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II.10

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In den Studienbüchern der Mathematik wahrscheinlich aller Kontinente finden sich auch Aufgaben wie die folgenden:

– (1)Wie viele durch 5 teilbare Zahlen, die größer als 50 und kleiner als 800 sind, gibt es?

– (2)Auf einem Bauernhof gibt es Hasen und Hühner. Zusammen verfügen sie über 9 Köpfe und 24 Beine. Wie viele Hasen sind auf dem Hof?

– (3)Ein Quadrat in der Ebene hat 9 »Teile«, 4 Ecken, 4 Seiten und eine Fläche. Wie viele Teile hat ein vierdimensionaler Würfel? Und ein fünfdimensionaler?

– (4)Wie viele Schnitte sind notwendig, um einen Würfel in 27 gleiche, kleinere Würfel zu zerschneiden?

– (5)Zeichne in ein gegebenes Dreieck ein Quadrat so ein, dass zwei seiner Ecken auf einer Dreieckseite liegen und die beiden restlichen Ecken auf den beiden anderen Dreieckseiten.

– (6)Gegeben seien zwei Räder. Der Radius des einen ist 3-mal so groß wie der Radius des anderen. Wenn man das kleinere Rad nun auf dem größeren abrollen lässt, wie viele volle Umdrehungen vollführt es dabei?

Die Aufgaben mögen sehr unterschiedlich sein, aber die Lösungsstrategien sind sehr homogen und sie teilen sich in zwei Gruppen. Man löst derartige Aufgaben entweder, indem man Begriffe bildet und auf der Basis der Bedeutung der involvierten Begriffe, der Sprache, der Logik und der Arithmetik sich ein Zustandekommen des beschriebenen Zustands vorzustellen sucht, gewissermaßen eine Geschichte zu rekonstruieren versucht. Beispielsweise klassifiziert man in der Aufgabe (4) die verschiedenen kleinen, durch Schnitte herauszulösenden Würfel, je nachdem wie viele Schnitte zu ihrer Herstellung notwendig sind. Ein Eckwürfel benötigt 3 zusätzliche Schnitte, ein Kantenwürfel 4 und der Würfel im Zentrum des großen Würfels 6. Also sind, wie immer man es anstellen mag, auch stets mindestens 6 Schnitte notwendig, wenn man den großen Würfel aufteilt.

Die zweite Methode besteht darin, ein mathematisches Modell zu erstellen, ein Diagramm, ein algebraisches Gleichungssystem oder was auch immer, mit dessen Hilfe man nach Mustern sucht, eventuell in einer vereinfachten Version der fraglichen Aufgabe. Ein simpler Fall bestände darin zu beweisen, dass 3 x 5 = 5 x 3, d. h. dass die Faktoren bei der Multiplikation vertauschbar sind. Man kann das im Beispiel nachrechnen und dann mithilfe der vollständigen Induktion der Arithmetik verallgemeinern. Man kann sich andererseits das Modell eines Getränkekastens vorstellen, der in drei Reihen von je fünf Fächern unterteilt ist. Und wenn man dann etwa die Saftflaschen eines vollen Kastens abzählen will, kann man das offenbar auf mehrere Weisen tun, indem man z. B. erst die Reihen und dann die Fächer einer Reihe zählt oder umgekehrt.

Ein komplizierteres Beispiel handelt von Formelidentitäten, die die Anzahl der Auswahlen von k Elementen aus einer Menge von n berechnen. Diese Anzahl wird durch das Symbol wiedergegeben. Wenn nun n! das Produkt aller Zahlen von 1 bis n bezeichnet, gilt offenbar die Gleichung (1).



Wir beweisen die Gleichung (2) auf zwei Weisen, einmal strukturell modelltheoretisch und einmal algebraisch.

Was die erste Methode angeht, so denken wir uns das Modell des Kugelziehens aus einer Urne. Wir markieren nun eine Kugel! Dann ist die Gesamtheit der Möglichkeiten, k Kugeln aus einem Haufen von n auszuwählen, dadurch bestimmt, dass wir zuerst die Anzahl der Auswahlen zählen, in denen die markierte Kugel vorkommt. Das ergibt den ersten Summanden der Gleichung (2). Und nun zählen wir die Anzahl der Auswahlen, in denen die markierte Kugel nicht enthalten ist. Das ergibt den zweiten Summanden!

Bei der algebraischen Methode benutzen wir die Gleichung (1):



Wenn man nun beide Ausdrücke addiert, erhält man das Gewünschte!

Die überwiegende Mehrzahl der Menschen und auch die Philosophen in ihrer Mehrheit gehen den ersten Weg, während die Mathematiker im Allgemeinen eher nach Strukturen und Mustern suchen werden. »Wenn du Schwierigkeiten mit einer Aufgabe hast, suche dich zu erinnern, ob du eine ähnliche oder verwandte Aufgabe kennst.« Dies ist der häufigste Ratschlag, den die Mathematiker geben. Und in dem vielleicht berühmtesten Aufgabenbuch, in G. Polyas »Schule des Denkens« (Bern 1949), findet sich als einzige allgemeine Lösungsregel der Hinweis auf die Bedeutsamkeit von Analogien, und Analogien beruhen auf Strukturähnlichkeiten. Und was der Ratschlag bedeuten könnte, sich ein ähnliches oder einfacheres Problem vorzustellen, wird bezüglich der nicht einfachen Probleme (6) und (7) an anderer Stelle gezeigt (vgl. M. Otte 2003, »Does Mathematics have Objects?«, Synthese vol. 134, 181–216, pp. 210–215).

In komplizierteren Fällen kann man manchmal gar nicht anders verfahren. Die Aufgabe (2) löst man sehr einfach, indem man jedem Kopf zwei Beine zuteilt und die restlichen Beine zu Paaren zusammenfasst. Die Anzahl dieser Paare ist gleich der Anzahl der Hasen. Wenn man sich die Aufgabe komplizierter vorgibt, etwa indem man den Tieren Hörner verleiht und sagt: Wir haben zwei Arten von Tieren, Einhorne und Zweihorne, und die Einhorne haben 2 Beine und die Zweihorne 3. Und wir haben A Beine und B Hörner. Wie viele Tiere beider Arten sind da? Eine solche Aufgabe ist, wenn die Zahlen A und B nicht zu groß sind, auch noch argumentativ zu lösen. Bei größeren Zahlen benötigt man jedoch die Modellierung durch algebraische Gleichungen.

Die Mathematik erscheint so als die Wissenschaft von den Strukturen Was gezeigt wird, ist die Struktur einer Menge von Dingen, die in bestimmten Relationen zueinander stehen und die dadurch Bedeutung erhalten. Unter den Dingen können wir uns alles Mögliche denken und insbesondere auch wieder Strukturen. Der Witz bei der Sache ist, dass wir uns alles Mögliche denken sollen, weil jede Interpretation der Relata der Strukturen uns neue Ideen und Einsichten vermittelt. Wie bereits gesagt, arbeitet die Mathematik in der Regel mit einer Dualität von Struktur und Modell oder Interpretation.

Einige Beispiele zum mathematischen Strukturalismus (leider können wir hier nicht zeichnen)! Man denke oder zeichne sich ein gleichseitiges Dreieck und nenne seine Ecken (im Uhrzeigersinn), x, y, und z. Daneben schreibe man die Ausdrücke:

A) x + y + z;

B) xy + y + z.

Vom gewöhnlichen empirischen Standpunkt aus betrachtet gehören A und B zur Algebra und das Dreieck zur Geometrie, und so würde man sie auch klassifizieren. Wenn man jedoch von der Symmetrie des gleichseitigen Dreiecks ausgeht und dieselbe näher betrachtet, stellt man etwa fest, dass bei der Vertauschung der drei Ecken x, y, und z das Dreieck invariant, d. h. unverändert, bleibt. Und wenn man schließlich bemerkt, dass dies für den Ausdruck A) ebenfalls gilt, für B) jedoch nicht, dann könnte man auf die Idee kommen zu sagen, unter dem Gesichtspunkt der Symmetrie wären das gleichseitige Dreieck und der Ausdruck A) verwandter als A) und B). Dies ist die strukturelle Sichtweise, im Unterschied zur konkret-empirischen.

Die Gesamtheit der Transformationen des Dreiecks (Rotationen und Spiegelungen), die das gleichseitige Dreieck wieder in sich selbst überführen, nennt der Mathematiker eine Symmetriegruppe oder Transformationsgruppe. Eine Gruppe G ist eine Gesamtheit von irgendwelchen, in der Regel unbestimmt bleibenden Elementen, zusammen mit einer Verknüpfung, die jedem Paar (a;b) von Elementen in G ein Element in G zuordnet, das hier mit a: b bezeichnet wird. Die Verknüpfungsregeln fordern, dass immer a: (b: c) = (a: b): c gilt und dass die Gleichungen a: x = b und y: a = b für jedes Paar (a; b) von Elementen in G lösbar sind. Die Mathematik beschäftigt sich, wie gesagt, eher mit der Struktur der Beziehungen zwischen Dingen als mit den Dingen selbst.

Sei R1 beispielsweise die Rotation um 120 Grad im Uhrzeigersinn um das Zentrum des Dreiecks, die die Ecke x nach y und y nach z und z nach x transportiert, dann gilt offenbar: R1 · R1 · R1 = Identität (= I). R2 sei die Rotation im selben Sinn um 240 Grad. Bezeichnet weiter Sx die Spiegelung des Dreiecks um die Symmetrieachse durch x, die also x fest lässt und y und z miteinander vertauscht, dann gilt Sx · Sx = I; und weiter Sx · R1 = Sz, usw. usf. (Natürlich muss man sich das aufmalen und konkret nachvollziehen und kann es nicht einfach dem Text durch bloßes Lesen entnehmen).

Die sechs Operationen I; R1; R2; Sx; Sy; Sz bilden bezüglich der obigen Verknüpfung eine Gruppe, die im Kontext der Algebra in natürlicher Weise mit der Gruppe aller Permutationen der Elemente x, y und z identifiziert werden kann.

Bleiben wir in der Algebra und betrachten nun die folgenden sechs Ausdrücke (Funktionen):

f0(x) = x; f1(x) = 1/(1-x); f2(x) = 1-1/x;

g1(x) = 1/x; g2 = 1-x; g3(x) = x/(x-1).

Diese Funktionen bilden ebenfalls eine Gruppe, wenn man die Verknüpfung als Einsetzung oder sequentielle Anwendung definiert, also:

f1(g1(x) = 1/(1-1/x) = x/(x-1) = g3(x).

Man kann nun nachrechnen, dass diese Gruppe ihrer Struktur nach dieselbe ist, die wir vom gleichseitigen Dreieck her kennen. Beispielsweise entspricht f0(x) dem alten I und f1(x) dem alten R1.

Wir haben nämlich f1(f1(x)) = 1/(1-1/(1-x)) = (1-x)/(-x) = 1-1/x = f2(x); und daher also: f1(f1(f1(x)) = f1(f2(x)) = f1(1/1-f2(x)) = (1/1-(1-1/x)) = 1/ (1/x)) = x = f0(x) = I. (Wir haben dieses Beispiel der Funktionen von Timothy Gowers entliehen: T. Gowers, Vividness in Mathematics and Narrative; in: A. Doxiadis/B. Mazur (Hg.): Circles Distributed, Princeton UP 2012, chapter 7).

Noch interessanter und erstaunlicher wird die Sache, wenn wir uns fragen, ob es eine Heuristik geben könnte, die diese Gruppe mit dem Begriff des gleichseitigen Dreiecks verbindet. Und die gibt es, wenn wir uns eine Verschmelzung von Algebra und Geometrie denken, wie sie durch die komplexe Zahlenebene gegeben ist, die wir dann noch durch einen unendlich fernen Punkt ergänzen. D. h. wir versehen die gewöhnliche geometrische Ebene mit einer algebraischen Struktur, indem wir jedem Punkt eine komplexe Zahl z = a + ib zuordnen, wobei die Zahl i dadurch definiert ist, dass gelten soll: i2 = –1 (wie das im Einzelnen vor sich geht, soll hier nicht weiter erörtert werden, obwohl es keine großen Geheimnisse birgt).

Wir können uns nun ein Dreieck denken, dessen drei Ecken durch die Zahlen bzw. »Punkte« 0, 1 und ∞ (unendlich) dargestellt werden. Wir haben nämlich: f1(0) = 1; f1(1) = ∞; f1(∞) = 0, so dass tatsächlich dann f1(x) dem alten R1 entspricht. Entsprechend kann man sich alle Korrespondenzen ergänzen. Interessant ist, dass man sieht, dass die Mathematik nicht formal in dem Sinne ist, dass sie keine Objekte besäße, aber ihre Objekte sind gewissermaßen Variablen, die unterschiedlich interpretiert werden und in unterschiedliche »Welten« (Modelle) versetzt werden können.

Wir sagen, unsere Beispiele verallgemeinernd, dass die Mathematik die Beziehungen zwischen Gegenständen und deren Struktur untersucht und dann weiter die Beziehungen zwischen Strukturen usw. usf.

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