Читать книгу Restposten - Michael Opoczynski - Страница 10
Es geht auch anders »DAS IST DER VORTEIL, WENN MAN CHEF IST« GÜNTER FALTIN GRÜNDET EINE FIRMA –
MITTEN HINEIN IN EINE ALTE
UND TRADITIONELLE BRANCHE
ОглавлениеMan könnte meinen, nur noch digitalisiert, roboterisiert und mit möglichst wenig fest angestelltem Personal ließe sich in dieser Welt Kapital anhäufen. Nur solche Neugründungen hätten eine Chance, die auf künstliche Intelligenz und Digitalisierung setzen. Aber auch in traditionellen Branchen werden erfolgreiche Unternehmen gegründet. Entgegen allen Regeln der Start-up-Gesellschaft gibt es eine Zukunft außerhalb von IT oder Digitalisierung. Ein schönes Beispiel:
Vor einigen Jahren, als der damals noch junge Professor Günter Faltin an der FU Berlin vor seinen Studenten stand und ihnen Entrepreneurship, die Lehre vom Gründen, beibringen wollte, da sollen die Studenten ihm, dem Wissenschaftler, entgegengehalten haben: »Erzählen können Sie uns viel. Aber Sie sind ein gut dotierter Beamter. Machen Sie doch mal vor, wie man erfolgreich ein Unternehmen gründet.«
Treffer! Das hatte gesessen! Der Wissenschaftler begann darüber nachzudenken, wie er in der Praxis beweisen könnte, was er theoretisch schon lange vermittelte: So gründet man erfolgreich ein Unternehmen und schafft dadurch nicht nur Arbeit und Einkommen für andere, nicht nur persönlichen Wohlstand, sondern auch Zufriedenheit und Selbstgewissheit. Das Nachdenken führte zur Gründung der Teekampagne, jenem Unternehmen, das kontinuierlich gewachsen ist, inzwischen in Deutschland mehr als zwanzig Menschen beschäftigt und zum weltweit größten Importeur von Darjeeling-Tee aufgestiegen ist. Ob diese Gründungsgeschichte den Tatsachen entspricht oder ob sie eine ausgeschmückte Unternehmenslegende ist, vermag ich nicht zu sagen. Entscheidend ist letztlich ja, dass es durchaus so gewesen sein könnte.
Heute, mehr als dreißig Jahre später, steht Günter Faltin an einem Rednerpult, vor ihm hundert junge Leute, die das Gründen eines eigenen Unternehmens als ernsthafte Option betrachten und von ihm einen Impuls erwarten. Er ist der Star des jährlich stattfindenden Entrepreneurship Summit in Berlin. Da kommen sie zusammen, um zu hören und zu lernen, wie man Unternehmen gründet, wie man sich selbstständig macht, was man können muss und wissen sollte, um nicht zu scheitern. Faltin steht auf der Bühne, und ohne dass er Zeichen von Überheblichkeit zeigt, umgibt ihn die Aura des Erfolgs. Sein Thema: Wie war das damals in den Achtzigerjahren? Und was bedeutet das in der Gegenwart, wenn man die Selbstständigkeit ernsthaft ins Auge fasst.
»David gegen Goliath« ist das Motto seines Vortrags und zugleich Titel seines jüngsten Buches. Er warnt, dass achtzig Prozent aller Gründer scheitern. Es sehe nicht gut aus für die Davids, die hoffnungsvoll anträten und schmählich endeten. Nach herrschender Meinung sei für eine erfolgreiche Gründung viel Kapital erforderlich, und das bedeute im Allgemeinen, dass sich Gründer hoch verschulden müssten. Faltin bestreitet rundheraus, dass in jedem Fall viel Geld bereitstehen müsse. Es komme vielmehr darauf an, die entscheidende Nische zu finden, aus der heraus man klein starten könne.
Zugleich warnt er vor den selbst ernannten Beratern, die Chancen für neue Unternehmen ausschließlich im Bereich der Digitalisierung sähen. Zu denen sage er: »Sind Sie noch im Rausch? Oder sind Sie schon im Kater?« Natürlich könne man in der Welt der Daten erfolgreich sein, aber eine Fixierung auf dieses Segment sei völlig unsinnig. Es gebe auch in traditionellen Branchen immer wieder neue Geschäftsideen. Die vielleicht gerade deshalb übersehen würden, weil man die reale Wirtschaft für auserzählt halte.
Und dann schildert er noch einmal die Gründungsgeschichte seines Unternehmens mit dem Namen Teekampagne, die zeigt, dass selbst ein scheinbar zwischen Herstellern und Handelspartnern komplett aufgeteilter Markt noch erfolgreiche Neugründungen erleben kann.
»Ein Hochschullehrer möchte zeigen, dass er gründen kann«, sagt Faltin über sich in der dritten Person. »Er ist selbst Kaffeetrinker, will aber ein Teegeschäft gründen. Er kommt aus dem Elfenbeinturm der Hochschule, ist nicht praktisch veranlagt, aber er sieht die Chance: Tee ist, wenn er hier verkauft wird, zehnmal so teuer wie am Ursprungsort. Dabei ist Tee ein Fertigprodukt, muss nicht wie Kaffee geröstet oder gemahlen werden.«
Ausführlich beschreibt er den bisherigen Vertriebsweg und die Vermarktung: von der Ernte zum Großhändler, zum Zwischenhändler und bis in das Ladengeschäft des Einzelhandels. Jeder Schritt verteuert das Produkt. Der Einzelhändler wiederum muss viele verschiedene Sorten bereithalten, muss Miete bezahlen und Personal anstellen.
Völlig anders läuft es bei seiner Geschäftsidee: Bei ihm gibt es anfangs nur eine Teesorte, allerdings die weltweit anerkannt beste: Tee aus Darjeeling. Eingekauft wird direkt beim Hersteller, auf der Plantage. Es gibt nur Großpackungen, man kann zwischen 1000-Gramm- und 500-Gramm-Packungen wählen. Eingekauft wird ausschließlich biologisch einwandfreier rückstandsfreier Tee. Es wird den Plantagen mehr gezahlt, als die Konkurrenten bereit sind auszugeben, dafür muss aber auch den Pflückern mehr Lohn gezahlt werden als bis dato üblich. Vertrieb an die Kunden? Nur einmal im Jahr direkt nach der Ernte. Das alles ausschließlich im Versandhandel, bestellt wird online. Das senkt die Kosten, denn es bedarf nur preiswerter Lagerräume, geringer Vorratshaltung, keiner Ladenlokale in teuren Lagen. Keine Werbung, stattdessen Mundpropaganda. So sah sie damals in den Achtzigerjahren aus, die Geschäftsidee des Hochschullehrers. Sie hat funktioniert. Sie war so erfolgreich, dass die Firma mit dem Namen Projektwerkstatt Teekampagne heute der weltweit größte Darjeeling- Importeur ist.
Weil die Teekampagne mit dem Import von Darjeeling an ihre Grenzen gestoßen ist, vertreibt sie inzwischen auch Assam-Tee, Earl-Grey-Tee und Tee in Teebeuteln. Heute gibt es sogar Läden, in denen man den Tee kaufen kann.
Widerstandslos ließ die etablierte Branche das alles keineswegs über sich ergehen. Es gab Plagiate mit ähnlich klingenden Namen, zum Beispiel »Teeinitiative«, es gab Auseinandersetzungen vor Gericht, um die Qualität und Reinheit des Produkts in Zweifel zu ziehen. DIE ZEIT titelte: »Die Konkurrenz schäumt.«
Im Jahr 2009 (damals bin ich Vertreter des ZDF in der Jury des Deutschen Gründerpreises) ist der durchschlagende Erfolg der Teekampagne nicht mehr zu leugnen. Der Deutsche Gründerpreis belohnt bemerkenswerte Start-ups, aber auch das Lebenswerk großer Unternehmer sowie außergewöhnliche Einzelunternehmungen. Ich plädiere auf dem Treffen der Jury dafür, dem Gründer aus dem Elfenbeinturm der Universität, Professor Dr. Günter Faltin, den Sonderpreis zu verleihen. Vor den Kameras des ZDF nimmt er ihn im Juni 2009 in Berlin entgegen.
Zehn Jahre später, das Unternehmen ist stetig gewachsen, erklärt der Gründer seinen Zuhörern beim Entrepreneurship Summit: »Das Konzept der Teekampagne entwickelte sich nicht über Nacht. Zu Beginn meiner Überlegungen stand keineswegs fest, dass es um Tee gehen würde oder um Handel. Ich hatte keine fest gefügten Vorstellungen, wie mein Unternehmen aussehen würde. Am Anfang stand nur der Wunsch, universitäre Lehre und unternehmerische Praxis zu verbinden.« Die Teekampagne sei ein beispielhaftes Konzept, weil es radikal und respektlos in der Sache Konventionen infrage stelle. »Mir ging es nie um Tee. Ich will zeigen, dass fast jeder Mensch in der Lage ist, von seinem Alltagswissen ausgehend ein unternehmerisches Konzept zu entwickeln, etwa indem er einfache, bekannte Prinzipien auf ein neues Gebiet überträgt.«
Den jungen Zuhörern will Faltin etwas mitgeben. Nicht die Höhe des Gründungskapitals sei entscheidend, sondern die sorgfältig erarbeitete Grundidee, also der Punkt, in dem sich das Unternehmen von anderen unterscheidet, wo es dem Kunden mehr und Besseres bietet. Dann könne man auch klein starten. Und man müsse sich als Gründer nicht abarbeiten, indem man alles selbst mache. Das sei einer der Fehler vieler Start-ups. »Wir wollen doch etwas tun, was das Leben besser macht. Es geht nicht um Geld allein. Es geht um ein geglücktes Leben«, sagt Faltin. Als Entrepreneur habe man die Chance, sich das herauszusuchen, was Spaß mache. Alles andere könne man an Dienstleister abgeben. »Das ist der Vorteil, wenn man Chef ist«, sagt er und freut sich am Beifall seines Publikums.
Die jüngste Vergangenheit brachte die Teekampagne in unruhiges Wasser. Auch dieses Unternehmen ist in den Sog der Corona-Krise geraten. Nicht etwa, weil die Kundschaft mit den Bestellungen zögerte. Schließlich läuft der Betrieb ohnehin ohne persönliche Kontakte. Die meisten Kunden haben ihre Teelieferungen über die Homepage abonniert und warten im Sommer schon sehnlichst auf das Päckchen. Das Problem liegt in Indien. Auch dort galten Ausgangssperren. Plantagen mussten ihre Mitarbeiter nach Hause schicken. Betroffen war gerade die Ernte des jungen Tees, des sogenannten First Flush, der besonders begehrt ist. Inzwischen läuft es auf den Teeplantagen zögernd wieder an. Man kann ernten, man kann exportieren. Die Plantagen dort und die Teekampagne hier hat es getroffen, aber nicht vernichtet.
Am meisten ärgerte sich Günter Faltin, als er im Mai 2020 einen ihm wirklich wichtigen Termin absagen musste: »Da nimmt man sich vor, seinen Geburtstag auch einmal ordentlich zu feiern – und dann kommt Corona dazwischen!« Es ging immerhin um den 75. Die Feier will er nachholen.