutend.“

„Er ist sehr klein, aber keineswegs harmlos oder unbedeutend.“ Shanaii-Doras-Sha sah die Hüterin eindringlich an. „Wenn er es richtig anstellt, werden sie ihn für harmlos halten und bei sich dulden. Damit ist er von großer Bedeutung für das Volk der Raan, denn er wird meine Augen und Ohren sein.“ Ihr Blick wurde schärfer. „Und deine Klaue wird ihn schützen, Nadaii-Sha, Hüterin des Eis.“

Nadaii ging unwillkürlich in die Ehrenhaltung über und präsentierte ihre Klaue. „Ich selbst werde die Klaue führen und Olud-Sha hüten.“

„Nein, Nadaii-Sha. Du wirst deine Klauen auf den Tag vorbereiten, an dem wir, vielleicht, in das Land der Säuger vordringen werden. Du wirst deine beste Trägerin des Eis mit der Aufgabe betrauen. Du selbst wirst hingegen dafür sorgen, dass deine Klauen bereit sind, wenn das Blut sie ruft.“

„So wird es geschehen, Große Mutter.“

Nadaii war entlassen und sie drehte sich auf dem linken Hinterbein, bevor sie die Ehrenhaltung aufgab und die Räume Shanaiis verließ. Ihre Haltung war untadelig. Nur das nervöse Zucken ihres muskulösen Schwanzes verriet, dass die Kommandantin der Klauen in höchstem Maße irritiert war, dass einem unbedeutenden Männchen wie Olud-Sha eine so wichtige Aufgabe anvertraut wurde. Immerhin, das Männchen würde in Begleitung einer Klaue sein. Nadaii würde die besten Kriegerinnen aussuchen uns sie wusste auch, wer die Klaue führen würde. Es gab nur eine Kriegerin, der sie diese Mission anvertrauen würde.

Anaii, Trägerin des Eis und Kommandantin der Blutklaue.

Die Ei-Geborenen

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