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II.7

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Im Zusammenhang mit der Frage nach der Rolle der Intuition und des Sehens ist ein Gedankenexperiment von Stolzenberg interessant (G. Stolzenberg, »Can an Inquiry into the Foundations of Mathematics Tell Us Anything Interesting about Mind?«, in: The Invented Reality, P. Watzlawick (ed.), New York 1980, pp. 257–308; P. Watzlawick (Hg.), Die erfundene Wirklichkeit, München 2012, S. 236–293).

Nehmen wir an, wir wären, nachdem wir alles Schritt für Schritt mehrfach genau überprüft haben, von der Richtigkeit eines mathematischen Beweises überzeugt. Nehmen wir weiter an, es käme eine große mathematische Autorität daher und erklärte diesen Beweis, von dem wir vollständig überzeugt waren, für fehlerhaft, ohne uns zu sagen, wo der Fehler steckt. In einem solchen Moment verändert sich die Situation grundsätzlich. Der Beweis scheint nur noch korrekt zu sein, ohne dass man wirklich glaubt, dass er korrekt ist. Man geht nochmals alle Schritte durch, die Argumentation scheint in Ordnung zu sein, aber die Autorität beharrt darauf, dass etwas falsch sei. Der ganze emotionale Bezug ändert sich, und die Sache verliert für einen selbst jede Kraft und jeden realen Wert. Die Kette der Argumente scheint ohne Zusammenhalt und Dynamik und ohne Leben. Man ist deshalb so betroffen oder gar gelähmt, weil die ganze Art und Weise, die Dinge zu sehen und anzugehen, infrage gestellt scheint. Man sieht nicht, was man nicht sieht. Und hier soll uns nun eine logische Analyse weiterhelfen? Woher könnte sie ihre Überzeugungskraft gewinnen?

Was die Autorität mit uns aufgeführt hat, ist wie ein Zaubertrick. Tricks auf der Bühne wirken nur als solche und werden nur als solche wahrgenommen, wenn man selbst als Zuschauer bereits eine eigene Theorie hat und wenn das, was dort vorgeführt wird, mit dieser Theorie keineswegs übereinstimmt. In einem solchen Moment gilt es, die impliziten Grundlagen und Intuitionen eines jeden explizit zu machen. Aber die große Autorität weigert sich hier zu kooperieren. Es gleicht die Situation dem eingangs beschriebenen Kampf zwischen scholastischer und neuzeitlicher Naturwissenschaft. Unsere Intuition und die darauf beruhende Überzeugung von der Richtigkeit unseres Beweises ist ebenso apodiktisch und »autoritär« wie das Auftreten der Autorität, beides kann, jedenfalls solange die Autorität uns eine solche auch bleibt, nicht angezweifelt werden, sonst gäbe es überhaupt kein Wissen.

Peirce hatte es als den wesentlichen Punkt des Cartesianismus bezeichnet, »that to accept propositions which seem perfectly evident to us is a thing which, whether it be logical or illogical, we cannot help doing« (Ch. S. Peirce, »How to Make our Ideas Clear«, in: Selected Writings, New York 1966, p. 116). Zugleich ist der cartesische Intuitionismus anti-autoritär und er ist, »discarding the practice of the schoolmen of looking to authority as the ultimate source of truth«, direkt von der Methode der Autorität auf die der Apriorität verfallen, »passing form the method of authority to that of apriority« (p. 115).

Stolzenberg möchte durch das Gedankenexperiment den Nachweis führen, »dass die Wissenschaft der reinen Mathematik im letzten Teil des neunzehnten Jahrhunderts bei dem Bemühen, sich eine strengere Form zu geben, […] in eine gewisse intellektuelle Falle geraten ist und dass die Mathematiker seit jener Zeit mit Hilfe der Logiker sich immer tiefer in sie verheddert haben« (Stolzenberg, a. a. O., S. 236).

Und insofern der Versuch, die »letzten« Grundlagen unserer Schlussfolgerungen und Überzeugungen explizit zu machen, hoffnungslos ist, hat Stolzenberg wohl recht. Die Texte der Logiker scheinen so deutlich und alles auf der Grundlage der involvierten Begriffe erklärend und die Argumente reihen sich konsequent aneinander wie die Perlen einer Kette. Sie kommen so ruhig und überzeugend und jeden Schritt sichernd daher wie Predigten, auch wenn Rorty sagt, er verstünde Frege nicht und wolle ihn gar nicht verstehen. Die versteckten Prämissen und philosophischen Einstellungen, die diesen Texten zugrunde liegen, sieht man nicht so leicht. Man bemerkt nicht einmal, dass es so etwas wie sehr besondere, versteckte Annahmen gibt, die das ganze Unternehmen steuern.

In der Mathematik ist alles schon von Anfang an deutlich rätselhafter. Es gibt keine Begründungen. Alles ist sichtbar in dieser besonderen Welt, jedenfalls für denjenigen, der über den entsprechenden »mathematischen Blick« verfügt. Wenn man also etwas nicht sieht, was man eigentlich sehen sollte, dann bleiben auch alle Beschreibungen machtlos und man scheint verloren. Doch dann tritt man beiseite und eine winzige Änderung des Blickwinkels löst alle Anspannung und man versteht nicht mehr, wieso etwas nun so deutlich ist, was vorher nicht zu sehen war.

Der berühmte Informatiker Tony Hoare hat einmal gesagt: »Ich stelle fest, dass es zwei Wege gibt, ein Software-Design zu erstellen, entweder so einfach, dass es offensichtlich keine Schwächen hat, oder so kompliziert, dass es keine offensichtlichen Schwächen hat. Die erste Methode ist weitaus schwieriger« (T. Hoare, Dankesrede für den Turingpreis 1980). So zeigt sich die Dynamik der individuellen Erkenntnis: Wahrheit und Gewissheit fallen zusammen. Dies aber ist gerade das Merkmal intuitiver Erkenntnis.

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