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II.5
ОглавлениеMathematik als Sprache und Logik verstanden stößt auf ein Paradox des Beweises. Dieses lässt sich folgendermaßen formulieren: Einerseits kann der logisch-formale Beweis nur etwas zweifelsfrei beweisen, insofern das Wissen eine feste tautologische Struktur besitzt und der Beweis letztlich aus dem Aneinanderreihen unmittelbarer Identitäten oder Gleichheiten besteht. Dabei reduziert der Beweis andererseits jedoch das mitzuteilende Wissen auf das beim Empfänger bereits vorhandene Wissen und es ist nicht ersichtlich, wie bei diesem Prozess neues Wissen entstehen kann.
Soll also der Beweis Wissen erzeugen, dann kann er kein tautologischer Prozess sein, der einen materiellen oder kausalen Zwang ausübt, sondern er muss Elemente der Verallgemeinerung enthalten und damit sicher auch die Intuition des Subjekts in Anspruch nehmen. Beweis und Erkenntnis verlangen dann nicht nur die Angabe allgemeiner Regeln und Beweisprozeduren oder logischer Argumente, sondern zusätzlich deren Anwendung auf eine Situation, die dem Beweisempfänger oder dem Anwender vollkommen gegenwärtig ist. Und so etwas geschieht gemeinhin in Form von Gedankenexperimenten.
Wenn wir also die Funktion von mathematischen Beweisen besser verstehen wollen, dann sollten wir die Funktion von Gedankenexperimenten betrachten. Sowohl kognitiv wie historisch betrachtet, beginnt jeder formale mathematische Beweis mit einem Gedankenexperiment. Das ist so, weil der Mathematiker ausgedehnte mögliche Welten von großer Vielfalt und relativer Undurchsichtigkeit durchwandert, bevor er etwas deutlich sagen kann. Wie der bedeutende Mathematiker Rene Thom einmal gesagt hat: »In mathematics if one rejects a proof, it is more often because it is incomprehensible, than because it is false. Generally this happens because the author, blinded in some way by the vision of his discovery, has made unduly optimistic assumptions about shared backgrounds. A little later his colleagues make explicit that which the author has expressed implicitly and by filling in the gaps will make the proof complete. Rigor like the provision of supplies and support troops always follow a breakthrough« (R. Thom, »Modern mathematics: does it exist?«, in: G. Howson (ed.), Developments in Mathematical Education, Cambridge 1973, pp. 194–209, p. 204).
Die Analogie zwischen mathematischen Beweisen und Gedankenexperimenten findet sowohl ihre Grenzen wie ihr Interesse in der Tatsache, dass Beweise Elemente formaler theoretischer Kontexte sind, während Gedankenexperimente der Etablierung und Entwicklung derartiger Kontexte dienen. Gedankenexperimente sind von realen Experimenten verschieden; aber sie spielen in vielen Wissenschaftsdisziplinen und in der Philosophie eine wichtige und oft entscheidende Rolle, wobei diese Rolle durchaus nicht verbindlich geklärt ist. Insbesondere ist, wie Thomas Kuhn schreibt, es »keineswegs klar, wie sie überhaupt jemals bedeutende Wirkungen haben konnten. Oft […] haben sie mit Verhältnissen zu tun, die nicht im Laboratorium untersucht worden sind. Manchmal, […] gehen sie von Situationen aus, die gar nicht vollständig untersucht werden können und in der Natur überhaupt nicht vorzukommen brauchen. […] Die Hauptprobleme im Zusammenhang mit Gedankenexperimenten lassen sich als eine Reihe von Fragen formulieren. Erstens: Die in einem Gedankenexperiment vorgestellte Situation darf offenbar nicht völlig willkürlich sein« (Th. Kuhn, Die Entstehung des Neuen, Frankfurt 1977, S. 327).
Zweitens muss man sich fragen, wie kann durch das Gedankenexperiment neue Naturerkenntnis entstehen, wenn doch dabei gar keine neuen Informationen produziert werden wie in einem wirklichen Experiment? »Schließlich die dritte und kürzeste Frage: Was für neue Erkenntnisse lassen sich so gewinnen?« (T. Kuhn, a. a. O.).
Es scheint offensichtlich, dass jemand, der einen Zusammenhang zwischen mathematischen Beweisen und Gedankenexperimenten postuliert, wohl auch gewisse Analogien zwischen der Mathematik und den empirischen Wissenschaften annehmen dürfte. Es ist ja tatsächlich so, dass auch die empirischen Naturwissenschaften nicht einfach »empirisch« sind, sondern an die Realitätsmächtigkeit der Ideen und an die Objektivität der Naturgesetze glauben müssen, um voranzuschreiten. James Brown beispielsweise schreibt: »One of the most common objections to Platonism – more often made in conversation than in print – is that the existence of abstract objects is irrelevant. Would things be any different if abstract objects did not exist? The question is usually asked rhetorically, the presumption being that the obvious answer says things would be exactly the same whether abstract entities did or did not exist. But this is the wrong answer. Things would be very different. If there were no abstract objects, then we wouldn’t have intuitions concerning them; ›2 + 2 = 4‹ would not seem intuitively obvious. It is the same with teacups; if they did not exist I wouldn’t see any and there would be a great mess on the table every time I tip the pot« (J. Brown, The Laboratory of the Mind: Thought Experiments in the Natural Sciences, London 1993, p. 64).
Brown vermeidet hier das eigentliche Problem, welches in der Verallgemeinerung besteht. Es wäre doch seltsam anzunehmen, dass schon die Neandertaler etwas von Teetassen gewusst hätten. Auch der krudeste Empirist glaubt unbesehen, dass ›2 + 2 =4‹ wahr sein dürfte. Welchen Status haben andererseits die allgemeinen Gesetze, die dahinter stehen, die mathematischen Axiome? Sind sie bloße Konventionen oder dürfen wir sie in Analogie zu den Naturgesetzen verstehen? Brown benutzt den Bezug zur Mathematik insbesondere, um den so frequenten Gebrauch der Gedankenexperimente in den Naturwissenschaften zu erklären. ›2 + 2 = 4‹ lässt sich sicher durch ein Gedankenexperiment überzeugend belegen. Nun meint die Unverzichtbarkeitsthese wohl, dass die Objektivität der allgemeinen Gesetze zur Folge hat, dass auch die Zahlen, die u. U. notwendig werden, um diese Gesetze zu formulieren oder anzuwenden, selbst einen objektiven Status haben.
Und Gedankenexperimente sollen uns auf neue Naturgesetze bringen. Schließlich besteht die erste Frage zu der möglichen produktiven Rolle von Gedankenexperimenten: Wie können wir durch bloßes Nachdenken und symbolisches Experimentieren etwas Allgemeines über die Wirklichkeit lernen? »Bei einem wirklichen Gedankenexperiment müssen die zugrundeliegenden empirischen Daten schon von allem Anfang an bekannt und allgemein anerkannt sein; wie kann dann aber neue Naturerkenntnis entstehen?« (Th. Kuhn, Die Entstehung des Neuen, Frankfurt 1977, S. 328). Es scheint nur ein evolutionärer Realismus und eine genetische Perspektive geeignet, diese Fragen zu beantworten und diese Probleme zu lösen (vgl. das in Kapitel I. zum Synechismus von Peirce Gesagte!)
Brown stellt das Prinzip auf, dass Gedankenexperimente in der gleichen Weise zu verstehen seien, wie der Platoniker die mathematische Aktivität verstehen würde: als eine intellektuelle Aneignung eines unabhängig vom Subjekt existierenden Bereiches allgemeiner Gegenständlichkeit. D. h. Gedankenexperimente haben nur einen Sinn, wenn wir nicht der positivistischen Auffassung sind, dass theoretische Gegenstände, wie die Naturgesetze und ihre Begriffe, wie Energie, Kraft, Masse etc., bloße Redeweisen darstellen, sondern dass sie im Gegenteil objektiv und real sind.
Wir nehmen nämlich an, dass in Gedankenexperimenten durchaus auch die Beziehungen der Begriffe zu der gegenständlichen Situation geklärt werden sollen und, dass es also nicht bloß um die begriffliche Kohärenz von Theorien geht. Wenn Gedankenexperimente, obwohl sie, im Gegensatz zu wirklichen Experimenten, keine neuen Daten produzieren, dennoch nicht einfach als Mittel der Eliminierung von Inkohärenzen in unserem Begriffsapparat verstanden werden dürfen und wir mit ihrer Hilfe vielmehr auch die Beziehungen von Wissen und Wirklichkeit oder von Begriff und Begriffsanwendung untersuchen können, dann ist es vernünftig, die Objektivität unserer Begriffe und Ideen oder anderer Universalien wie der Naturgesetze zu folgern. Somit können Quines Überzeugungen, dass wir die Dinge als objektiv gegeben anerkennen sollten, die wir in unsere grundlegenden Theorien aufnehmen, durch Überlegungen zum Begriff des Gedankenexperiments und zum mathematischen Beweis gestützt erscheinen.
In vielen Fällen sind »die Begriffe nur in dem Sinne widersprüchlich, dass bei ihrer Anwendung die Gefahr eines Widerspruchs besteht. D. h. man kann in eine Situation kommen, in der man gezwungen ist, unvereinbare Antworten auf ein und dieselbe Frage zu geben« (T. Kuhn 1977, S. 341). Die Fehler liegen dann darin, dass der Begriffsapparat »nicht der gesamten Feinstruktur der Welt entsprach, auf die er passen sollte. Daher bedeutete die Erkenntnis seiner Schwächen notwendigerweise nicht nur eine Erkenntnis über den Begriff, sondern auch über die Welt. […] Das Ergebnis von Gedankenexperimenten kann das Gleiche sein wie das von wissenschaftlichen Revolutionen: sie können die Wissenschaftler instand setzen, etwas als wesentlichen Bestandteil seines Wissens zu verwenden, was dieses Wissen ihm bisher unzugänglich gemacht hatte. In diesem Sinne verändert sich sein Wissen von der Welt. Und weil sie diese Wirkung haben, häufen sie sich so auffällig in den Werken von Leuten wie Aristoteles, Galilei, Descartes, Einstein und Bohr« (T. Kuhn 1977, S. 345; S. 351).
Wie James Brown selbst in seinem Internetbeitrag zum Thema in der Stanford Encycopledia of Philosophy schreibt: »The account of thought experiments can be further developed by linking the a priori epistemology to recent accounts of laws of nature that hold that laws are relations among objectively existing abstract entities. It is thus a rather Platonic view, not unlike Platonic accounts of mathematics such as that urged by Kurt Gödel.
The two most often repeated arguments against Brown’s Platonism are: it does not identify criteria to tell apart good and bad thought experiments, and violates the principle of ontological parsimony. These are poor objections, and most probably find widespread acceptance because Platonism seems to be unfathomable these days, given the general popularity of various forms of naturalism. If intuitions really do the job in a thought experiment, the first objection is weak because neither rationalists nor empiricists have a theory about the reliability of intuitions. So the objection should be that intuitions probably just do not matter in human cognition. However, there are good reasons to reject the argument (see: Myers, David G., 2004, Intuition. Its powers and perils, New Haven; London: Yale University Press)«.