Читать книгу Restposten - Michael Opoczynski - Страница 7
DIE BRAUCHEN EUCH NICHT MEHR WIE IBM SEINE ZUKUNFT OHNE FESTE MITARBEITER PLANT
ОглавлениеDie Zukunft eines großen Unternehmens ohne Angestellte, mit vielen freien Mitarbeitern? Darüber wird mehr oder weniger laut nachgedacht. Die neuen scheinbar freien Mitarbeiter können dann die Roboter einschalten, die sie ersetzen sollen. Alles ist möglich, aber möglichst ohne Menschen.
Unternehmen der IT-Branche wie IBM sind nicht nur innovativ bei der Entwicklung neuer Produkte, sondern manchmal auch, wenn es um die eigene Arbeitsorganisation geht. Deswegen hat IBM, einer der Großen der Branche, schon mal über die Abschaffung der eigenen Leute nachgedacht.
Die schöne neue Welt von IBM sollte so aussehen: Nur noch wenige feste Mitarbeiter lenken die Geschicke des großen Konzerns. Wie Steuerleute auf der Brücke eines Supertankers. Weil es aber notwendig ist, Produkte und Dienstleistungen mithilfe vieler Menschen anzubieten, sollten diese auch weiterhin beschäftigt werden – nur auf einer anderen Basis als bisher. Die meisten von ihnen sollten als Externe arbeiten. Mit Honorarverträgen. Gut bezahlt, aber nicht fest angestellt. Klingt zunächst einmal recht harmlos. Aber nur, wenn man mit dem Namen des Unternehmens IBM nicht allzu viel verbindet.
Hier ein paar Fakten: IBM hatte früher 400 000 Mitarbeiter. Dann ging es abwärts, aber immerhin: Es waren im Frühjahr 2020 noch etwa 350 000 Mitarbeiter. Fest angestellt, weltweit. In Deutschland waren es in den besten Zeiten 25 000 Beschäftigte, dann gab es immer wieder Entlassungswellen. Heute sind es noch an die 15 000 Mitarbeiter. Jetzt – im Corona-Krisenmodus – hat das Management einen weltweiten Stellenabbau angekündigt, von dem nicht bekannt ist, wie schlimm er ausfallen wird.
IBM ist – trotz des deutlichen Abstands zu Amazon, Google und Microsoft – ein Großunternehmen aus der Welt der Internettechnologie und der künstlichen Intelligenz. Mit achtzig Milliarden Dollar Umsatz im Jahr und ordentlichem Gewinn. Und dennoch gab es schon lange vor der Pandemie diesen Plan, der weltweit aufhorchen ließ und der bei manchen Erschrecken auslöste. Es ging um die extreme Reduktion der Belegschaft. Die festen Verträge fast aller Mitarbeiter sollten aufgelöst werden. Ein kleiner harter Kern ausgenommen. Dieser sollte dann alles leiten, über Projekte entscheiden und Aufträge vergeben. Alle anderen würden nicht mehr auf der Payroll stehen, jedenfalls nicht als feste Mitarbeiter. Das war der Plan. Eine Revolution. Ein Großkonzern mit großem Umsatz, großem Gewinn – und fast ohne Beschäftigte?
Wie schön, denkt sich der Personalchef, endlich ist Schluss mit dem Verwaltungskram, den Lohnüberweisungen, den Krankmeldungen, den Fortbildungen, den Zahlungen an die sozialen Sicherungssysteme (letzteres ist ja besonders in Deutschland extrem lästig). Schluss mit dem dauernden Ärger mit dem Betriebsrat oder den Gewerkschaften (die sind ja in Deutschland besonders stark). Schluss mit der mühsamen Disposition, wenn Leute krank werden, wenn sie Urlaub beantragen, wenn die Frauen schwanger werden. All diese anstrengenden menschlichen Dinge, die das erfolgreiche Führen eines Unternehmens behindern – weg damit!
Für IBM in Deutschland würden damit herrliche Zeiten anbrechen, denn Gesetzgebung hier ist so viel strenger als im Mutterland USA. In Deutschland dürfen die gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter mitreden. Kaum zu glauben, was die Deutschen alles zulassen, das ist ja fast schon Kommunismus!
So sagte das zwar niemand wörtlich bei IBM. Aber vielleicht hat man es gedacht, als man diese Idee zum Laufen bringen wollte. Jedenfalls wäre es für die deutsche IBM-Bilanz verlockend, wenn Umsatz und Gewinn nicht mehr belastet würden von den Kosten einer großen fest angestellten Belegschaft. Aus Management- und Aktionärssicht wäre es schlichtweg wunderbar, wenn der Gewinn von freien Mitarbeitern erwirtschaftet würde.
Als IBM vor einiger Zeit dieses Projekt mit dem schönen Namen »Liquid« munter und mutig ankündigte, rechnete man wohl mit einer begeisterten Aufnahme in der Öffentlichkeit, mit dem Neid der Konkurrenz, vielleicht sogar mit der Zustimmung der Belegschaft. Den allgemeinen Aufschrei? Den erwartete man nicht. Es gab ihn aber, diesen Aufschrei.
In den Medien wurde über den Liquid-Plan mit deutlicher Missbilligung berichtet. Es gab öffentliche Empörung, die weit über die übliche Aufregung bei Konflikten zwischen Management und Belegschaft hinausging: Die wollen ihr Stammpersonal davonjagen! Die wollen die Alten loswerden und nur noch die Besten und Jüngsten mit Werkverträgen beschäftigen! Die wollen jeden einzelnen Auftrag benoten wie einen Schulaufsatz, und wer zweimal, dreimal eine Vier oder gar eine Fünf bekommen hat, der soll für immer draußen bleiben. Dagegen formierte sich ein breiter Widerstand, der den Ruf des Konzerns zu beschädigen drohte. Das hatte das Management vollkommen unterschätzt. Wer will schon Dienstleistungen in Anspruch nehmen von einer Firma, die als unmenschlich gilt?
Was tat IBM daraufhin? IBM tat einfach – nichts! Was sehr geschickt war. Das Programm Liquid wurde nicht in Angriff genommen, obwohl mittlerweile ein paar Jahre vergangen sind. Aber es wurde auch nichts widerrufen, nichts abgesetzt, nichts dementiert. Bis heute wurde Personal zwar langsam abgebaut (in etwa minus 10 000 Arbeitsplätze pro Jahr), aber längst nicht so radikal, wie einst angekündigt. Von dem großen Ziel hat man sich zwar nie ausdrücklich verabschiedet. Von der Umsetzung im Hier und Jetzt aber schon. Wenn aktuell ein Stellenabbau als Folge der Corona-Krise angekündigt wird, bleibt offen, ob es eine krisentypische Entlassungswelle ist oder ob man unter dem Vorwand der Krise Liquid aufleben lässt.
Auf eine aktuelle Nachfrage des Autors bei der deutschen IBM-Zentrale wird so reagiert: »Lieber Herr Opoczynski, vielen Dank für Ihre Anfrage. Ihre E-Mail haben wir an die zuständigen Kollegen weitergeleitet. Wir bedanken uns für Ihre Geduld und verbleiben …« Die »zuständigen Kollegen« haben nie reagiert. Entweder weil es auch sie nicht mehr gibt. Oder weil ihnen keine vernünftige Antwort eingefallen ist.
Wenn man sich heute unter deutschen Ex-IBM-Mitarbeitern umhört, dann erfährt man wenig Positives. Ein paar Stimmen gefällig?
»Totalversagen und Eiseskälte. Innerhalb der nächsten Jahre sollen vier von fünf Jobs entfallen.«
»Wenn ich erzählte, ich arbeitete bei IBM, gab es immer wieder anerkennende Kommentare. IBM hat meines Erachtens nach außen einen guten Ruf – umso erschreckender ist es dann, die internen Zustände kennenzulernen … Mir scheint, das Unternehmen zehrt von seinem Ruhm aus früheren Tagen, kriegt heute aber nicht mehr allzu viel auf die Reihe.«
»Management mit Empathielosigkeit und Kadavergehorsam.«
»Das war mal ´ne gute Firma, und alle Mitarbeiter waren stolz, dabei zu sein.«
»Schwätzer und Blender sind hoch angesehen.«
»Strohmänner für die amerikanische Firmenleitung.«
»Der Leidensdruck wird durch die Unternehmensleitung erhöht, um die Mitarbeiter zum Jobwechsel zu motivieren und die Verlagerung von Jobs in Billiglohnländer zu beschleunigen.«
Und schließlich, quasi als Bestätigung für die Gesamtentwicklung: »Die gute alte IBM – das war mal und ist schon lange vorbei.«
Die gute alte IBM? Wovon redet der?
IBM: Die drei Buchstaben stehen für einen der ganz großen Namen der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte. Es begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem aus einer deutschstämmigen Familie kommenden Herman Hollerith. Er war ein genialer Erfinder, der die Firma Tabulating Machine Company gründete und die nach ihm benannten Hollerithmaschinen entwickelte, mit denen man systematisiert zählen und rechnen konnte. Aus dieser Firma wurde in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts IBM, kurz für International Business Machines.
Mit Büromaschinen und Schreibmaschinen begründete IBM seinen Ruf, entwickelte sich zum Computerhersteller, zum Hardware- und schließlich zum Software- und Beratungsunternehmen. Der Konzern wuchs, gedieh und machte gute Gewinne. Doch manchmal lag man in der langen Unternehmensgeschichte auch ziemlich daneben. Bis heute lacht man intern über den Satz des Vorstandschefs Thomas Watson, der 1943 sagte: »Ich denke, es gibt weltweit einen Markt für vielleicht fünf Computer.« Man bemerkte im Unternehmen gerade noch rechtzeitig, dass der Chef damit nicht ganz richtig lag. IBM stieg schließlich doch entschlossen in den Bau von Großrechnern ein, jene raumfüllenden Riesenmaschinen mit den charakteristischen Spulen und Magnetbändern. Auch der Personal Computer wurde später als Erfolg versprechende Geschäftsidee entdeckt, als Antwort auf die Macs aus dem Hause Apple. Die IBM-Laptops, die sogenannten ThinkPads, eroberten erfolgreich den Massenmarkt.
Irgendwann entschied das IBM-Management, sich von der Hardware, den Business Machines, den Großrechnern und den PCs, ganz abzuwenden und sein Glück mit dem Beratungsgeschäft und Dienstleistungen zu versuchen. Ganze Produktlinien wurden eingestellt. Das ThinkPad-Geschäft wurde an Chinesen verkauft, heute kommen die Laptops von Lenovo.
Dabei steht der Konzern immer noch und immer wieder für außergewöhnliche Produkte und Leistungen. Stichwort Watson. Der legendäre IBM-Chef Thomas J. Watson, der seinerzeit so falsch lag mit seiner Einschätzung zur Zukunft des Computers: Er lenkte den Konzern vierzig Jahre lang, bis zum Jahr 1955. Watson ist für IBM eine Legende. Und so benennt man heute bei IBM eine rechnende Roboterintelligenz nach ihm. Ein Programm, das geeignet ist, die Welt der Arbeit radikal zu verändern.
Dieser künstlich-intelligente Watson macht Menschenarbeit überflüssig. Zum Beispiel so: Sie rufen bei einer Fluggesellschaft an, weil Sie einen Flug von hier nach da buchen wollen. Und dann? Sie glauben, am Telefon hätten Sie es jetzt mit einem Kundenberater zu tun? Einem Menschen? Oder Ihre schriftliche Anfrage werde von einem Angestellten der Linie bearbeitet? Das war einmal!
Heutzutage kommunizieren Sie mit einem sogenannten Chatbot, einem Roboter, der mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Watson-Familie abstammt. Er kennt die Flugverbindungen perfekt, er weiß ganz aktuell, wo noch freie Plätze sind, vielleicht weiß er auch, dass Sie schon mehrfach nach Flügen gesucht haben, dass viele Menschen gerade Flüge zu diesem Ziel buchen, weil dort, wo Sie hinwollen, eine große Messe ansteht. Er schließt daraus, dass Sie diesen Flug dringend brauchen und zieht somit die für seinen Auftraggeber relevanten Rückschlüsse: Es darf für Sie ruhig ein bisschen teurer werden, denn Sie benötigen diese Verbindung sehr dringend. Das alles kann dieser IBM-Rechner, weil er mit sogenannter künstlicher Intelligenz ausgestattet ist. Er kann es besser als ein Mensch. Er kann es Tag und Nacht, sieben Tage in der Woche, er wird nicht krank, ist nie unpässlich und nie unhöflich. Perfekt! Jedenfalls für die Fluggesellschaft. Pech für die Mitarbeiter, die diesen Job bisher machten. Und schließlich auch Pech für Sie, den Endkunden. Denn der Roboter ist schlauer als Sie, schneller als Sie und beim Verhandeln härter als Sie.
Ein anderes Beispiel: Beim Fußballspielen mit den Nachbarskindern hat Ihr Kind nicht das Tor, sondern die Fensterscheibe des Nachbarn getroffen. Wenig später kommt dieser mit der Reparaturrechnung zu Ihnen. Sie reichen die Rechnung des Glasers bei Ihrer Haftpflichtversicherung ein und warten auf die Erstattung des Rechnungsbetrags. Die Versicherung jedoch hat aufgerüstet. Statt eines Sachbearbeiters kommt ein Roboter zum Zuge. Es schlägt die Stunde der künstlichen Intelligenz à la Watson. Während bisher Fachleute die Rechnung und die Schadensmeldung auf ihre Plausibilität überprüften, die Police anschauten und Rechtstexte wälzten und dabei mal mehr oder mal weniger gut waren, vielleicht manchmal auch kulant, entscheidet Watson (der viel mehr als die Menschen im Speicher hat) in kürzester Zeit: Alles stimmt. Rechnung überweisen. Fall abgeschlossen. Oder vielleicht auch nicht. Das ist ja schon die dritte ähnliche Rechnung innerhalb weniger Monate. Watson merkt das und entscheidet: Die Rechnung wird bezahlt, aber anschließend wird der Versicherungsvertrag umgehend gekündigt. Darf der das? Ja, er darf. Er kann. Er hat die Rechtslage und die Präzedenzurteile alle parat. Er erwartet, dass das fußballbegeisterte Kind des Kunden für weitere Haftpflichtschäden sorgen wird. Das wird zu teuer, denkt Watson. Er ist nun mal ein alleswissender Streber. Kein Mensch kann da mithalten. Für die Versicherung ist das natürlich gut. Sie spart Zeit, Geld und Personal. Während zuvor qualifizierte und damit teure Sachbearbeiter die Versicherungsfälle prüften, übernimmt das nun alles der Roboter.
Und nicht nur für die Versicherungsangestellten ist diese Entwicklung von Nachteil, auch für uns als Versicherte. Denn es wird nicht leicht sein, nach dem Rauswurf aus der Haftpflichtversicherung einen neuen Versicherer zu finden. Der Roboter hat sich kollegial mit den anderen Versicherungen vernetzt. Gemeinsam führt man eine schwarze Liste. Wer bei einer Versicherung rausfliegt, kann dies den neuen Versicherern also nicht verheimlichen. Unter diesen Umständen einen Versicherer zu finden, wird somit schwer und teuer.
Der künstlichen Intelligenz haben wir bisher wenig entgegenzusetzen. Vielleicht wird es irgendwann auch ein Hilfsprogramm für die Versicherten geben, das der Gegenseite rechtzeitig vorhält, dass andere Versicherungen billiger und kundenfreundlicher sind. Dann könnten sich die Programme gegenseitig beharken … noch ist so etwas aber eine bloße Träumerei.
Neben den Versicherungen arbeiten auch andere Branchen bereits mit Programmen, die Menschen ersetzen können. Jedoch nicht immer zu deren Nachteil, wie ein kurzer Blick in die Gesundheitsbranche verdeutlicht: Wer zu einem Arzt geht, hofft, dass dieser seine Patienten auf Grundlage des neuesten medizinischen Forschungsstands behandelt. Aber selbst ein bestens informierter erfahrener Arzt ist der medizinisch geschulten künstlichen Intelligenz unterlegen. Denn die versammelt das ständig aktualisierte Wissen vieler Forscher und Mediziner und ist damit stets auf dem neuesten Stand. So kann zum Beispiel eine Blutanalyse entweder von einer medizinischen Fachkraft ausgeführt werden oder inzwischen vereinzelt bereits von einem Rechner. Der Rechner ist dem Menschen überlegen. Denn er ist penibler und korrekter, er verschätzt sich nie, er hat keine guten oder schlechten Tage. Er ist einfach immer bestens präpariert. Ihm gehört die Zukunft, und wir Patienten profitieren davon. Die medizinische Fachkraft aber verliert ihren Job.
So wirkt sich also die schiere Existenz des Großkonzerns IBM doppelt negativ auf die Entwicklung des Arbeitsmarkts aus. Zum einen, indem auf längere Sicht das eigene fest angestellte Personal weitgehend abgeschafft werden soll, um dann mit Freelancern über die Runden zu kommen. Zum anderen, indem diesen freien Mitarbeitern aufgetragen wird, künstliche Intelligenz fortlaufend weiterzuentwickeln, damit andere menschliche Arbeitskräfte bei anderen Unternehmen abgeschafft werden können. Das große Ziel ist es, Kosten zu sparen, wenn auch zulasten der eigenen Belegschaft. Na, wenn das nicht schön ist. Für IBM.