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Kapitel 2

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Layla vermisste Mark. Es schien ihr fast körperliche Schmerzen zu bereiten, ihn so weit von sich entfernt zu wissen. Es schien sich regelrecht in ihr Gehirn eingebrannt zu haben, dass sie ihn wohl auch die nächsten Tage, oder sogar Wochen nicht würde sehen können. Dabei waren sie mitten in den Vorbereitungen für ihre bevorstehende Hochzeit. Diese hatten sie jedoch verschieben müssen.

Mark hatte einen Einsatz. Er war von Igor Dorojewski seinem Chef nach Floreanapolis in Brasilen gerufen worden. Mein Gott, wie sie es hasste, wenn Mark für das Convento Santo José unterwegs war. Das Convento war eine geheime Organisation, die immer dann zum Einsatz kam, wenn der Verdacht aufkam, dass irgendwo auf der Welt übernatürliche Kräfte am Werk sein konnten. Oftmals waren dies natürlich falsche Alarme, aber wenn es dann wirklich zu einer Konfrontation mit diesen mächtigen Kräften kam, dann wurde es sehr schnell sehr gefährlich. Gut, Mark war ein erfahrener Kämpfer, aber leider eben nicht sehr vorsichtig, wenn er in vorderster Front im Einsatz war.

Auch Layla kam oft zum Einsatz. Sie war, wie es Igor Dorojewski oft betonte, seine wirkungsvollste Waffe. Layla war ein Werwolf. Ein weißer Werwolf. Dies bedeutet, dass sie sich nicht, wie die normalen Werwölfe spätestens jede dritte Nacht in eine mordende Bestie verwandelte, sondern sie kämpfte auf der Seite der Guten eben gegen diese unheimlichen Kräfte, die das Convento bekämpfte und war dabei sehr viel wirkungsvoller, als jeder menschliche Kämpfer, inklusive Mark. Deshalb war Layla auch anfangs sehr ungehalten gewesen, als Mark alleine zu diesem Einsatz geschickt wurde, aber Igor hatte ihr erklärt, dass es sich hier noch nicht um einen offiziellen Einsatz handelte, sondern vielmehr um eine Recherche, die Mark durchzuführen hatte. Noch war keine übernatürliche Kraft erkennbar geworden. Es war ein Mann unter dubiosen Umständen verschwunden, der später zwar wieder auftaucht war, dabei aber eine allumfassende Änderung seiner Persönlichkeit zeigte. Fast wie nach einer Gehirnwäsche. Und da kannte sich Mark als ehemaliger Elitesoldat einfach besser aus. Das musste auch Layla letztendlich akzeptieren.

Sie hatte sich auch fast schon damit abgefunden, wenn da nur nicht dieser furchtbare Alptraum gewesen wäre, der sie letzte Nacht fast in den Wahnsinn getrieben hatte.

*

Layla versucht Mark zu finden. Sie rennt in ihrer Werwolf Gestalt über eine Steinwüste, die aussah, wie eine riesige Mondlandschaft. Dabei hatte sie keinen Anhaltspunkt, in welche Richtung sie denn laufen sollte. Nicht einmal ihre feinen Sinne wittern die kleinste Spur. Panik kommt in Layla auf. Sie weiß, dass Mark in Gefahr ist. In tödlicher Gefahr. Plötzlich sieht sie einen Berg. Es ist ein Vulkan. Ein aktiver Vulkan, wie die Rauchsäule über dem Gipfel eindrucksvoll beweist. Der Vulkan steht offenbar kurz vor dem Ausbruch. In diesem Moment sieht Layla Mark. Er ist direkt auf dem Gipfel des Vulkans mit dicken Schnüren an einen großen Felsen gefesselt, ohne irgendeine Chance, diese Fesseln zu lösen und der tödlichen Gefahr zu entkommen. Layla knurrt und rennt los. Die Mondlandschaft fliegt nur so an ihr vorbei. Dennoch hat sie das Gefühl, dass sie dem Vulkan nicht näher kommt. Es scheint ihr sogar fast so, als würde sich der Berg weiter von ihr entfernen. Mark versucht verzweifelt, die Fesseln zu lösen. Die Eruption steht wohl unmittelbar bevor, denn die Raumwolken werden größer und bewegen sich mit unvorstellbarer Gewalt auf Mark zu. Plötzlich sieht Layla am Himmel zwei große Augen, die das Geschehen zu beobachten scheinen. Es sind große, eindrucksvolle Augen. Die Augen strahlen jedoch keine Wärme aus. Ganz im Gegenteil scheinen sie alle Wärme der Umgebung zu entziehen. Die Augen fixieren Layla. Im selben Moment hat Layla das Gefühl, dass sie alle Kraft verlässt. Sie kam nicht weiterlaufen. Ihr Herz schlägt wie wild. Trotzdem stemmt sich Layla dagegen an und läuft weiter. Aber sie ist zu spät. Der Vulkan bricht aus und die heiße Wolke des pyroklastischen Stroms umschließt Mark. Das letzte, das Layla sieht ist die rechte Hand von Mark, die dieser wohl im letzten Moment hatte befreien können. Dann sieht sie nichts mehr. Ein starker Erdstoß reißt Layla von den Beinen. Schnell kommt die Rauchwolke auch auf sie zu. Layla versucht wieder auf die Beine zu kommen, um nun selbst zu fliehen, aber gegen die Wolke, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit auf sie zufliegt, hat auch sie keine Chance.

*

Jetzt kam also auch noch die Angst dazu. Aus eigener, bitterer Erfahrungen wusste Layla, dass Träume nicht immer nur Schäume waren. Auf ihrer Reise nach Mexiko, kurz bevor sie in einen Werwolf verwandelt worden war, da hatte sie ebenfalls ein Alptraum gequält, der sich dann als sehr real herausgestellt hatte.

Layla spürte eine Hand auf ihrer Schulter und drehte sich um. Ana Maria, ihre Halbschwester stand vor ihr und sah sie mit ihren Blick an, mit dem sie Laylas Seele auslesen konnte. Ihre Halbschwester und sie waren durch ein besonders Band miteinander verbunden. Nicht nur, dass die eine immer genau wusste, was die andere fühlte, konnten sie darüber hinaus auch über weite Distanzen telepathisch miteinander kommunizieren.

Auf den ersten Blick sah man den beiden gar nicht an, dass sie Schwestern waren. Während Layla mit blonden Haaren und tiefblauen Augen einen eher mitteleuropäischen Einschlag hatte, war Ana Maria die typisch südländische Schönheit. Sie hatte mittelbraunes Haar in einem herrlich gelbbraunen Farbton. Ihre Hautfarbe war etwas heller, als bei einem Südländer, jedoch nicht so hell, wie bei Layla. Was Ana Maria aber unverwechselbar machte waren ihre Augen. Layla hatte noch nie jemanden gesehen, der solche Augen hatte. Es waren große ausdrucksstarke Augen, die eine Güte ausstrahlte, die Layla noch niemals bei einem Menschen gesehen hatte. Einzigartig war auch der Farbton. Es war ein tiefes Smaragdgrün. Ana Maria wurde deshalb auch oft gefragt, ob sie Kontaktlinsen trug.

Beide Frauen waren sehr klein. Layla war nur 1,60 Meter groß, überragte aber trotzdem Ana Maria um fast 10 Zentimeter.

„Layla, es geht ihm gut. Wäre es nicht so, hätte sich Igor schon sicher gemeldet!“

„Ja, sage dies aber einmal meinem Unterbewusstsein. Das wird das nie akzeptieren!“

Das Problem war, dass Layla nicht einmal so einfach bei Mark anrufen konnte. Im Einsatz hatte er niemals ein Handy dabei, das ihn verraten konnte. Und Igor Dorojewski war als Leiter des Convento ein viel beschäftigter Mann. Was, wenn er einfach noch keine Zeit gefunden hatte, Layla anzurufen? Trotzig stampfte Layla mit dem Fuß auf und sagte mit kratziger, sorgenvoller Stimme:

„Ich rufe Igor an!“

Layla drehte sich um und ging in Richtung Telefon, das genau in diesem Moment zu klingeln begann. Das erste Klingeln war noch nicht verklungen, als Layla auch schon abhob. Sie konnte auf dem Display erkennen, dass sie in diesem Moment tatsächlich Igor Dorojewski anrief. Das Herz wollte ihr stehen bleiben. Ihr Unterbewusstsein zeigte ihr, wie die schlimmsten Befürchtungen wahr wurden. Deshalb sagte sie mit kratziger, sorgenvoller Stimme:

„Igor, was gibt’s!“

„Mann, Layla, an Deine Schnelligkeit gewöhne ich mich wohl nie. Es gibt schlechte Nachrichten. Mark ist verschwunden. Wir konnten ihn schon seit Stunden nicht mehr orten!“

Also doch! Sie hatte es gewusst. Ihr Traum hatte sich schon wieder als wahr herausgestellt. Layla spürte mit jeder Faser ihres Körpers, dass Mark in großen Problemen war und dass er ihre Hilfe benötigte. Sie atmete tief durch um sich zu beruhigen, dann sagte sie:

„Ich fliege nach Brasilien!“

„Genau darum wollte ich Dich bitten. Weißt Du in welcher Angelegenheit Mark in Brasilien war?“

„Ja, so in etwa. Es geht um Entführung, Gehirnwäsche und Persönlichkeitswechsel bei einem Mann! Hast Du genauere Informationen!“

„Leider nein. Mark konnte bei seinem letzten Telefonat nicht genauer ins Detail gehen. Ich weiß nur, dass er in Floreanapolis an irgendetwas dran war!“

„Dann fliege ich nach Floreanapolis!“

„Layla, ich würde vorschlagen, Du siehst Dich erst in Sao Paulo um. Mark hat dort drei Tage lang recherchiert, bevor er nach Floreanapolis geflogen ist. Wir haben dort einen Kontaktmann, der Dir helfen kann! Er hat auch Mark unterstützt und weiß sicher mehr“

„Gut, mach ich. Ich informiere nur kurz Peter!“

„Das brauchst Du nicht. Mit Peter ist schon alles ausgemacht. Als offiziellen Auftrag schreibst Du die Geschichte über diesen Mann mit dem Persönlichkeitswechsel für die Basler Woche!“

„Wann geht mein Flug!“

„Schaffst Du es, in drei Stunden am Flughafen in Zürich zu sein!“

„Ich bin schon dort!“

„Am SWISS Schalter ist ein Ticket für Dich hinterlegt. Du fliegst direkt von Zürich nach Sao Paulo. Ein Anschlussflug mit offenem Datum nach Floreanapolis liegt auch dabei!“

„Business Klasse?“

„Und von was träumst Du in der Nacht? Ein abgebrochener Riese, wie Du hat in der Economie Klasse genug Platz!“

Ohne weitere Worte legte Igor auf. Er war schon ein Wunder der Effektivität und des Zeitmanagements. Dass er dabei auch oft sehr hart und unfreundlich wirkte, störte ihn nicht weiter. Der Satz „Zeit ist Geld“ hätte von ihm selbst stammen können. Aber letztendlich war er ein herzensguter Mensch, der voll und ganz hinter seine Agenten stand und ihnen half, wo er nur konnte. Unter seiner Führung war das Convento Santo José zu der effizienten internationalen Spezialeinheit geworden, die sie jetzt war. Eigentlich war das Convento direkt der katholischen Kirche angegliedert und somit der Papst der oberste Boss, aber eigentlich konnte Igor Schalten und Walten wie er wollte. Seit Jahre rekrutierte er Menschen wie Layla und Mark, die irgendwie in den Kampf mit den bösen Mächten hineingezogen worden waren und sich dabei bewährt hatten, wobei „bewähren“ oftmals einfach bedeutete: Sie hatten überlebt. In Laylas, Ana Marias und Marks Fall war dies der Kampf gegen eine Organisation von Werwölfen gewesen, die unter der Führung von Sergio Alcazar in Mexiko ihr Unwesen getrieben hatte. Dabei war Layla dann selbst in einen Werwolf verwandelt worden.

Layla lächelte, aber dieses Lächeln geht nicht auf ihre Augen über. Sie wirkte wild entschlossen. Sie würde alles tun, um Mark dort zur Seite zu stehen. Sie drehte sich um und wollte zum Schlafzimmer gehen.

Ana Maria wusste offensichtlich schon Bescheid, denn sie hatte den Koffer, der immer gepackt vor Laylas Schrank stand schon in der Hand. Auch Iztel und Balam ihre beiden Adoptivkinder und ebenfalls Opfer von Sergio Alcazar, der ihre Familie ausgelöscht hatte, sowie „Moctezuma“, ihr Golden Retriever schienen etwas gespürt zu haben, denn sie kamen genau in diesem Moment neugierig aus ihren Zimmern. Die vier waren es gewohnt, dass sowohl Mark, als auch Layla öfters einmal überstürzt auf eine Reise gehen mussten. Iztel umarmte Layla und küsste sie auf die Stirn. Layla spürte die Liebe, die sie für dieses unglaubliche Mädchen empfand und umarmte sie stürmisch. Nur Balam tat wieder ganz cool. Nur seine Augen sprachen eine ganz andere Sprache. Layla hatte einen großen Kloß im Hals, obwohl sie wusste, dass sie die beiden Kinder bei Ana Maria und Peter in guten Händen hinterließ. Apropos Peter. Den musste sie natürlich noch anrufen. Immerhin war er ihr Chef. Offiziell arbeitete Layla bei der Basler Woche, einem wöchentlich erscheinendem lokalem Magazin. Im Moment hatte sie keine heiße Reportage, sodass sie es sich durchaus erlauben konnte, nach Brasilien zu gehen und da die Kosten für diese Reise eh vom Convento übernommen wurden, war es schon zweimal kein Problem, aber Peter wollte einfach darüber Bescheid wissen, wo Layla war, nicht nur als ihr Chef, sondern auch, als ihr väterlicher Freund. In wenigen Wochen würde er sogar ihr Schwager sein. Ja, Peter hatte es endgültig doch erwischt. Er, der ewige Junggeselle hatte sich Hals über Kopf in Ana Maria verliebt und hatte ihr letzter Woche einen Heiratsantrag gemacht, den diese natürlich freudestrahlend angenommen hatte.

Nach dem zweiten Klingeln nahm Peter den Hörer ab. Er schien immer noch auf Wolke sieben zu schweben, denn er machte gar keine Anstalten, Layla ins Gewissen zu reden, sondern beließ es lediglich bei einem „Pass auf Dich auf“ bevor er ihr eine gute Reise wünschte.

*

Nur Minuten später war Layla auf dem Gehweg vor dem Haus indem sie wohnte. Ana Maria und Iztel winkten ihr vom Fenster aus zu. Das tapfere Mädchen hatte Tränen in den Augen. Sie wusste natürlich, dass wenn Layla so überstürzt aufbrach, es sehr gefährlich werden könnte. Ana Maria sprach beruhigend auf sie ein.

Das Taxi stand schon am Bordstein und wartete auf sie. Der Taxifahrer war ein junger Italiener, der sie erst eingängig von oben bis unten begutachtete, bevor er ihr mit einem breiten Grinsen, den Koffer abnehmen wollte.

„Na, Du wirst Dich wundern“, dachte Layla und übergab ihm den Koffer. Das dieser wesentlich schwerer war, als er aussah, das verschwieg sie ihm natürlich und amüsierte sich diebisch über sein verdutztes Gesicht, als er sich mit dem Koffer abmühen musste, den diese halbe Portion, die Layla bei knapp 45 kg Lebendgewicht nun einmal war, so mühelos hatte hochheben können. Der Taxifahrer sah in das belustigte Gesicht und gab augenblicklich alle Flirtversuche auf. Er fuhr sogar den kürzesten Weg zum Bahnhof SBB. Offensichtlich wollte er Layla so schnell, als möglich wieder loswerden. Als ihm Layla zum Abschied fast fünf Schweizerfranken Trinkgeld gab, hellte sich sein Gesicht dann jedoch auch schnell wieder auf, aber bevor er wieder mit dem Balztanz beginnen konnte, schnappte sich Layla ihren Koffer und entschwand.

Sie hatte Glück. Nicht einmal zehn Minuten später fuhr ein Schnellzug direkt zum Flughafen in Zürich. Layla kaufte eine Karte. Natürlich erster Klasse. So einfach wollte sie es Igor natürlich nicht machen. Dann ging sie an den Bahnsteig, wo der Zug schon wartete. Um diese Uhrzeit war der Zug natürlich sehr voll. Nur in der ersten Klasse waren noch genug Sitzplätze vorhanden.

„Gut“, dachte Layla, „dann habe ich schon einen Grund für das 1.Klasse Ticket!“

Layla stellte ihnen Koffer auf den dafür vorgesehenen Platz und setzte sich direkt ans Fenster. Der Zug müsste jeden Moment losfahren. Durch das Fenster konnte sie eine Frau mittleren Alters sehen. Die traditionelle Kleidung verriet ihr, dass es sich wohl um eine Zigeunerin handeln musste. Die Frau starrte Layla geradezu an. Aber bevor Layla den Blick erwidern konnte, drehte sich die Frau um und stieg ein. Layla schloss die Augen um etwas zu dösen, als sie eine wohltuende Stimme hörte, die sie mit starkem südländischen Akzent fragte, ob der Platz neben ihr noch frei sei. Es war die Zigeunerin! Layla machte eine einladende Handbewegung, woraufhin sich die Frau sofort hinsetzte. Eine dichte Wolke von einem angenehm riechenden Parfüm hüllte die Frau ein und das Lächeln machte die Frau auf Anhieb sympathisch. Pechschwarze, gelockte Haare fielen auf ein ebenmäßiges, schön geschnittenes Gesicht. An den Ohren hingen überlange Ohrringe, die bei jeder Bewegung einen klingenden Laut von sich gaben. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt: Kleidung, Accessoires, Aufmachung, ja sogar die Bewegungen. Amüsiert lächelte Layla. Trotzdem hatte sie keine Lust auf eine Unterhaltung und möchte die Augen wieder schließen, als die Frau ihr vorschlug:

„Soll ich Dir aus der Hand lesen, mein Kind?“

Aha, da wehte der Wind also her! „Na, dann wollen wir doch mal sehen, was die Frau zu berichten hat“ dachte sich Layla amüsiert. Trotz ihres eigenen zum Teil übernatürlichen Wesens, fiel es Layla immer noch schwer, Dinge, wie Wahrsagen oder Kartenlesen zu akzeptieren. Es gab da einfach zu viele schwarze Schafe, die sich nur mit dem Aberglauben der Leute eine goldene Nase verdienen wollten. Trotzdem hob sie der Zigeunerin die Hand entgegen, die diese auch gleich ergriff und konzentriert studierte. Was Layla auffiel war, dass überhaupt nichts Effekthaschendes an dieser Geste war. Es wirkte sehr natürlich. Die Frau sah Layla immer wieder in die Augen, fast so, als ob sie sich vergewissern wollte, ob dies, was sie in der Hand lass, tatsächlich wahr sein konnte.

Nach ungefähr einer Minute ließ sie die Hand los und sagte:

„Du bist sehr machtvoll. Ich habe noch niemals solch eine starke Aura, wie bei Dir gespürt!“

Layla lächelte. Diese Aussage hatte sie nicht erwartet, obwohl sie auch dieser Bemerkung noch nicht viel abgewinnen konnte, doch mit dem nächsten Satz gewann die Zigeunerin dann doch ihre volle Konzentration, als sie sagte:

„Der Kraft, der Du aber jetzt entgegen treten willst, die ist selbst für Dich zu stark!“

„So, wem trete ich denn entgegen!“

„Der Seelenräuberin, einer der mächtigsten Dämonen überhaupt!“

„Und woher willst Du dies wissen?“

„Letzte Nacht hatte ich einen Traum. Ich träumte von Dir und wusste, dass ich Dich warnen muss.“

„Was für ein Zufall, dass Du ausgerechnet von mir träumst“

„Gerade Du solltest die Macht des Übernatürlichen nicht anzweifeln! Es gibt Kräfte und Gegenkräfte. Das Wirken der Seelenräuberin hat eine riesige Welle ausgelöst!“

Skeptisch sah Layla die Zigeunerin an. Wusste sie wirklich etwas, oder ging sie gerade einer sehr geschickten Betrügerin auf den Leim? Layla beschloss, dass sie einen Versuch wagen würde, ohne dass sie sich aber zu viel Hoffnung darin sehen wollte. Deshalb sagte sie:

„Dann weißt Du sicher, dass Mark Bishop, mein Verlobter verschwunden ist. Ich werde ihn suchen!“

„Er ist verloren. Er ist in den Händen der Seelenräuberin!“

„Dann werde ich ihn dort auch rausholen. Diese Seelenräuberin wird mich kennen lernen!“

„Sei bitte nicht zu eingebildet und selbstverliebt, mein Kind. Der Seelenräuberin hast selbst Du nichts entgegenzusetzen!“

„Und Du, unterschätze Du mich bitte auch nicht!“

„Das würde ich niemals tun, mein Kind. Ich weiß, was Du geleistet hast und weiß auch, zu was Du fähig bist, aber die Seelenräuberin, die ist eine ganz andere Dimension von Kraft. Da kann Dir auch Dein wertvolles Amulett nicht helfen!“

Layla sah die Frau konsterniert an. Woher wusste sie von ihrem wertvollen Amulett, dass ihr bei ihrem Abenteuer in Mexiko mehrfach das Leben gerettet hatte? Sie hatte es von ihrer heiß geliebten Abuelita, also ihrer Großmutter geerbt. Schon seit Generationen war es im Besitz ihrer Familie. Immer bei den weiblichen Angehörigen. Es schien direkt von Juan Diego abzustammen, dem die Virgen von Guadalupe, also die Jungfrau Maria im Jahre 1531 erschienen war. Dieses Amulett schien von der Virgen de Guadalupe selbst geweiht worden zu sein und erleuchtete beim Vorhandensein von widernatürlichen Phänomenen in einem intensiven blauen Licht. Eine Berührung mit dem Amulett war für die Wesen der schwarzen Magie absolut tödlich. Layla vertraute diesem Amulett ihr Leben an.

„Wollen sie etwa, dass ich so einfach aufgebe und meinen Verlobten, den ich sehr liebe, im Stich lasse?“

„Er ist so oder so verloren, aber Du, Du …!“

Fast wütend unterbrach Layla die Zigeunerin.

„Sie scheinen mich doch nicht so gut zu kennen, wie sie vorgeben, gute Frau. Ich würde niemals auch nur daran denken, Mark zurückzulassen, wenn er in Gefahr ist! Ich weiß nicht, welche Kraft Sie dazu getrieben hat, nach mir zu suchen, aber wenn sie Ihnen nur diese nutzlosen Ratschläge für mich weitergibt, dann lassen Sie mich bitte in Ruhe!“

Überraschenderweise war die Zigeunerin gar nicht böse, sondern begann zu lachen. Es war fast Zärtlichkeit in ihrem Blick, als sie sagte:

„Lass es Dir trotzdem eine Warnung sein, Layla. Ich wache über Dich. Halte nach meinen Zeichen Ausschau!“

Dann stand die Frau auf, gab Layla einen Kuss auf die Stirn und ging weg. Der Zug fuhr in einen Bahnhof ein und überrascht stellte Layla fest, dass es die Haltestelle des Flughafens in Zürich war. Sie hatte sich mit der Frau über eine Stunde lang unterhalten. Ihr war es, wie fünf Minuten vorgekommen. Verwundert sah sich Layla um, in der Hoffnung, die Zigeunerin nochmals erblicken zu können. Aber die war wie vom Erdboden verschluckt. Dann musste sie sich aber sputen, sonst fuhr der Zug noch weiter. Layla sprang auf und eilte zu ihrem Koffer. Vor der Türe standen sehr viele Leute, die offenbar auch in den Flughafen wollen. Fast alle hatten mindestens einen großen Koffer, sodass es an der Türe zu einer chaotischen Hektik kam. Layla war die letzte, die den Zug verließ, bevor sich die Türen mit einem lauten Knall verschlossen und der Zug seinen Weg in Richtung Hauptbahnhof Zürich wieder aufnahm. Layla sah sich um, konnte aber kein Schild erkennen, dass ihr die Richtung angab, wo sie hingehen sollte, also beschloss sie, einfach der Herde von Menschen hinterher zu gehen.

Die Seelenräuberin

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