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Funktionen demokratischer Wahlen

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Als Kern der liberalen Demokratie werden Wahlen verschiedene Funktionen zugeschrieben, die traditionell anhand etablierter Demokratien in Westeuropa und Nordamerika entwickelt worden sind.9 Die Erfahrungen mit demokratischen Wahlen in anderen Weltregionen blieben – mit wenigen Ausnahmen – hingegen lange Zeit unterbelichtet. Erst im Zuge der Demokratisierungswelle(n) des ausgehenden 20. Jahrhunderts erlangen die dortigen Wahlen wieder verstärkt Aufmerksamkeit. Nach den oft nur kurzen Erfahrungen mit Mehrparteienwahlen im Rahmen der Entkolonialisierung in Afrika und Asien sowie der Aussetzung kompetitiver Wahlen in vielen südamerikanischen Diktaturen wurde nunmehr (wieder) die Frage aufgeworfen, welche Funktionen demokratische Wahlen außerhalb Westeuropas und Nordamerikas überhaupt einnehmen (können). Um derartige Fragen beantworten zu können, war und ist jedoch ein allgemeines Verständnis demokratischer Wahlfunktionen vonnöten.

In diesem Sinne sind die ursprünglich auf westliche Demokratien bezogenen Funktionskataloge nicht einfach ad acta zu legen. Sie dienen als wichtige Orientierungspunkte, von denen ausgehend – aber unter Berücksichtigung der je besonderen politischen, soziökonomischen und kulturellen Bedingungen – sich Funktionen kompetitiver Wahlen auch in anderen Weltregionen sinnvoll betrachten lassen. Dies ist nötig, um Wahlen im „globalen Süden“ an die vergleichende Wahlforschung anzuschließen. So zeigen beispielsweise Umfragen des Afrobarometers, dass die „Nachfrage“ nach einer liberalen Demokratie in Afrika durchaus groß ist, selbst wenn die „Angebotsseite“ zu wünschen übrig lässt.10 Zugleich sind Wahlgänge in Afrika nicht nur, wie reichlich verkürzt behauptet wurde, „ethnische Zensus“, bei denen die Wahlberechtigten nach ethnischer Zugehörigkeit ihre Wahlstimme abgeben, „typischerweise“ begleitet von Stimmenkauf und Gewalt.11 Auch in den Staaten Afrikas und anderer Regionen des globalen Südens gibt es ernsthafte Bestrebungen, demokratische Wahlen durchzuführen, die sich – bei allen Besonderheiten – an denselben Grundfunktionen orientieren wie Wahlen in etablierten Demokratien. Von grundsätzlicher Bedeutung sind dabei vier allgemeine Funktionskomplexe:

1) Funktionen, die sich auf die Übertragung von politischer Macht und die Zuweisung von Herrschafts- und Oppositionspositionen beziehen: Einem liberal-pluralistischen Demokratieverständnis zufolge vergibt der demos in demokratischen Wahlen einen verfassungsmäßig formulierten „Herrschaftsauftrag auf Zeit“, so ein geflügeltes Wort von Theodor Heuss, und überträgt damit zeitlich begrenzt politische Macht an die künftigen Herrschaftsträger. Demokratische Wahlen üben also die Funktion aus, politische Macht zu übertragen, und statten zu diesem Zweck – für gewöhnlich in Parteien oder Wählerbewegungen organisierte – Personen in Form von politischen Mandaten mit Herrschaftsbefugnissen aus. Dies gilt auch dann, wenn die in diesem Zusammenhang vielfach betonte Regierungsbildungsfunktion nur vermittelt zutage tritt.12 Bei demokratischen Wahlen wird jedoch nicht nur ein Herrschaftsauftrag vergeben, sondern auch das Parlament gewählt und die parlamentarische Opposition eingesetzt, welcher, normativ betrachtet, insbesondere die Aufgabe zukommt, die politische Herrschaftsausübung zu kontrollieren und sich für einen Machtwechsel bereitzuhalten.

2) Eng mit der Übertragung politischer Herrschaftsbefugnisse in Verbindung steht die Legitimationsfunktion demokratischer Wahlen. Mittels Wahlen wird die Ausübung politischer Herrschaft zeitlich begrenzt legitimiert. Indem die Wählerschaft in freien und fairen Wahlen ihre Regierung bzw. ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten bestätigt oder neu bestellt, kommt in Wahlen entweder ein Konsens (der im schwachen Sinne auch das Akzeptieren bzw. Dulden umfasst) oder ein Dissens bezüglich der Herrschenden und deren Politik zum Ausdruck. Die Legitimationsfunktion demokratischer Wahlen bezieht sich dabei vornehmlich auf die Inhaber der über Wahlen direkt oder indirekt vergebenen politischen Mandate. Eine demokratisch gewählte Regierung gilt, bei aller oft berechtigten Kritik an Politikstil und Politikinhalten, weithin als legitim ins Amt gebracht. Die Legitimationskraft umfasst aber, normativ betrachtet, auch die Opposition. Gerade in der vollen Anerkennung der Opposition liegt eine Besonderheit wirklich kompetitiver Wahlen. Nicht von ungefähr wird in Großbritannien die Opposition traditionell als „Her Majesty’s Most Loyal Opposition“ bezeichnet. Dabei legitimieren demokratische Wahlen nicht nur die Träger, sondern auch das Prinzip politischer Opposition – und zwar sowohl in abstracto als auch in seiner konkreten organisatorisch-rechtlichen Ausformung, die sich u. a. in der Gewährung politischer Rechte auch für die Opposition ausdrückt. In diesem Sinne können Wahlen auch die Legitimität der politischen Ordnung samt ihrer „Spielregeln“ bestärken oder infrage stellen, je nachdem, ob die mit demokratischen Wahlen verbundenen Verfahrensregeln akzeptiert oder abgelehnt werden. Sofern die Wahlen demokratisch sind, kommt in ihnen eben auch ein Verfahrenskonsens zum Ausdruck, der die Rechte der politischen Minderheit umfasst. Zudem können Wahlen die Legitimität der im Wahlakt umfassten politischen Gemeinschaft stärken.13 Beispielsweise haben die ersten allgemeinen und freien Wahlen in der Republik Südafrika im Jahr 1994, trotz aller Spannungen vor den Wahlen, vorübergehend zur nationalen Einheit in der Post-Apartheid-Ära beigetragen, selbst wenn es dort später nicht wirklich zur Herausbildung der angestrebten „Regenbogennation“ gekommen ist.

3) Funktionen, die sich auf die Repräsentation der vielfältigen gesellschaftlichen Gruppen, Ansichten und Interessen beziehen: Während „Regierungen der nationalen Einheit“, welche die maßgeblichen politischen Kräfte eines Lands einbinden, selten sind und meist nur in Post-Konfliktsituationen vorkommen, sollen vor allem die gewählten Parlamente die gesellschaftliche Vielfalt repräsentieren und diese im parlamentarischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess angemessen berücksichtigen.14 Eine hinreichende politische, soziale und territoriale Repräsentation im Parlament ist daher ein wichtiges Ziel demokratischer Wahlen, ohne dass dadurch jedoch die Bildung stabiler Regierungsmehrheiten im Parlament verunmöglicht werden soll. Dabei geht es nicht nur um eine – vom Wahlsystem abhängige – mehr oder minder proportionale Mandatsvergabe an die politischen Parteien, die deren Stimmenanteil in der Wählerschaft entspricht (die freilich in Mehrheitswahlsystemen zugunsten der Bildung von Regierungsmehrheiten gezielt eingeschränkt wird). Wichtig sind ebenso eine balanced gender representation oder eine angemessene Vertretung gesellschaftlicher Minderheiten oder unterschiedlicher Regionen im Parlament. Angesichts des hohen Altersdurchschnitts von Parlamenten wird inzwischen verstärkt auch eine stärkere Repräsentation von jungen Menschen im Parlament gefordert. Soll eine solche angemessene Repräsentation unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen gewährleistet werden, dann ist nach den vielfältigen Bedingungen zu fragen, unter denen kandidierende Personen antreten, aufgestellt und gewählt werden.15

4) Funktionen, die sich auf die Gestaltung politischer Inhalte und Alternativen beziehen: Einem liberal-repräsentativen Demokratieverständnis zufolge ist die Wahl streng genommen keine inhaltliche Entscheidung, sondern eine Auswahl zwischen Personen. Wahlen entscheiden nicht primär über Sachprobleme, sondern darüber, wer die Sachprobleme entscheidet. In diesem Sinne stellt der demokratische Wahlakt zuvorderst eine Übertragung von Vertrauen an Personen oder Parteien dar. Gleichwohl kommen bei der Wahlentscheidung inhaltliche und programmatische Präferenzen zum Tragen. Personen und Parteien, die sich zur Wahl stellen, stehen oft für bestimmte politische Positionen, Programme und Ziele, repräsentieren bestimmte Ansichten und Interessen der Wählerschaft. Soweit Wahlen also einen Konkurrenzkampf um politische Herrschaft auf Grundlage alternativer Sachprogramme darstellen (was nicht immer der Fall ist), haben die Wahlberechtigten die Möglichkeit, mit ihrer Wahlentscheidung zumindest die grundlegende inhaltliche Ausrichtung der Regierungspolitik mitzubestimmen. Dabei handelt es sich für gewöhnlich aber eher um ein allgemeines als um ein konkretes inhaltliches Mandat. Zugleich kann von Wahlen eine die Regierung begleitende Korrektivfunktion ausgehen. Da die Herrschaft nur auf Zeit verliehen und unter demokratischen Wettbewerbsbedingungen regelmäßig wieder zur Disposition gestellt wird, sind die Regierenden – ebenso wie die Opposition als ihre Herausforderer – dazu angehalten, die Ansichten und Interessen des Wahlvolks angemessen zu berücksichtigen. Prospektiv werden bei Wahlen politische Erwartungen an die gewählten Amtsinhaber gestellt und retrospektiv wird bei Wahlen ihre Leistung bewertet.16 Ziel ist dabei eine „Regierung, die auf die öffentliche Meinung hört und ihr verpflichtet ist“.17 Es geht bei demokratischen Wahlen also um elektorale Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht. Dabei bezieht sich die Rechenschaftspflicht letztlich auf das gesamte Wahlvolk und nicht etwa nur auf die Unterstützerinnen und Unterstützer der Regierenden.

Aus Sicht eines liberal-pluralistischen Demokratieverständnisses bestimmen die vier Funktionskomplexe maßgeblich den allgemeinen Funktionsgehalt demokratischer Wahlen. Dabei kommt den Wahlen in liberalen Demokratien bereits insofern große Bedeutung zu, als sie – ebenso wie Volksabstimmungen – eine Form der politischen Mitwirkung darstellen, welche grundsätzlich die gesamte Wählerschaft einbezieht. Auch ist die Durchführung demokratischer Wahlen bereits definitorisch mit weiteren politischen Mitwirkungswirkungsmöglichkeiten im engeren oder weiteren Umfeld der Wahlen verbunden: von Wahlkampfaktivitäten, Wahlkandidaturen und allgemein der aktiven Mitwirkung in Parteien und Wählerinitiativen bis hin zur Nutzung einschlägiger politischer Rechte wie Versammlungs-, Vereinigungs-, Meinungs- und Pressefreiheit. Ohne diese sind demokratische Wahlen gar nicht möglich. Daher hängt der demokratische Gehalt von Wahlen eng mit den demokratischen Wesenszügen von Politik und Gesellschaft in einem Land zusammen. Dies rückt auch die abfällige Rede von reinen „Wahldemokratien“ (electoral democracies) zurecht; denn sollen Wahlen wirklich demokratisch sein, benötigen sie immer auch ein demokratisches Umfeld.

Nun sollten allerdings die normativ abgeleiteten oder idealtypisch entwickelten Funktionszuschreibungen nicht die politischen Zustände in liberalen Demokratien beschönigen. Zwar ist der altbekannte Sponti-Spruch „Wenn Wahlen etwas verändern würden, wären sie schon längst verboten“ überzogen. Auch sind demokratische Wahlen nicht nur „Alibi-Veranstaltungen“, die einen Wettbewerb vorgaukeln, gesellschaftliche Antagonismen verschleiern und eine Blankovollmacht für konsensunabhängiges Entscheiden ausstellen.18 Vielmehr können Wahlen einen großen Unterschied machen, wer regiert und wie regiert wird. Präsident Nelson Mandela war – im Unterschied zu einigen seiner Nachfolger – beispielsweise ein Glücksfall für den friedlichen Übergang in der Republik Südafrika. Donald Trump wiederum ist eine Belastung, und zwar sowohl für die Demokratie in den USA als auch, polemisch gesprochen, für den Rest der Welt. Auch unterscheiden sich die Regierungsprogramme vieler politischer Parteien. Die politikwissenschaftliche Frage „Do parties matter?“ lässt sich im Hinblick auf Politikinhalte oft bejahen, selbst wenn große gesellschaftliche Probleme, von Armut bis Klimawandel, nur unzureichend politisch angegangen werden.

Obwohl also die Fundamentalkritik an der angeblichen Bedeutungslosigkeit von Wahlen überzogen ist und nicht danach fragt, wie die politische Ordnung ohne einen demokratischen Wahlwettbewerb aussehen würde (oder tatsächlich aussieht), gibt es vielfältige Einschränkungen des demokratischen Bedeutungsgehalts von Wahlen. Dazu zählen etwa: verkrustete, elitäre Herrschaftsstrukturen und die Repräsentationsschwäche politischer Parteien, autoritäre Einstellungen und Verhaltensmuster, parochiale politische Untertanenkulturen und illiberale Herrschaftspraktiken, ausufernde Korruption und rechtsstaatliche Mängel, Medienoligopole und der überbordende Einfluss von Geld auf Wahlen oder auch die verbliebene Machtfülle nicht gewählter Akteure, wie etwa von Militärs oder Oligarchen. Zugleich sind vielerorts die sozialen Bedingungen, wie extreme Armut und eine ausgeprägte soziale Ungleichheit, einer wirksamen politischen Mitwirkung der Bevölkerung bei Wahlen nicht zuträglich.

Inwieweit Wahlen demokratische Funktionen erfüllen, hängt somit maßgeblich davon ab, inwieweit sich in jungen Demokratien – oft unter schwierigen Bedingungen – demokratische Institutionen, Verfahren, Handlungsweisen und Einstellungen herausbilden und festigen und inwieweit auch in etablierten Demokratien die Wahlen dazu beitragen, verantwortliche Regierungen hervorzubringen und demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten in Politik und Gesellschaft zu verstetigen und zu vertiefen. Die Herausbildung einer demokratischen und rechtsstaatlichen Kultur ist für gewöhnlich ein langwieriger Prozess, zumal in gesellschaftlich polarisierten und ethnisch fragmentierten Gesellschaften. In Ländern, in denen der Wahlsieg nicht nur den Zugang zu politischen Ämtern bedeutet, sondern zugleich mit der Vereinnahmung des Staatsapparats, mit dem Zugriff auf die ökonomischen Ressourcen des Lands und mit einer gesellschaftlichen Vormachtstellung einhergeht, steht bei Wahlen viel auf dem Spiel, sind die Verluste bei einer Wahlniederlage hoch. Dort werden Mehrparteienwahlen rasch zu einem Nullsummenspiel auf Kosten gesellschaftlicher und politischer Minderheiten. Wahlen können zwar auch unter solch schwierigen sozioökonomischen und politisch-kulturellen Bedingungen dazu beitragen, Macht- und Herrschaftskonflikte friedlich auszutragen; sie tun dies aber nicht zwangsläufig. Mitunter sind sie auch „new battlegrounds“19 oder verstärken gar Machtkonflikte. Die häufig benannte befriedende Funktion kompetitiver Wahlen ist daher stark kontextabhängig.

Auch müssen Demokratien den „Stresstest“ bestehen, dem sie aktuell durch das Erstarken von Populisten ausgesetzt sind. Vielerorts ist ein „konfrontativer Typus der Mehrheitsdemokratie“20 entstanden, in der – unter Verweis auf den „Volkswillen“ oder die Wählermehrheit – die Anliegen der politischen Minderheiten brüsk beiseitegeschoben werden. Dabei haben Negativwerbung und Diffamierungskampagnen ebenso wie Desinformationen und Fake News inzwischen wesentlichen Einfluss auf die Wahlentscheidung, selbst in gestandenen Demokratien. Offenkundig sind zudem die Handlungsspielräume demokratisch gewählter Regierungen meist viel kleiner als im Wahlkampf suggeriert wird. Das mussten die gewählten Linksregierungen in Griechenland während der dortigen Finanzkrise ebenso schmerzlich erfahren wie viele andere Staaten, die hoch verschuldet oder auf andere Art wirtschaftlich und politisch abhängig sind.

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