Читать книгу Die Seelenräuberin - Michael Hamberger - Страница 9
Kapitel 6
ОглавлениеDiesmal hatte Layla mit dem Kaffee Pech gehabt. Naja, vom Flughafen hatte sie gar nichts anderes erwartet. Auch Naomi verzog das Gesicht, während Hans den Kaffee genüsslich herunterschlürfte. Ihr Flug nach Floreanapolis ging in zwei Stunden. Zeit für Layla ihre Energiereserven wieder aufzutanken, obwohl sie erst vor zwei Stunden gefrühstückt hatte.
Gestern war leider kein Platz mehr im letzten Flug nach Floreanapolis zu bekommen gewesen, was Layla ziemlich geärgert hatte. Das war für sie ein ganzer verlorener Tag. Sie wollte unbedingt Mark zur Seite springen. Und dann waren sie bei diesem frühen Flug auch nur auf die Warteliste gekommen. Dies hieß, sie mussten hier am Flughafen warten, bis hoffentlich ein Platz in der Maschine frei würde.
Layla lehnte sich zurück und ließ den gestrigen Abend noch mal vor ihren Augen Revue passieren.
*
Hans war zuerst überhaupt nicht davon angetan gewesen, Naomi mitzunehmen. Offenbar hielt er Naomi nur für ein verweichlichtes, verwöhntes Töchterchen und hatte wahrscheinlich Angst, sie könnte ihnen zur Last fallen.
Als dann feststand, dass sie keinen Flug mehr bekommen würden, nicht einmal mit Hans Beziehungen, hatte Layla erst mal wenig damenhaft geflucht. Aber Naomi hatte nur herzhaft darüber gelacht. Sie schien wirklich in Ordnung zu sein und kein bisschen arrogant. Vor allen Dingen glaubte Layla nicht, dass sie nur ein verweichlichtes kleines Mädchen war. Diese junge Frau stand ihren Mann, soviel war klar.
Naomi hatte zwar angeboten, das Privatflugzeug ihres Vaters zur Verfügung zu stellen, aber dies schien Layla zu riskant. Die Seelenräuberin würde dieses sicher sehr genau überwachen. Es war einfach zu gefährlich. Sie mussten so anonym wie möglich bleiben. Dann sollte doch Layla bitte wenigstens einwilligen und die Nacht hier im Haus verbringen, hatte Naomi erwidert. Layla die plötzlich eine bleierne Müdigkeit in den Gliedern gespürt hatte, hatte diesen Vorschlag nur zu gerne angenommen. Jetzt noch ein Hotel suchen müssen, war ihr doch zu viel gewesen. Auch Hans wurde eingeladen hier zu schlafen, er hatte aber mit den Worten abgelehnt, dass er weder Zahnbürste noch Rasierapparat, noch irgendwas anderes dabei hatte.
„O.K. dann lasst uns shoppen“, hatte Naomi fröhlich geantwortet. Auch Layla hatte dies für einen guten Vorschlag gehalten, denn sie hatte mittlerweile in nicht einmal einem Tag zwei Garnituren von Kleidungsstücken durch die Verteidigung bei den Angriffen der Seelenräuberin verloren. Sie brauchte dringend etwas zum anziehen. Anders als viele andere Frauen, hatte sie es sich zur Angewohnheit gemacht, wirklich nur das Nötigste auf ihre Reisen mitzunehmen. Das half oft, weil sie nicht so viel schleppen musste, was nicht einmal für sie als Werwolf sehr angenehm wäre, konnte sich aber auch rächen, wie eben jetzt, wo sie eigentlich nur noch eine Kombination an Kleidungstücken zur Verfügung hatte.
Seither war Naomi nur am Lachen gewesen. Sie hatte wirklich ein sehr offenes, fröhliches, lebensbejahendes Wesen. Man musste sie einfach mögen. Layla auf jeden Fall mochte die junge Frau immer mehr.
Auch Hans hatte seine Panik überwunden. Die Wunden, die ihm die Papageien geschlagen hatten, bluteten schon nicht mehr. Schlimm war für ihn jedoch trotzdem der Weg vom Haus zum Auto gewesen, denn er im gestreckten Sprint überwunden hatte, immer mit Blick auf die Aras, die jedoch keinen Flügel gekrümmt hatten, um sie wieder anzugreifen. Als Layla und Naomi beim Auto angekommen waren, hatte er den Motor schon gestartet gehabt und kaum hatten die beiden jungen Frauen auf ihren Sitzen gesessen, da war er auch schon mit durchdrehenden Reifen davongebraust.
Naomi hatte sie dann auch reichlich verwöhnt. Nicht nur, dass sie in den besten Boutiquen von Sao Paulo unbegrenzten Kredit hatte und darauf bestand, alles zu bezahlen, nein, sie führte sie auch ins beste Restaurant von Sao Paulo zu einem frühen Abendessen aus, wo sie sich köstlich übers Laylas unstillbaren Hunger amüsiert hatte. Selbst Hans war langsam wieder aufgetaut und lachte sogar ab und zu einmal. Das Thema Seelenräuberin war für diesen Abend tabu gewesen.
Nach dem Essen waren dann alle drei erschöpft ins Bett gefallen, wobei Layla sich vorgenommen hatte, ihre Sinne auf Alarmbereitschaft zu lassen. Aber dann war sie doch erschöpft eingeschlafen, bis sie am frühen Morgen von Naomi geweckt worden war. Auch ihre anfängliche Angst vor einem weiteren Alptraum war zum Glück nicht eingetreten.
*
Diese Ruhepause hatte wirklich gut getan, dachte sich Layla. Seit dem Angriff der Laras hatte sie keine weiteren Lebewesen gespürt, die unter der Kontrolle der Seelenräuberin waren. Gut, sie war sich sicher, dass sie auch weiterhin überwacht wurden, aber im Moment sah nichts nach einem weiteren Angriff aus. Trotzdem behielt Layla ihre Umgebung natürlich sehr genau im Auge. Zum Glück war der nationale Congonhas Flughafen sehr viel kleiner und überschaubarer, als der große, sehr stark frequentierte Guarulhos International Airport von Sao Paulo.
An den Blicken der Männer konnte Layla erkennen, dass Naomi die Sensation unter den Männern war. Das war Layla nur Recht. So konnte sie sich unbemerkt umsehen. Aber diesmal war nichts, rein gar nichts zu bemerken. Aber selbst dies machte Layla nicht ganz glücklich. Was bedeutete dies? Das sie nicht mehr überwacht werden mussten? Wenn ja, warum dies? Weil einer der beiden unter der Kontrolle stand? Ach was, schimpfte sich Layla aus. Jetzt bilde mal keine ausgewachsene Paranoia aus. Vorsichtig und misstrauisch sein ist ja ganz in Ordnung, aber hinter jedem Busch ein Feind zu sehen und eine Verschwörung zu spüren mit Sicherheit nicht. Leider wollte es Layla trotzdem überhaupt nicht gelingen, ihr Unterbewusstsein zu beruhigen. Langsam spürte Layla wieder die Anspannung. Sie war sich sicher, dass ein weiterer Angriff der Seelenräuberin nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.
Naomi schien dies zu spüren. Sie sah Layla lange mit ihren unglaublichen Augen an und fragte:
„Sag mal, Layla, was ich Dich schon gestern fragen wollte: Wie kommt es, dass so eine kleine Person, wie Du, solch eine Kraft entwickeln kann?“
„Wie meinst Du das?“
„Nicht dass ich Dir nahe treten möchte, Layla, aber als Du bei uns in der Villa ankamst und ihr von den Vögeln angegriffen wurdet, da warst Du schneller als ich schauen konnte und wie Du den Hans gepackt hast und fast fünf Meter weit zu mir ins Haus geschmissen hast, dass war fast schon surreal.“
„Weißt Du, ich mache seit vielen Jahren Karate. Da habe ich gelernt, wie man Männer einen Tiefflug verpassen kann!“
Naomi lachte fröhlich, dann schüttelt sie den Kopf und antwortet.
„Layla, ich mache auch seit Jahren Jiu Jitsu, aber dies habe ich noch nicht gelernt. Das musst Du mir unbedingt zeigen!“
Hans schüttelte hektisch den Kopf.
„Aber nicht mit mir. Mir ist jetzt noch schwindlig. Mann Layla, da brauchst Du einen Waffenschein dafür!“
Also hatte Layla gestern mit ihrer Vermutung Recht gehabt, dass Naomi Kampfsport betrieb. Es gefiel aber Layla gar nicht, dass dieses Thema aufgegriffen worden war. Wenn die beiden wirklich nachbohrten, dann würde Layla sehr schnell in Erklärungsnöte kommen. Deshalb wechselte sie schnell das Thema:
„Naomi, ich hatte hier in Brasilien schon öfters Begegnungen mit Leuten, die ganz offensichtlich fremd gesteuert wurde, als ob sie nicht die Kontrolle über ihren eigenen Körper habe, sondern jemand anderer. Diese Leute sah man an den verschiedensten Plätzen. Ich bin sicher, dass die Seelenräuberin damit zu tun hat. Was weißt Du darüber?“
„Wie gesagt, ich weiß nicht viel und möchte dich nicht mit Halbwahrheiten und Gerüchten auf die falsche Fährte bringen. Was ich sicher weiß, ist, dass die Seelenräuberin praktisch jedes Wesen kontrollieren kann. Aber wie das funktioniert, dass weiß ich nicht. Bitte habe Geduld, bis wir in Floreanapolis sind.“
„Wie war das bei Deinem Onkel. Wie kam er unter die Kontrolle der Seelenräuberin?“
„Mein Onkel war schon immer sehr anfällig für okkulte Dinge. Noch sehr viel mehr, als mein Vater. Aber im Gegensatz zu meinem Vater, verzeihe bitte die brutale Aussprache, war mein Onkel ein Schlappschwanz und Tunichtgut.“
„Moment einmal, Naomi, Du hast „war“ gesagt. Ist Dein Onkel denn tot?“
„Ja, das ist er. Wie bei allem, was er in seinem Leben tat, ist er auch gestorben. Er hat sich einfach hingesetzt, hat geflennt wie ein Waschweib und ist gestorben!“
„Du konntest Deinen Onkel offenbar nicht sehr leiden!“
„Ich habe ihn gehasst. Er lebte schon immer in unserem Haus. Als meine Mutter vor drei Jahren gestorben ist, war er für eine Zeit lang meine einzige Bezugsperson. Mein Vater hat versucht, den Schmerz über den Verlust mit noch mehr Arbeit auszugleichen. Er war praktisch nicht mehr zu Hause. Mein Onkel aber wohl. Erst tat es gut, mit jemanden sprechen zu können und ich merkte deshalb viel zu spät, dass er mir gar nicht zuhörte und für ihn die Umarmungen auch kein Trost waren!“
„Hat er Dich missbraucht?“
„Nein, aber beinahe. Er scharwenzelte fast permanent um mich herum. Er hatte die blöde Angewohnheit in mein Zimmer einzutreten, ohne zu klopfen. Und dabei hauptsächlich genau dann, wenn ich mich umziehen wollte, oder wenn ich duschen wollte. Eines Tages hat er es dann geschafft. Ich war gerade splitterfasernackt, als er hereinkam. Sein Blick sagte mir dann alles. Aber anstatt schamerfüllt wieder herauszugehen, kam er zu mir und wollte mich umarmen. Seine Prachtlatte war dabei unverkennbar. Ich habe ihm ein Buch an den Schädel geschmissen und rausgeschmissen. Das war dann der Tag, als ich mit dem Jiu Jitsu begonnen habe.“
„Und wie ist er an die Seelenräuberin geraten?“
„Das weiß ich gar nicht so genau. Du kannst Dir sicher vorstellen, dass ich ab dem Zeitpunkt dieser Beinahe Vergewaltigung ihm soweit wie möglich aus dem Weg gegangen bin. Ich weiß nur, dass er eines Tages plötzlich verschwunden war. Ich war erst sehr erfreut darüber und hoffte, er würde niemals mehr zurückkommen, aber eines Tages fiel es sogar meinem Vater auf, der mich dann fragte, wo denn mein Onkel sei. Als ich ihm sagte, der Schlappschwanz sei schon seit gut zwei Wochen nicht mehr da, da hätte mich mein Vater fast verprügelt.
Mein Vater hat dann ein großes Tamtam veranstaltet, hat den Polizeichef persönlich angerufen, den besten Detektiv engagiert und so weiter. Mein Vater macht keine halben Sachen. Trotzdem hat keiner auch nur eine Spur von ihm gefunden. Ich hoffte schon, ich müsste das Arschloch nie mehr sehen, da war er plötzlich wieder auf der Matte. Ganz abgemagert und ungepflegt, fast so, als ob er die ganze Zeit, die er verschwunden war, sich weder gewaschen noch die Kleidung gewechselt hatte. Ich hätte ihm am liebsten eine direkt auf sein Maul gehauen, aber er war anders, total anders. Fast wie abwesend. Er reagierte auf gar nichts, sondern saß tagelang nur einfach da und stierte stoisch große Löcher in die Luft. Mein Vater hat dann wieder total überreagiert und wollte schon den beste Psychologen des Landes anrufen, damit er ihn behandelte, als mein Onkel plötzlich aufstand und anfing wirres Zeug in einer unbekannten Sprache von sich zu geben, dann ging er in Küche, holte ein großes Messer und rannte in meinen Pferdestall. Er rannte mit erhobenem Messer direkt zu Silberpfeil meinem besten Pferd und wollte es offensichtlich töten. Dabei schrie er die ganze Zeit ‚sajra wayra’, was in Quechua, der Sprache der Indios soviel wie ‚das Böse’ oder ‚böser Atem’ heißt. Er sprach es in einer eigentümlichen sehr krächzenden Art aus. Mein Stalljunge konnte ihn gerade noch daran hindern. Er hat das Messer fallen lassen, ist wieder auf seinen Stuhl gesessen und hat Löcher in die Luft geschaut. Kurz später hat er dann wieder begonnen, in dieser komischen krächzenden Sprache zu sprechen. Es war richtig unheimlich. Er schien mit irgendjemandem, den nur er sehen konnte, ein richtiges Streitgespräch zu führen. So blieb das auch für die nächsten Tage. Er verließ dabei seinen Stuhl niemals, nicht einmal in der Nacht, um in sein Bett zu gehen. Es gab Stunden in denen er sich überhaupt nicht rührte und dann wieder diese stundenlangen Streitgespräche in dieser fremden Sprache. Zum Glück wollte er niemanden mehr töten. Auch die von meinem Vater gerufenen Psychologen konnten nichts herausfinden. Er hat erst gar nicht auf sie reagiert. Durch gar nichts. Es war, als wäre er zwar da, aber sein Geist ganz wo anders. Wir konnten auch nicht genau herausfinden, was dies für eine Sprache war, in der er die Streitgespräche führte. Es schien ein Dialekt der Quechua zu sein, aber eher in der Art, wie er vor 500 Jahren von den Inkas gesprochen wurde.
Dann hat plötzlich Mark Bishop angerufen und wollte sich meinen Onkel ansehen. Erst wollte mein Vater ja nicht, aber als er hörte, für was für eine Organisation Herr Bishop sprach, da wollte er dann doch. Offensichtlich war Herr Bishop von einem der Psychologen angerufen worden. Leider kam meinem Vater aber wieder einmal etwas dazwischen, sodass ich Herrn Bishop empfangen sollte. Und kurz bevor der eintraf ist mein Onkel dann plötzlich gestorben. Er fing wieder mit einem dieser Streitgespräche an, wurde dabei dann immer aufgeregter und fing plötzlich an zu schreien und zu toben. Die noch anwesenden Psychologen konnte ihn gar nicht mehr beruhigen. Nicht einmal eine hoch dosierte Beruhigungsspritze hat geholfen. Mein Onkel wurde immer aufgeregter, bis er dann plötzlich nur noch grell schrie, dass die Fenster gewackelt haben. Zum Schluss hat er dann noch einmal ‚sajra wayra’ gebrüllt und ist auf seinem Stuhl zusammengesackt. Er hat sich dann nicht mehr gerührt und ist kurz später einfach gestorben. Einfach so, als ob eine Kerze ausgeblasen würde. Nicht einmal zwanzig Minuten später stand Mark Bishop vor der Türe.“
„Und dem hast Du dann die Adresse von Donerta gegeben?“
„Ja, er schien irgendwie eine Ahnung zu haben, was geschehen war. Als ich dann die Seelenräuberin erwähnt habe, da hat er nur mit dem Kopf genickt!“
Das war wieder einmal so typisch Mark. Er hatte immer noch eine Information in der Hinterhand. Offenbar hatte er schon vorher etwas herausgefunden. Nur was? Layla hatte das Gefühl, dass sie noch viel zu wenige Informationen hatte, um irgendwie logisch und strategisch zu planen. Sie hoffte, dass diese Donerta, von der Naomi richtige Wunderdinge erwartete, ihr wirklich weiterhelfen konnte. Ansonsten konnte sie nur die nächste Attacke der Seelenräuberin abwarten und hoffen, dass sie entsprechend angemessen reagieren konnte. Und das schmeckte Layla überhaupt nicht. Sie wollte endlich das Ruder in die Hand nehmen. Bisher hatte sie das Gefühl, dass die Seelenräuberin nur mit ihr spielte, alles unter Kontrolle hielt, während sie ab und zu eine Attacke auf sie befahl. Layla wusste nicht, inwieweit die Seelenräuberin daraus lernte, inwieweit sie Layla mittlerweile einschätzen konnte. Das konnte natürlich auch sehr plötzlich sehr gefährlich werden. Eine innere Unruhe erfasste Layla. Sie konnte im Moment jedoch nichts Sinnvolles tun, bis sie von Donerta die nötigen Informationen erhalten hatte. Sie konnte nur warten.
Sie war dagegen sicher, dass ihre Gegnerin in dieser Zeit nicht untätig sein würde, sondern den nächsten Angriff schon plante und vorbereitete. Sicher wusste sie schon, wohin Layla ging und wenn Donerta wirklich Informationen hatte, die der Seelenräuberin gefährlich werden konnten, dann würde sie sicher zu verhindern versuchen, dass Layla Donerta traf. Layla musste also doppelt oder sogar dreifach wachsam sein.
Mittlerweile hatte selbst Layla ihre Zwischenmalzeit beendet, was bei Hans wieder für Staunen und bei Naomi zu einem regelrechten Lachkrampf geführt hatte („wenn ich all dies essen müsste, dann sähe ich aus, wie Beth Ditto von Gossip“). Inzwischen war es auch an der Zeit, zum Gate zu gehen, also nahmen die drei ihr Handgepäck und gingen zur Sicherheitskontrolle. Dabei behielt Layla die Umgebung sehr genau im Auge. Wann kam dieser nächste Angriff der Seelenräuberin? Hier am Flughafen wäre solch eine Attacke natürlich besonders verheerend. Es würde Untersuchungen nach sich ziehen, an die Layla gar nicht denken wollte. Sie würden höchstwahrscheinlich sogar im Gefängnis landen und ihren Plan könnten sie dann getrost vergessen. Deshalb war es strategisch sehr sinnvoll für die Seelenräuberin, sie genau hier und jetzt anzugreifen. Layla begann zu schwitzen und sah sich immer wieder um. Es zerrte an ihren Nerven, auf diesen Angriff zu warten. Dabei fiel ihr ein Witz ein, denn ihr Iztel, die eine große und geschickte Witzerzählerin war, einmal erzählt hatte. Ein Mann der nachts in einem Kohlebergwerk arbeitet, kommt jeden Morgen um kurz nach 6:00 Uhr von seiner Schicht nach Hause. Das schönste für diesen Mann ist es dann, seine schweren Sicherheitsschuhe auszuziehen und in die Ecke zu werfen. Jeder in eine andere Ecke. Dies gefällt natürlich dem Nachbar überhaupt nicht, so früh durch diesen zweifachen Bums geweckt zu werden, worauf er sich telefonisch auf das heftigste bei dem Mann beschwert. Dieser verspricht auch Besserung. Aber nach der nächsten Schicht denkt er nicht mehr daran, zieht seine Stiefel aus und knallt den ersten in die Ecke. Dann fällt ihm der arme Nachbar ein und er nimmt den zweiten und legt ihn leise neben den ersten, stolz, letztendlich doch daran gedacht zu haben. Aber nicht einmal zwei Minuten später ruft der Nachbar wieder an und schreit entrüstet: „Nun werfen sie schon den zweiten Stiefel, dass ich weiterschlafen kann? Layla grinste. Der Witz war wirklich gut. Und genauso, wie der arme Nachbar fühlte sich Layla im Moment auch. Sie wusste, dass der nächste Bums kam, sie wusste nur nicht wann und musste mit flatternden Nerven darauf warten.
Mittlerweile waren sie an der Sicherheitskontrolle angekommen. Ein Sicherheitsbeamter sah Layla aufmerksam an und winkte sie dann heraus. War dies der erwartete Angriff? Layla sah den Mann an. Nein, es sah nicht so aus, als ob er unter dem Einfluss der Seelenräuberin stand.
Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie hatte sich die ganze Zeit, als sie in der Schlange vor der Kontrolle hatte warten müssen, immer wieder nervös umgesehen, um einen Angriff wenn möglich schon im Keim zu ersticken. Das musste der Sicherheitsbeamten bemerkt haben und verdächtig erschienen sein. Layla passte dies natürlich überhaupt nicht, sie musste aber wohl oder übel diese Prozedur über sich ergehen lassen. In der Zwischenzeit gingen Naomi und Hans weiter in Richtung Gate.
Der Zollbeamte ließ sich diese Gelegenheit natürlich nicht entgehen und tastete Layla mehr als gründlich ab. Es war offensichtlich mal wieder keine Frau da, die dies hätte erledigen können. Die Strafe muss ich wohl akzeptieren, dachte sich Layla zähneknirschend. Sie war gerade fertig und der Sicherheitsbeamte wollte sie gerade gehen lassen, da sah Layla die Crew eines Flugzeugs vorbeigehen. Sie sah dabei dem Kapitän und dem Co-Pilot in die Augen und erstarrte. Beide zeigten den typischen, abwesenden Blick einer Person, die von der Seelenräuberin kontrolliert wurde. Erschrocken folgte Layla so unauffällig, wie möglich der Crew. Die gingen durch einen Ausgang am Nebengate von ihrem eigenen und gingen auf den Eingang zu, wo ihr eigenes Flugzeug angedockt hatte. Also doch! Sie waren die Crew, die das Flugzeug nach Floreanapolis fliegen sollte. Was bedeutete dies? War das nicht offensichtlich? Sie wollten das Flugzeug abstürzen lassen! Layla wurde flau im Magen. Wenn sie an der Sicherheitskontrolle nicht aufgehalten worden wäre, hätte sie die Crew niemals gesehen und wäre bedenkenlos in das Flugzeug gestiegen. Layla ging auf Naomi und Hans zu und sagte:
„Wir können mit diesem Flugzeug nicht fliegen!“
Hans und Naomi schauten sie ungläubig an. Naomi fragte:
„Warum denn nicht. Du hattest es doch so eilig nach Floreanapolis zu kommen!“
„Das Flugzeug wird abstürzen. Der Kapitän und der Co-Pilot sind unter der Kontrolle des Seelenräuberin!“
„Waaaaaaaaas, wir müssen die Leute warnen!“
„Ja, Hans, jetzt ist es Zeit für deine guten Verbindungen! Ich rufe Igor an!“
Layla hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als das Telefon schon die Nummer wählte. Igor antwortete auch sofort. Layla erklärte ihm mit kurzen Worten den Sachverhalt. Igor versprach ihr, sofort alle Hebel in Bewegung zu setzten. Hans war weniger erfolgreich, wie sie seiner versteinerten Miene entnahm. Mittlerweile wurde der Flug ausgerufen. Das Boarding begann. Layla fluchte innerlich. Hoffentlich hatte Igor mehr Erfolg. Sonst mussten sie von hier aus reagieren, was sie sicherlich in große Erklärungsnot bringen würde. Ihr Plan wäre dann den Bach hinunter. Die Leute begannen, in das Flugzeug zu gehen. Layla und Naomi schauten nervös zu. Hans telefonierte immer noch hektisch. Ausgerechnet jetzt schien das Boarding einmal reibungslos und schnell über die Bühne zu gehen. Layla wollte gerade zum Schalter gehen und dort für Alarm sorgen, als das Telefon am Gate klingelte. Die Angestellte nahm ab, hörte kurz zu, wurde blass und begann hektisch schreiend durch das Gate zum Flugzeug zu rennen. „Igor, ich danke Dir“ dachte Layla und drehte sich um. Bevor die Flughafensicherheit sie für längere Zeit auf Eis legte, möchte sie schon außerhalb des Flughafens sein. Blieb die Frage, wie sie nach Floreanapolis kommen sollten.
Naomi und Hans verstanden Layla wortlos und gingen ihr mit schnellen Schritten hinterher.
Layla stellte sich vor, dass sie wohl mit dem Auto bis Floreanapolis fahren müssten, was wahrscheinlich einen ganzen Tag dauern würde. Naomi sah ihr griesgrämiges Gesicht und lachte. Dann sagte sie in einem heiteren Tonfall:
„Dann muss es halt doch mit unserem Privatjet nach Floreanapolis gehen. Mein Vater wird zwar gar nicht begeistert sein, aber so, wie ich es sehe, ist es die einzige Möglichkeit!“
Layla nickte. Naomi hatte wohl Recht. Es war im Moment wohl die einzige sinnvolle Art, in annehmbarer Zeit nach Floreanapolis zu kommen. Naomi nahm ihr Handy heraus und suchte nach einer Nummer.
Plötzlich kamen mindestens 10 Sicherheitsbeamte herbeigeeilt und rannten in Richtung des Gates. Jetzt war es aber höchste Zeit, dass sie verschwanden, sonst saßen sie für die nächsten Paar Stunden sicher fest und mussten sich keine Gedanken um den Weg nach Floreanapolis machen. Unter den Sicherheitsbeamten war nämlich auch genau der, der Layla schon von wenigen Minuten für verdächtig empfunden und kontrolliert hatte. Der hätte sicher einige unangenehme Fragen, wenn er Layla wieder in die Finger bekam. Also nahm Layla Naomi unauffällig am Ellenbogen und zog sie zu einem anderen Gate, das mit ungeduldig wartenden Personen regelrecht überflutet war. Offenbar hatte dieser Flug massiv Verspätung. Hier konnten sie unbemerkt untertauchen. Naomi sprach immer noch in ihr Telefon und lachte sogar laut. Mann, hatte die Nerven! Als sie das Telefonat endlich beendete, steckte sie Layla fröhlich den erhobenen Daumen entgegen. Offenbar hatte es geklappt. Dann drehte sie sich um, und ging zu einem speziellen Gate. Dort mussten sie keine fünf Minuten warten, da kam auch schon ein Pilot und verkündigte ihnen, dass das Flugzeug gerade aufgetankt würde und in weniger, als einer halben Stunde zum Abflug bereit sei. Dann öffnete er mit dem Schlüssel das Gate und Naomi, Hans und Layla folgten ihm.
*
Kurz später saßen sie in der wohl luxuriösesten Flugzeugkabine, in der Layla je gewesen war. Es waren nur sechs Sitzmöglichkeiten vorhanden, aber die hatten es in sich. Alles war mit einem edlen Leder in einem hellbeigen Farbton gepolstert. Der Teppich am Boden, sowie die Farbe an den Wänden waren im exakt gleichen Farbton gehalten. Jeder hatte seine eigene kleine Bar an seinem Sitz. An einer großen Wand, die die Trennung zum Cockpit darstellte war ein übergroßer Flachbildschirm installiert. Es sah eher aus, wie in einer edlen Clublounge, als in einem Flugzeug.
Layla versuchte, sich zu entspannen. Sie waren der Seelenräuberin wieder einmal im letzten Moment von der Schippe gesprungen. Layla hoffte, dass diese in diesem Augenblick keinen Plan B zur Verfügung hatte, mit dem sie jetzt noch die Reise der drei nach Floreanapolis gefährden könnte. Layla versuchte alle Arten, mit der sie die Seelenräuberin angreifen konnte durchzudenken, es fiel ihr aber im Moment keiner ein. Außer natürlich, sie schickte irgendwelche Vögel in die Triebwerke des Flugzeugs. Layla hoffte, dass ihr die Zeit dazu fehlte, dies zu realisieren.
Da kam Layla ein Gedanke: War dies eine Möglichkeit, wie sie dem permanenten Druck der Seelenräuberin entfliehen konnten? Indem sie schnell und flexibel und ohne berechenbar zu sein, agierten? Bisher hatte Layla sehr viel Glück gehabt, dass sie bis hierher die Angriffe der Seelenräuberin unbeschadet überstanden hatte.
Über Lautsprecher gab der Pilot die Information durch, dass sie in circa fünf Minuten starten würden. Layla sah, dass Hans immer noch aufgeregt mit dem Handy telefonierte. Das erinnerte Layla daran, dass sie Igor anrufen sollte, um ihm zu danken. Layla musste bei dem Gedanken fast lachen. Bisher saß immer Peter auf glühenden Kohlen, wenn sie für die Basler Woche auf Tour war. Nach jedem dieser Einsätze musste sie sich immer die Vorwürfe anhören, dass sie sich nie meldete. Jetzt war es zur Abwechslung einmal Igor, der auf ungeduldig auf ihren Rückruf warten musste. Er wäre gemein, ihn noch weiter warten zu lassen, dachte sich Layla, zog ihr Handy aus der Tasche und drückte auf den Rufknopf. Erst konnte sie nur statisches Rauschen hören, dann ohne ein Freizeichen zu hören, merkte Layla plötzlich, dass jemand in der Leitung war. Und dies war ohne Zweifel nicht Igor. Nur wer war es dann? Layla spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Layla wartete noch kurz, wobei sie sehr genau auf Geräusche in der Leitung achtete. Da, tatsächlich! Layla konnte ein leichtes Atmen hören. Und dieses Atmen kam ihr sehr bekannt vor, schon alleine deshalb, weil sie es fast jede Nacht neben sich hörte. Er war Mark. Verzweifelt rief Layla:
„Mark, wo bist Du?“
„Gib auf Layla, Du hast keine Chance. Ich bin verloren. Gehe zurück, sonst wirst Du und alle Leute, die bei Dir sind, getötet!“
Das konnte unmöglich Mark sein! Gut, es war unverwechselbar seine Stimme, aber so etwas würde Mark niemals sagen. Er war also tatsächlich unter der Kontrolle der Seelenräuberin. Aber warum rief sie an? Hatte es sie nervös gemacht, dass Layla immer noch am Leben war? Kam ihr Layla mittlerweile zu nahe? Layla wagte dies nicht zu hoffen. Für Laya war es sehr wichtig, dass sie endlich einmal einen direkten Draht zu ihrer Gegnerin hatte. Wie sollte sie reagieren. Sie wollte der Seelenräuberin auf keinen Fall zeigen, wie aufgewühlt sie im Moment war. Es konnte ja tatsächlich sein, dass es ihr gelungen war, auch diese übermächtige Gegnerin etwas zu verunsichern. Deshalb sagte auch Layla so ruhig, wie möglich, aber trotzdem jedes einzeln Wort betonend:
„Mark, mein Schatz, du weißt doch, dass ich Dich niemals alleine lassen würde. Sage doch bitte der Tussi, die Dich festhält, dass ich ihr den Arsch bis zur Halskrause aufreißen werde. Sie kann soviel Menschen, Tiere, Monster und was ihr sonst noch einfallen möge, auf mich hetzen. Das ist mir scheißegal. Ich werde sie finden und dann Gnade ihr Gott.“
Mark, oder besser gesagt die Seelenräuberin fand es offenbar nicht mehr für nötig zu antworten. Die Leitung war plötzlich frei. Trotzdem gab es immer noch kein Freizeichen. Dafür hörte sie am anderen Ende der Leitung plötzlich Igor.
„Layla, ich wusste gar nicht, dass Du so ausfällig werden kannst. Ich bin ja beinahe rot geworden!“
Layla setzte sich in ihrem Sitz auf. Dann musste sie herzhaft lachen und antwortete:
„Igor, wie ich sehe, konntest Du alles mithören. Mark ist also doch entführt worden!“
„Was hast Du herausgefunden?“
„Tut mir leid, Igor, aber so lange ich nicht weiß, ob über diese Leitung noch mitgehört wird, möchte ich nichts Konkretes sagen. Ich bin auf dem Weg nach Floreanapolis. Dort erhoffe ich mehr Informationen zu bekommen.“
„Gut, Layla einverstanden. Aber pass auf Dich auf. Ich weiß, dass Du es nicht tun wirst, aber trotzdem, sei bitte vorsichtig. Das Mark so leicht in die Falle gelaufen ist, zeigt, dass die Gegenseite unheimlich mächtig sein muss!“
„Ich weiß, Igor, sie hat mir auch schon alle möglichen und unmöglichen Gestalten auf den Hals gehetzt.“
„Layla, nochmals, nimm es bitte nicht auf die leichte Schulter!“
„Du klingst jetzt fast schon, wie Peter!“
„Den ich auch voll und ganz verstehen kann. Mark ist ja schon sehr waghalsig, aber Du, du bist die absolute Krönung!“
Layla musste nochmals auflachen, obwohl sie die Worte des Direktors des Convento sehr gut verstehen konnte. Er hatte die Verantwortung für sie und sie war mitten in ein undurchsichtiges, offenbar hoch gefährliches Abenteuer geraten.
„Vielen Dank übrigens für Deine Hilfe am Flughafen. Um ein Haar hätte es dort die große Katastrophe gegeben!“
„Freut mich, dass es funktioniert hat. Es hat aber einige Hebel gebraucht, bis das zu realisieren war.“
„Du bist ein Genie, Igor!“
„Dein Wort in Gottes Ohr, Layla!“
„Nochmals vielen Dank. Mach’s gut, Igor“
„Mach’s besser, Layla. Ich erwarte so schnell, als möglich Deinen Anruf!“
„O.K. ich versuche es!“
„Das hoffe ich, Layla!“
Naomi und Hans sahen sie konsterniert an. Layla konnte die Fragezeichen in ihren Augen fast schon sehen. Layla lächelte und erklärte den beiden, was vorgefallen war. Beide waren geschockt, während Layla selbst sich etwas besser fühlte. Sie hatte bei der Seelenräuberin eine Reaktion hervorgerufen! Offenbar war es ihr gelungen, diese tatsächlich zu überraschen. Layla schaute jetzt etwas zuversichtlicher in die Zukunft. Sie war sich jetzt sicher, dass sie bei Donerta wichtige Informationen bekommen würden und dass es die Seelenräuberin furchtbar ärgerte, dass sie dies nicht mehr verhindern konnte. Layla glaubte auch nicht, dass sie im Moment einen weiteren Angriff zu befürchten haben. Sonst hätte die Seelenräuberin nicht angerufen, sondern ohne Warnung zugeschlagen!
In diesem Moment startete der Kapitän die Motoren und fuhr zur Start- und Landebahn. Kurz später waren die drei ohne weitere Zwischenfälle in der Luft, was speziell Hans dazu brachte, nochmals tief durchzuatmen.
In der Luft erinnerte sich Layla wieder an ihren Alptraum. Wie Mark hilflos und unerreichbar für Layla an einen großen Felsen gebunden war. War dies eine Erinnerung ihres Unterbewusstseins gewesen, dass Mark in Gefahr war und sie ihm im Moment nicht helfen konnte? Oder hatte es einen realen Hintergrund? Zum Glück war der Traum nicht wiedergekehrt. Er hatte sie ziemlich erschreckt.
Es war für Layla sehr schwierig gewesen, mit Mark zu telefonieren, ohne ihm helfen zu können. Sie hatte ganz deutlich gespürt, dass Mark nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen war. Wie war es der Seelenräuberin gelungen, Mark so unverrückbar an sich zu fesseln? Layla hatte das Gefühl, dass sie überhaupt nicht vorankam, Mark effektiv zur Seite zu springen. Sie hatte nicht einmal eine Ahnung, wie akut die Gefahr für Mark eigentlich war. Stand der Vulkan wirklich kurz vor dem Ausbruch? War sie wirklich in Zeitnot? Es blieb auch die Frage, was die Seelenräuberin denn mit Mark und den anderen Personen wollte. Was war ihr Ziel? Layla hatte keine Ahnung. Das machte die Sache auch nicht einfacher. Wie sollte man etwas verhindern können, dass man nicht einmal kannte?
Laylas Blick fiel auf Naomi. Die schlief tief und fest. Diese junge Frau war einfach bewundernswert. Nichts schien sie aus der Bahn zu werfen. Layla hoffte, dass sie sie nicht in weitere Gefahr brachte. Hans war dagegen immer noch supernervös und ging fast hyperaktiv im Flugzeug auf und ab. Dass er dabei starken Kaffee wie Wasser in sich reinschüttete, war sicher auch nicht besonders gut für seine Nerven. Er tat Layla leid. Bis vor kurzen hätte es nicht genug Action für ihn sein könnte und jetzt, wo er mitten im Geschehen war, da schien er dies fast zu bedauern. Er war regelrecht von den Ereignissen überfahren worden.
Layla bemerkte eine leichte Veränderung im Flugrhythmus. Hatten sie schon mit dem Sinkflug begonnen? Layla sah aus dem Fenster und hatte einen fantastischen Blick über die Brasilianische Atlantikküste. Ahh, wie schön wäre es, wenn sie jetzt einfach an den Strand liegen könnte. Sie brauchte unbedingt Urlaub!
Ja, tatsächlich. Die Maschine befand sich wirklich schon im Sinkflug. Augenblicklich überfiel Layla auch wieder die Anspannung. Dies war wieder ein kritischer Moment. Wenn die Seelenräuberin angreifen wollte, dann wäre jetzt wohl der beste Zeitpunkt dafür. Naomi hatte ihr erzählt, dass der Kapitän ein sehr erfahrener, routinierter Pilot war. Ihr Vater hatte ihn anscheinend nach der Pleite von Varig, der größten Brasilianischen Fluglinie, übernommen und war offenbar mehr als zufrieden mit ihm. Trotzdem: Wenn die Seelenräuberin ihnen wirklich einen Schwarm Vögel schickte, dann kam sicher auch er ins Schwimmen. Layla erinnerte sich daran, wie vor ein paar Jahren Jahr ein Pilot auf dem Hudson River notwassern musste, nachdem beide Triebwerke nach einem Vogelschlag ausgefallen waren. Jetzt war Layla fast genau so nervös, wie Hans. Naomi schlief immer noch, wie ein kleiner Engel (der sie auch war).
Das Flugzeug sank immer weiter. Laylas Nerven waren bis zum Zerreisen angespannt. Diese dauernde Bedrohung ging nun auch ihr an die Substanz. Es war ein ekelhaftes Gefühl, auf den nächsten Angriff warten zu müssen, ohne jedoch zu wissen, wann genau er stattfand.
In der Zwischenzeit konnte Layla schon den Flughafen schräg vor dem Flugzeug erkennen. Ganz angestrengt starrte sie in die Richtung, ob sie dort irgendwelche Vögel erkennen konnte. Ihre Augen tränten ihr dabei, so fest starrte sie. Aber nichts. Der Kapitän machte eine letzte kleine Korrektur der Flugrichtung. Jetzt waren sie im direkten Landeanflug. Wenn der Angriff kam, dann genau jetzt! Aber nichts geschah. Nicht jetzt und auch nicht, als das Flugzeug landete. Layla atmete tief durch. Lange würde sie diese Ungewissheit, ob und wann irgendwas Schlimmes geschah, nicht mehr aushalten können. Sie musste diese Seelenräuberin möglichst schnell zur Strecke bringen. Sonst landete sie selbst in der Klapsmühle.
Der Motor dröhnte heftig und das ganze Flugzeug wurde durchgeschüttelt, als der Pilot scharf bremste. Kurz später war das Flugzeug so langsam, dass er eine Kurve fahren konnte. Er fuhr direkt zu einem speziellen Hangar für Privatflugzeuge. Auch dort ist keine Gefahr zu erkennen. Trotzdem wollte sich Layla da nicht darauf verlassen. Die Seelenräuberin hatte schon mehrfach bewiesen, dass sie sehr überraschend aus dem Hintergrund angreifen konnte. Layla wollte darauf vorbereitet sein, wenn dies geschah.
Jetzt schlug auch Naomi die Augen auf und streckte sich ausgiebig, während sie einen Laut, wie eine schnurrende Katze ausstieß. Dann lachte sie wieder und sagte:
„Willkommen in Floripa, dem Paradies auf Erden!“
Layla war noch nie in Floreanapolis gewesen und dementsprechend neugierig. Normalerweise genoss sie es, in eine neue Stadt zu kommen und sich dort ausgiebig umzusehen. Nur diesmal würde sie da mit Sicherheit keine Zeit dafür haben. Naomi schien ein richtiger Floreanapolis – Fan zu sein und begann mit einem regelrechten Vortrag:
„Floreanapolis ist die einzige Hauptstadt eines Bundesstaates in Brasilien, die nicht auf dem Festland liegt, sondern auf einer Insel, der ‚Ilha de Santa Catarina’. Sie hat knapp eine halbe Million Einwohner. Früher wurde sie von der Ureinwohnern, den Carijós – Indianern ‚Meiembipe’ genannt, was einfach die ‚Stadt am Kanal’ heißt. Später, nach dem Eintreffen der Portugiesen, hieß sie dann ‚Nossa Senhora de Desterro’ oder kurz ‚Desterro’. Seit 1893 wird sie zu Ehren des zweiten Präsidenten von Brasilien, Floriano Peixoto ‚Floreanapolis’ genannt. Sie zeigt ein subtropisches Klima, dass sich deutlich vom dem unterscheidet, dass Ihr mit Euren vier Jahreszeiten kennt. Hier ist das Wetter einfach immer toll und für mich hat es die schönsten Strände der Welt, sogar noch ein bisschen besser, als die in der Karibik.“
Freudig sprang Naomi auf und konnte es offensichtlich gar nicht erwarten, bis die Türe aufging. Der Kapitän schien Naomi schon gut zu kennen, denn er beeilte sich augenscheinlich sehr, die Türe zu öffnen. Dabei machte er, als ob er die Verriegelung des Flugzeugs nicht aufbekam und handelte sich damit einen freundschaftlichen Klaps von Naomi ein. Lachend öffnete er dann doch die Türe. Davor stand eine riesige, amerikanische Strechlimousine. Layla war dies fast peinlich, während Hans richtiggehend überschwänglich wurde.
Die drei gingen die Treppe hinunter und genau in diesem Moment wurde die Türe der Limousine geöffnet. Es stieg ein junger, gut aussehender Brasilianer aus, der auch gleich begann, mit Naomi zu flirten, die diesem Flirt auch nicht abgeneigt zu sein schien. Hans machte ein Gesicht, dass Layla zum Lachen brachte. Der Gute würde doch nicht etwa eifersüchtig sein? Layla hatte schon die Blicke gemerkt, die er Naomi zuwarf. Aus anfänglicher Skepsis war wohl mittlerweile richtige Begeisterung geworden. Was für Layla jedoch das wichtigste war, war, dass der Chauffeur offenbar nicht von der Seelenräuberin kontrolliert wurde.
Bei der Fahrt durch die Stadt konnte sich Layla gar nicht statt sehen. Es gab so viele geniale Gebäude, die einen extravaganten, aber sehr gut harmonierenden Mix verschiedener kolonialen Architekturstilen zeigte. Alles war peinlich sauber gehalten und den Leuten, die man auf der Straße sah, merkte man an der Kleidung das heiße, tropische Klima an. Hans fielen beim Anblick der Brasilianischen Bikinischönheiten fast die Augen aus dem Kopf.
Die Fahrt war so interessant und kurzweilig, dass Layla fast vergaß, die Umgebung auf irgendwelche verdächtige Individuen abzusuchen. Die gute Laune, die der Charme der Stadt versprühte, steckte auch sie an.
Deshalb war die Fahrt auch viel zu kurz. Nach nur wenigen Minuten, wo sie fast das komplette Stadtzentrum durchquerten, bog der Fahrer in eine Nebenstraße ab. Hier standen regelrechte Nobelvillen, denen man den Reichtum der Besitzer auf den ersten Blick ansah. Der Fahrer hielt an einer riesigen, weißen Prachtvilla, die wohl die schönste in ganzen Viertel war. Layla blieb der Mund offen stehen:
„Wohnt hier Donerta?“
Lachend und mit einem Augenzwinkern antwortete Naomi.
„Nein, das ist das Strandhaus meines Vaters, aber Donerta lebt hier im Gästehaus, das direkt am Ozean liegt. Komm, Layla, ich zeige es Dir!“
Damit öffnete sie die Türe, hängte sich bei Layla unter, was Hans den nächsten eifersüchtigen Blick entlockte und ging lachend über einen naturbelassenen Weg, der rechts an der Villa vorbeiführte. Layla konnte das Meer schon riechen und hören und die Sehnsucht tat ihr fast körperlich weh, obwohl sie als Werwolf niemals mehr schwimmen gehen konnte. Eine der wenigen Arten, wie ein Werwolf wirklich sterben konnte, war zu ertrinken, weshalb alle Werwölfe eine „angeborene“ Scheu vor Wasser hatten. Trotzdem war es herrlich am Strand zu liegen und zu faulenzen. Aber dies war sicher nur ein schöner Traum. Die nächsten Tage würden sicher alles andere als erholend werden.
Als sie am Haus vorbeigegangen waren, konnte Layla das Strandhaus sehen. Es war deutlich kleiner, obwohl sich sicher auch hier gut leben ließ. Es stand auf circa drei Meter hohen Stelzen, um zu verhindern, dass es bei einem Sturm mit Wasser voll lief.
Als die drei noch ungefähr 20 Meter von Haus entfernt sind, ging eine Türe auf und eine Frau trat heraus. Als Layla sie sah, blieb sie vom Donner gerührt stehen. Die Frau, die ganz offensichtlich Donerta war, war niemand anderes, als die Zigeunerin vom Zug an den Flughafen in Zürich!