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Kapitel 6 Ein schrecklicher Verdacht

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Densen Jolas bemühte sich, langsam zu gehen, und ermahnte Hermen und den anderen Gardisten der imperialen Leibwache, seinem Beispiel zu folgen. Er konnte und wollte die Nachricht vom Tod des Imperators nicht glauben, obwohl es keinen Zweifel am Wahrheitsgehalt von Hermens Botschaft geben konnte.

Die Verlautbarungen des Imperators wurden auf den öffentlichen Plätzen des Imperiums verlesen, in jeder Stadt, und da das Imperiums groß war, dauerte es, bis die Worte des Kaisers in jeden Winkel seines Reiches gelangten. Das Gerücht vom Tode des Imperators verbreitete sich hingegen wie ein Lauffeuer. Je näher Densens kleine Gruppe dem imperialen Palast kam, desto deutlicher waren die Anzeichen, dass sich die Nachricht von seinem Tode ungebremst ausbreitete. Menschen standen in kleinen und großen Gruppen auf den Straßen, traten aus ihren Häusern, um sich anzuschließen, und jedes Mal, wenn Densen an den Menschen vorbei kam, warfen sie ihm besorgte Fragen zu.

„Habt Geduld, Leute“, wiegelte der Hauptmann der Leibgarde ab. „Ich weiß auch nicht mehr, als ihr selber. Sollte dem Kaiser etwas Ernstes zugestoßen sein, wird der Hof es bekannt geben. Also, geduldet euch und wartet auf die offizielle Verkündung.“

In der Straße zwischen Senatsgebäude und Palast kam ihnen eine halbe Schwadron der Leibgarde entgegen. Die Federn auf ihren Helmen waren geknickt und dies verriet Densen, dass es wirklich geschehen war. Der Kaiser war tot. Der kommandierende Offizier erkannte Densen und grüßte ehrerbietig. „Wir haben Befehl des imperialen Kanzlers, die Wachen zu verstärken. Kanzler Wilbur befürchtet Unruhe, wenn die Nachricht bekannt wird.“

„Offensichtlich verbreitet sich die böse Kunde schon“, brummte Densen. Er sah den Offizier betrübt an. „Dann ist es also wahr? Donderem-Vob ist tot? Wie konnte das geschehen? Vor wenigen Stunden sprach ich noch mit ihm.“

„Ein verhängnisvoller Unfall, Hauptmann“, erwiderte der Mann leise. „Ich weiß selbst nicht genau, was geschehen ist. Man sagt, Ihre Imperialität sei in Gegenwart der Hochgeborenen Vob verstorben. Man wird es dir sicher sagen, du bist ja der Hauptmann der Garde. Der Kanzler schickt schon nach den Mitgliedern des Senats. Glücklicherweise sind sie alle in der Stadt, da es morgen eine wichtige Versammlung geben sollte.“

Densen nickte den Männern zu und eilte dann, im Gefolge von Hermen und dem zweiten Gardisten, durch das Haupttor des Palastes auf den mit Kies bestreuten Weg, der zum Hauptgebäude führte. Auch hier standen Gardisten und Angehörige des Hofes und tuschelten miteinander. Auch hier sah man die zum Zeichen der Trauer geknickten Federn der Helme. Die Männer und Frauen des Hofes hatten sich rote Stoffstreifen um die Oberarme gebunden. Das Symbol stand für vergossenes Blut und die damit verbundene Trauer, doch es wurde ebenso verwendet, wenn eine Krankheit oder das Alter das Leben einer wichtigen Persönlichkeit gefordert hatten. Donderem-Vob war jedoch nicht krank gewesen und sicher ebenso wenig altersschwach. Densen Jolas spürte tiefe Sorge und Trauer in sich, aber er konnte sich jetzt nicht die Zeit für Gefühle nehmen.

Die Sohlen seiner Riemensandalen klatschten laut in den marmornen Gängen des Palastes. Einer der Diener eilte auf ihn zu. „Ihre Imperialität erwartet dich im Privatbad, Hauptmann.“

„Ihre Imperialität?“ Für einen Augenblick war Densen verwirrt, hoffte, das Gerücht sei falsch, und Donderem-Vob werde ihn munter und neugierig erwarten. Dann begriff er, dass der Bedienstete die Hochgeborene Witwe meinte, die nun Donderems verwaisten Platz einnehmen würde. „Du meinst die Hochgeborene Vesana-Vob?“

Er betonte seine Worte, um zu betonen, dass die Witwe des Imperators noch nicht an dessen Stelle getreten war. Sie würde es tun, aber noch war das nicht der Fall, und in Densen regte sich Widerstand, in der jungen Frau die künftige Herrin des Imperiums zu sehen.

Der Hauptmann bemerkte den unsichern Blick des Mannes. „Es ist gut“, sagte er leise. „Ich kenne den Weg.“

Er wollte diese Schritte alleine zurücklegen, ohne die neugierigen Blicke des Mannes zu spüren. Die Freundschaft des Imperators mit seinem Hauptmann der Leibgarde war allgemein bekannt. Ebenso Densens Zurückhaltung der Hochgeborenen Vesana-Vob gegenüber. Je näher er dem Privatbad kam, desto bewusster wurde es Densen, dass es nun Veränderungen im Imperium geben würde. Vielleicht sogar gravierende Veränderungen, denn Vesana-Vob würde den Kaiser niemals ersetzen können. Ja, sie mochte seinen Thron einnehmen, aber die Weisheit des alten Kämpfers würde ihr fehlen.

Eine gemischte Gruppe aus Gardisten und Hofangehörigen drängte sich vor der Doppeltür des kaiserlichen Privatbades. Als sie den Hauptmann erkannte, öffnete man rasch die Tür. Densen trat ein, bemüht, um seine Fassung zu ringen, als die letzten Zweifel, von einer irrationalen Hoffnung genährt, beim Anblick Donderem-Vobs schwanden.

Der Raum war groß und durch die gläserne Kuppel von Licht überflutet. Palmen waren entlang der Wände gepflanzt und ein Teil des Bades mit weißem Sand ausgestreut. Liegebänke luden zur Entspannung ein. In der Mitte befand sich das ovale Becken aus blauem Marmor. Goldene Wasserspender, in der Form von Einhörnern, spien warmes Wasser in das Bad. An der Oberfläche trieben duftende Blüten. Die Luft war schwül und drückend und trieb Densen sofort den Schweiß aus den Poren.

Donderem-Vob lag inmitten einer Wasserlache neben dem Becken. Er lag auf dem Rücken und seine weit aufgerissenen Augen blickten starr und leer. Man hatte den Toten mit dem imperialen Wappenmantel bedeckt. Zwei Gardisten hielten Ehrenwache.

Densen erkannte die Hochgeborene, die auf einer der Liegen ruhte und von zwei Dienerinnen betreut wurde. Sie war nur notdürftig bekleidet und weinte leise. Kanzler Wilbur stand bei ihr und blickte auf, als Densen eintrat.

„Ein entsetzliches Unglück, Hauptmann“, sagte Wilbur leise und sah mitfühlend auf die Kaiserin. „Ein immenser Verlust für das Imperium und Ihre Imperialität, die Kaiserin.“

Densen, obwohl noch in Zivil, sah die Imperatorin an und salutierte. „Meine Anteilnahme zu diesem Verlust, Hochgeborene.“

Die junge Witwe nahm ihn kaum wahr, nickte kurz, um erneut in Tränen auszubrechen. Wilbur legte seine Hand vertraulich an Densens Arm und führte den Hauptmann etwas zur Seite. „Ihre Imperialität benötigt nun Ruhe. Der schreckliche Unfall ereignete sich in ihrer Anwesenheit.“

Densen nickte. „Wie ist es geschehen?“

„Wahrscheinlich hat einfach das Herz des Kaisers versagt“, seufzte Wilbur. „Mitten beim gemeinsamen Bade. Die Hochgeborene, Vesana-Vob, merkte es erst, als es zu spät war. Natürlich waren die Garden sofort da, und auch der Kundige, aber man konnte dem Imperator nicht mehr helfen.“

Ein Badeunfall. Densen Jolas schloss kurz die Augen. Ein schlichter Badeunfall hatte das Leben des Imperators beendet. Ein Unfall, wie er immer wieder vorkam. Gerade die heißen Bäder, die der Kaiser so sehr geschätzt hatte, belasteten den Kreislauf nicht unerheblich. Das Leben eines hochgeschätzten Helden und Imperators hatte ein ruhmloses Ende gefunden. Aber das Wirken des Kaisers würde den Menschen in Erinnerung bleiben.

Densen musterte Wilbur. Der imperiale Kanzler besaß keine große Bedeutung im Imperium. Eigentlich musste er nur die Wünsche des Kaisers in die geschraubt wirkende Amtssprache des Reiches umsetzen. Für Densen war der Mann nicht mehr, als ein imperialer Sekretär, auch wenn Wilbur sich den Anschein einer wichtigen Persönlichkeit gab. Aber der Imperator hatte nicht viel auf den Rat Wilburs gegeben.

Densen sah zu der Witwe hinüber. Es konnte sein, dass sich das nun änderte. Wilbur hatte das Ohr von Vesana-Vob, das war allgemein bekannt. Vielleicht würde der Tod des Kaisers nun für mehr Einfluss des Kanzlers sorgen.

„Wir werden den Imperator rasch auf das Begräbnis vorbereiten. Bei der herrschenden Witterung wären die Begleitumstände einer langen Aufbahrung sonst ausgesprochen unangenehm“, sagte Wilbur leise. „Glücklicherweise sind die Senatoren in der Stadt, sodass wir dem toten Kaiser morgen die letzte Ehre erweisen können.“

„Morgen?“ Densen sah den Kanzler überrascht an. „Die Zeit ist zu knapp, Kanzler Wilbur. Das Volk wird Abschied nehmen wollen. Es ist üblich, einen toten Imperator aufzubahren und…“

Die Stimme der Hochgeborenen war kühl und beherrscht. „Mein Volk soll den Kaiser in guter Erinnerung behalten. Als den Helden und vitalen Mann, der er immer war. Ich wünsche nicht, dass man ihn als stinkenden Leichnam in Erinnerung hat.“

Densen Jolas zwang sich zur Ruhe. Der Wunsch der künftigen Imperatorin war ungewöhnlich, aber immerhin verständlich. „Dennoch…“

„Du wirst meinem Wunsch entsprechen, Hauptmann Jolas“, sagte Vesana-Vob leise. „Kanzler Wilbur ist angewiesen, alle Vorbereitungen zu treffen. Du, Hauptmann, wirst die Garde unterrichten und dafür Sorge tragen, dass die Zeremonie morgen in aller Ordnung ablaufen wird. Anschließend werde ich eine wichtige Rede vor dem Senat halten. Sorge also für meinen Schutz.“

„Ich werde meine Pflichten erfüllen, Hochgeborene.“ Densen schluckte seinen aufsteigenden Zorn hinunter. Wahrscheinlich war es der Verlust über den Freund, der seinen Widerspruch weckte. Doch sein Verlust war sicherlich nicht geringer, als der ihre. Es war seine Pflicht, der Witwe ein Mindestmaß an Respekt zu zeigen. Auch wenn sie ihn mit dem vertraulichen und allgemein üblichen „Du“ ansprach, war es sicher angebracht, ihr in der „Sie“-Form zu begegnen, die nur dem Imperator zustand und dessen besondere Stellung betonte. „Verzeiht, ich wollte nicht ungebührlich…“

„Ich kann deinen Schmerz nachvollziehen“, unterbrach ihn die junge Frau erneut und ihre Stimme klang versöhnlich. „Ich weiß, wie sehr du meinem Gemahl verbunden warst. Glaube mir, Hauptmann, mein Schmerz ist nicht geringer, als der deine.“

„Ihr habt recht. Ich vergaß mich.“ Densen nickte ihr entschuldigend zu und wandte sich dann an den Kanzler. „Ich werde mich nun kurz zurückziehen und dann sofort meine Pflichten erfüllen.“

„Geh, Hauptmann“, sagte Wilbur freundlich. „An diesem Tag ist der Schmerz allgegenwärtig und verständlich. Sei in zwei Stunden in meinem Amtsraum. Dort können wir die morgige Zeremonie besprechen.“

Densen grüßte kurz und verließ dann das Bad.

Er ignorierte die Fragen, die man ihm stellte und ging in den Nebenflügel hinüber, wo sich seine Privaträume befanden. Die Türen des Palastes hatten keine Schlösser, obwohl diese in Privathäusern durchaus genutzt wurden. Der Imperator hatte Wert darauf gelegt, dass die imperiale Garde jederzeit jeden Raum aufsuchen konnte. Er öffnete den einfachen Riegel und trat ein.

Wie der Kaiser, so hatte auch Densen keine besonderen Ansprüche gestellt. Die beiden Räume waren bescheiden, aber gemütlich eingerichtet. Der vordere Raum beinhaltete eine kleine Sitzgruppe, mit den üblichen Liegen, einen Tisch aus seltenen Hölzern, und ein Regal, in dem der Hauptmann einige Bücher und Schriftrollen aufbewahrte. Auf dem Boden lag das Fell eines Bären, den er einst mit dem Schwert erlegt hatte. An der Wand hingen zwei Waffen und ein Schild, die an Schlachten gegen die Walven erinnerten. Auf einer kleinen Säule stand ein aus Holz geschnitztes Einhorn. Es war das Abschiedsgeschenk von Densens alter Schwadron, als er den Dienst bei den Lanzenreitern aufgab, um in die imperiale Leibgarde einzutreten. Dieser Wohnraum war durch einen schweren Stoffvorhang von der Schlafkammer dahinter getrennt. Hier standen Bett und Schrank, in dem Densen seine Kleidung aufbewahrte. Neben seinen wenigen privaten Kleidungsstücken und den beiden Uniformen der imperialen Leibgarde, hing hier noch immer die Uniform seines alten Lanzenreiterregimentes, die er aus sentimentalen Gründen aufhob.

Während Densen die Uniform der Garde anlegte, musterte er die alte Uniform. Der tote Kaiser war dem Regiment immer verbunden geblieben. Wäre etwas mehr Zeit gewesen, hätte man dort sicher eine Schwadron zum letzten Geleit nach Newam entsandt, aber so war keine Gelegenheit für diesen Ehrendienst.

Densen würde die Garde bis auf den letzten Mann und die letzte Frau mobilisieren müssen. Man würde den toten Imperator, so knapp die Zeit auch bemessen war, auf dem großen Platz von Newam aufbahren, damit sich wenigstens das Volk der Hauptstadt von ihm verabschieden konnte. Danach würde man ihm das letzte Geleit in die Gruft geben, wo schon so viele Imperatoren ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.

Densen verspürte erneut sein Unbehagen, über die Hast, mit der das geschehen sollte. Das war eines toten Imperators unwürdig. Als gelte es, ihn hastig zu verscharren und müsse sich seiner schämen. Dabei hatte das Imperium ihm viel zu verdanken.

Der Hauptmann schob die Scheide seines Schwertes auf den neuen Gurt und dachte dabei an den Veteranen, von dem er ihn erworben hatte. Der öffentliche Platz von Alt-Newam… Der Markt musste aufgehoben und der Platz geräumt werden. Er musste unbedingt eine Schwadron hinunter schicken, die das veranlasste und überwachte.

Er hörte den Stundenschlag von den Feuerwachen, die sich in den hohen Türmen der Stadttore befanden. Es war an der Zeit, die Unterführer und Offiziere zusammenzurufen und die erforderlichen Befehle zu geben. Dann musste er sich mit Kanzler Wilbur besprechen.

Wilbur… Densen schloss den Schrank und dachte an den imperialen Kanzler. Die Herkunft Wilburs war ungeklärt. Es gab Behauptungen, er stamme aus niederem Volk, aber Densen hatte keine Beweise hierfür gefunden. Der Kanzler behauptete, ein Hochgeborener aus Natlan zu sein, doch diese Stadt war von den Walven vernichtet worden. Es hatte nur eine Handvoll Überlebender gegeben.

Densen Jolas rief sich zur Ordnung. Es gab zu viel zu tun, um sich jetzt solchen Gedanken hinzugeben.

In den folgenden Stunden bereitete er die Maßnahmen des kommenden Tages vor und besprach sich mit dem imperialen Kanzler. Als alles vorbereitet war, nahm er sich die Zeit, sich in der Palastküche etwas zu Essen zu besorgen. Er schlang die Nahrung hinunter, ohne wahrzunehmen, was er da eigentlich aß. Seine Gedanken weilten bei Donderem-Vob.

Donderem, dem Gefährten so vieler gemeinsamer Kämpfe. Donderem, dem Kaiser des Imperiums. Donderem, dem Freund.

Densen seufzte. Es war nur recht, sich von dem alten Freund noch persönlich zu Verabschieden, bevor die Zeremonien einsetzten und Trauernde und Neugierige den toten Kaiser umgaben.

Er wusste, dass man den toten Imperator in seinem Amtsraum aufgebahrt hatte. Seufzend setzte er den Helm der imperialen Garde auf und bemerkte, dass er die Feder noch nicht zum Zeichen der Trauer geknickt hatte. Als sei dies ein Symbol dafür, dass er sich mit dem Tod des Imperators nicht abfinden wollte. Seufzend zerbrach er die schwarze Feder und setzte den Helm wieder auf.

Dann, endlich, machte er sich auf den Weg, sich von seinem Imperator und Freund zu verabschieden.

Obwohl es Sommer war und die Sonne erst spät unterging, begann es inzwischen zu dunkeln. Vor dem Amtsraum des Imperators hielten Hermen und ein anderer Gardist die Ehrenwache. Hermen nickte seinem Hauptmann zu und öffnete die Tür.

Inmitten des Amtsraumes, und der in den Boden eingelegten Karte des Imperiums, stand die Bahre mit dem Imperator. Densen hatte keinen Blick für die geschnitzten Einhörner, auf denen der Tote zu ruhen schien. Sein Blick galt Donderem, dessen Gesicht entspannt und friedlich wirkte.

Der tote Imperator war in sein Festgewand gekleidet, mit imperialem Umhang und Schärpe. Densen war überzeugt, dass sein toter Freund lieber die Uniform der Lanzenreiter getragen und das Schwert in der Hand gehalten hätte. Aber die Regentin hatte anders entschieden.

Der Hauptmann trat neben die Bahre des toten Freundes, berührte flüchtig die kalte Hand, die so oft ihr Schwert für das Imperium geschwungen hatte. Nun, als er die Kälte und Leblosigkeit der Haut spürte, konnte Densen sich nicht mehr beherrschen. Erst zögernd, dann ungehemmt, rannen Tränen über seine Wangen. Er hielt die Hand des Toten und vor seinem inneren Auge belebten sich die Bilder der Vergangenheit. Gemeinsame Ritte und Schlachten, die fröhlichen Feiern im Kreis der Freunde und Kampfgefährten, die langen Gespräche um die Zukunft des Imperiums… Die Bilder glitten dahin, und Densen glaubte, die vertraute Stimme Donderems zu hören, die ihm Trost zu spenden versuchte.

Er hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange er die Hand des toten Imperators hielt, bis er sich zögernd von ihm löste und zurücktrat. Tränen trockneten auf seiner Haut, während er Abschied nahm.

Erst fiel es ihm nicht auf. Sein Blick glitt darüber hinweg und Densen wollte sich bereits abwenden, als er verharrte. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt, aber er konnte nicht bestimmen, was es gewesen war. Erneut musterte er den Toten, konzentrierte sich diesmal auf jede Kleinigkeit.

Es war kaum zu bemerken. Aber Densen Jolas hatte den scharfen Blick eines erfahrenen Kämpfers und seine Augen verengten sich, als seine Blicke auf den Füßen des Imperators ruhten. Der Tote trug Riemensandalen und es war normal, dass sich diese Riemen gelegentlich etwas fester in die Haut pressten und Druckstellen verursachten. Aber was Densen nun sah, waren nicht die gewöhnlichen Druckmarken von Riemensandalen. Er wusste nicht, was es war, aber er spürte instinktiv, dass es von Bedeutung sein musste.

Densen Jolas trat dicht an die Füße heran, seine Finger glitten forschend über die Riemensandalen. Da waren Abschürfungen, die es dort nicht hätte geben dürfen. Sie waren kaum zu sehen, aber sie waren da. Der Hauptmann leckte sich nervös über die Lippen. Die Abschürfungen glichen blutigen Striemen, aber es war kein Blut zu erkennen. Solche Striemen hatte Densen schon einmal gesehen. Damals hatte er einen gestürzten Lanzenreiter während des Gefechtes auf sein Einhorn gezogen. Seine Hand hatte sich um das Handgelenk des Mannes gekrallt und ebensolche Striemen verursacht.

Aber diese Striemen lagen nicht um die Handgelenke des toten Kaisers. Sie waren nicht entstanden, als man ihn verzweifelt aus dem Bad gezogen hatte. Diese Wundmale befanden sich an den Fußgelenken und niemand zog einen Ertrinkenden an den Füßen aus dem Wasser.

Vielleicht waren die Wunden entstanden, als man den Toten später aus dem Becken herauszog? Und wenn nicht?

Densen spürte Hitze, die seinen Körper durchflutete. Ein entsetzlicher Verdacht drängte sich ihm auf. So furchtbar, dass er ihn von sich weisen wollte. Niemand konnte ein Interesse daran gehabt haben, den Imperator zu ermorden.

Der Hauptmann dachte an Wilbur. Diesem zwielichtigen Mann würde er es zutrauen. Aber es hieß, die Hochgeborene Vob sei zugegen gewesen, als es geschah. Sollte die Witwe des Kaisers…? Das konnte, das durfte nicht sein.

Densen Jolas stieß einen schweren Seufzer aus. Er war es seinem Freund schuldig, Gewissheit zu erlangen. Aber wie sollte das geschehen? Die Striemen konnten beim Versuch der Rettung des Imperators entstanden sein, doch ebenso bei seiner Ermordung.

Er musste sich eingestehen, dass er zu wenig von solchen Wunden verstand, um ihre Ursache ergründen zu können. Zumal seine Stimme nur wenig Gewicht hätte, wenn sich sein Verdacht bestätigen würde. Er brauchte das Urteil eines Mannes, dessen Kompetenz nicht anzuzweifeln war. Es gab nur einen, der über jeden Zweifel erhaben sein würde. Der Kundige Soren, Leibarzt des Imperators und der Hochgeborenen.

Densens Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, als er, an den beiden Ehrenwachen vorbei, den Raum verließ und sich auf den Weg machte, Soren zu finden.

Soren hatte als Arzt in einem kleinen Dorf begonnen und war schließlich dem Regiment des Kaisers beigetreten. Mit den 7ten Lanzenreitern hatte er vielfältige Erfahrungen in der Wundversorgung gewonnen.

„Es gibt nichts, was die Kenntnis der Heilkunde rascher fördert, als die Wundversorgung im Krieg“, hatte Soren einmal erwähnt und er lag damit sicherlich nicht falsch. Die Kenntnisse der Anatomie lagen in der Öffnung des menschlichen Körpers begründet, und die Not des Krieges hatte viele Ärzte in der Behandlung der verschiedensten Verletzungen erfinderisch gemacht.

Als der Kaiser das Regiment verließ, war Soren mit ihm gegangen. Inzwischen hatte er ein Wissen angesammelt, dass ihm zu dem Ehrentitel „Kundiger“ verhalf. Er lehrte an der Universität Newams und vermittelte seine Kenntnisse anderen Ärzten. Sein fachliches Urteil war über jeden Zweifel erhaben. Wenn jemand die Striemen an den Fußgelenken des Kaisers zu deuten wusste, dann dieser erfahrene Mann.

Der Kundige Soren war in seinen Privatgemächern und blickte von einer alten Schriftrolle auf, als Densen an seiner Tür pochte und eintrat. Das Alter hatte seine Gestalt gebeugt und seine Haare Weiß werden lassen, aber seine Augen und sein Verstand waren scharf geblieben. Der Kundige trug die rote Robe seines Standes als Arzt und hatte zusätzlich eine rote Armbinde angelegt, die sich kaum von der Farbe seines Gewandes abhob.

„Wir haben einen guten Freund und Imperator verloren“, sagte der Kundige leise und sah Densen mitfühlend an. „Wir fühlen denselben Schmerz, mein Freund.“

Densen Jolas nickte und drückte die Tür in den Riegel. „Ein furchtbarer Badeunfall, nicht wahr?“

Soren musterte sein Gegenüber und der Blick des Kundigen wurde nachdenklich. „Ich höre da eine merkwürdige Betonung in deiner Stimme, Hauptmann Jolas.“

Densen räusperte sich nervös. Sein Verdacht war schrecklich und durfte nicht leichtfertig geäußert werden. Aber wenn ein Verbrechen verübt worden war, durfte es nicht ungesühnt bleiben. „Kundiger Soren, kann ich offen sprechen?“

Soren wies auf eine der Liegen. „Wir waren beide bei den 7ten Lanzern, mein Freund. Du hast meinen Hintern vor der Streitaxt eines Walven gerettet und ich habe deinen Hintern genäht, als ein Pfeil ihn durchlöcherte. Eine seltsame Frage, Densen, mein Freund. Natürlich kannst du offen sprechen. Wie anders sollten alte Kampfgefährten miteinander verfahren?“

„Kundiger Soren, ich möchte, dass du den Kaiser noch einmal genau untersucht.“

„Das klingt jetzt sehr offiziell, Densen. Sprichst du als Hauptmann der imperialen Leibgarde oder als Freund zu mir?“

„Als Freund“, versicherte Densen. Er wollte Soren nicht von seinem Verdacht berichten. Er musste jede Beeinflussung des Kundigen vermeiden. Der Arzt musste eigenständig Densens Verdacht bestätigen oder für nichtig erklären.

„Donderem-Vob ist ertrunken, Densen, mein Freund. Daran besteht kein Zweifel.“ Soren setzte sich auf die gegenüberstehende Liege und sah den Hauptmann ernst an. „Glaube mir, in solchen Dingen bin ich ausgesprochen sorgfältig. Vor allem, wenn es dabei um Ihre Imperialität geht.“ Der Kundige schloss nachdenklich die Augen. „Als ich eintraf, war der Kaiser bereits tot. Das Herz hatte längst aufgehört zu schlagen. Er ist unzweifelhaft ertrunken, denn als ich ihn auf den Bauch drehte, floss Wasser des Beckens aus ihm hervor.“ Er öffnete die Augen. „Es gibt keinerlei Anzeichen, dass der Kaiser eines nicht natürlichen Todes gestorben ist.“ Soren runzelte die Stirn. „Du zweifelst, Densen, mein Freund?“

„Ich… ich wäre einfach beruhigt, wenn du dir den Kaiser nochmals ansiehst, Kundiger Soren.“

„Hm.“ Soren biss sich auf die Unterlippe. „Sicherlich soll ich ihn mir sehr gründlich ansehen, nicht wahr?“ Densen schwieg und Soren seufzte leise. „Ein sehr ungewöhnlicher Wunsch, mein Freund. Zumal der Imperator bereits für die Feierlichkeit vorbereitet ist.“

Densen nickte. Sein Verdacht wurde nun zusätzlich genährt. „Er wurde sehr rasch vorbereitet.“

„Ja, die, äh, Eile, ist ein wenig… ungewöhnlich“, räumte der Kundige ein.

Sie schwiegen und sahen sich an. Schließlich seufzte Soren erneut. „Nun gut, da du es bist, der mich darum bittet, werde ich deinen Wunsch erfüllen.“

„Du kannst den Wachen sagen, dass du dich vergewissern willst, dass alles für die Trauerfeier vorbereitet ist.“

Soren nickte. „Ich verstehe. Du hast da sehr düstere Gedanken, mein Freund. Willst du sie mir nicht mitteilen?“

Densen schüttelte den Kopf. „Es ist besser, wenn ich dich nicht beeinflusse, Soren.“

Der Kundige gab sich einen Ruck. „Na schön, dann will ich keine Zeit verlieren. Ich werde unseren toten Freund sofort untersuchen. Willst du mich begleiten?“

„Es ist besser, wenn man uns dabei nicht zusammen sieht.“

Soren biss sich auf die Unterlippe. „Deine Gedanken gefallen mir immer weniger. Gut, ich werde dir Nachricht geben, sobald ich fertig bin.“

Sie trennten sich und Densen Jolas schritt nachdenklich zu seinen Räumen zurück. Hoffentlich bestätigte sich sein Verdacht nicht. Denn wenn er recht hatte, dann stand das Imperium am Rand eines furchtbaren Abgrundes.

Die Ei-Geborenen

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