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Das Selbstbild der Schiedsrichter – Ein tolles Kapitel

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»Jedermann kennt uns aus den neunzig Minuten eines Spiels, doch wer weiß schon, wer wir sind, was wir tun, was wir denken, wenn wir nicht auf dem Spielfeld stehen?«

Pierluigi Collina

»Was der Mensch nicht aus sich selbst erkennt, das erkennt er gar nicht.«

Ludwig Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion

»Markus fliegt mit 14 Jahren aus der Mannschaft, weil der Vater eines Mannschaftskameraden unmittelbar vor dem Spiel für seinen eigenen Sohn erfolgreich Lobbyarbeit beim Trainer betreibt. Tief gekränkt schmeißt er die Brocken hin. Sauber und ordentlich, wie er es daheim lernte. Er legt das Trikot ein letztes Mal zusammen. Im nächsten Sportgeschäft hätten sie es nicht besser können, pedantisch gerade liegt das Ding da, wie ein Mahnmal des Aufstandes. ›Trainer, das war es‹, sagt er wütend und stapft davon. Vater Merk ist mächtig sauer. Er wollte einen Wettkämpfer, nun hat er einen Sohn, der Schiedsrichter wird.«

So hat es Dr. Markus Merk aufnotieren lassen vom Journalisten Oliver Trust in seiner Autobiografie Bewegend der Mit- und Nachwelt zum Nutzen und Frommen. Und fürwahr, liegt nicht in diesem Anfang, im Trotz und Aufbegehren des gedemütigten Kindes, schon alles begründet, was den späten, den »Weltschiedsrichter« Merk ausmachen wird? Jawohl, es liegt: nämlich »das Entscheiden, das Auftreten, das Vermitteln von Entschlussfähigkeit« genauso wie die Gabe, »das, was ich tue, gut zu präsentieren«. Bald würde der Schrillton seiner Pfeife Stadien und Fan-Gemüter erschüttern, »bald würden sie ihm nachbrüllen und ihn für ihr Unglück verantwortlich machen. So als habe er sie um Haus und Hof gebracht, mit einem einzigen fahrlässigen Pfiff.«

Doch das wird ihn nicht jucken. Nicht einen wie Merk, der aufwächst »300 Schritte« vom Betze, vom Fritz-Walter-sein-Berg, entfernt, in der »22-qm-Küche«, wo »die gesamte Einrichtung in Rot« leuchtet wie das Trikot des FCK und der Bub »seinen Helden mit der Pfeife« serviert auf des Vaters Geheiß an jedem zweiten Samstag »Sprudel, ein Bier, Pfälzer Wein oder ein Glas Sekt, pfälzische Hausmannskost und ein herzhaftes Bauernbrot«. Denn siehe, der Vater, »ein herzensguter Mensch«, ist auch ein Unparteiischer und zugleich ihr Betreuer, wenn der DFB welche schickt, die schiedsen sollen die Roten Teufel. »In diesen Tagen wächst ein Pflänzchen in Markus«, so erzählt die Mär. Es muss nur noch entdeckt werden. Und so geschieht es. Eines Tages hockt Albert Dusch in der Küche, der genannt werden muss »in einem Atemzug mit Größen wie Gottfried Dienst, Rudolf Kreitlein, Kurt Tschenscher und Kenneth Dragnall« (Gotthard Dykty), und er lässt das unbestechliche Referee-Auge ruhen auf dem Knaben mit Wohlgefallen, denn er spürt dessen »unermüdliches Streben nach Perfektion« (Oliver Trust). Und wie er strebt! Klein Merk liest abends »nicht Karl May, sondern das Regelwerk«, staunt der Vater und staunt bald noch mehr, als der es aufsagen kann »Wort für Wort. Punkt für Punkt. Wie ein Automat, programmiert von den Schöpfern der Regeln«.

So kommt Markus Merk unter die Schiedsrichter. Dort sind schon Michael Prengel und Hellmut Krug, welche ebenfalls in sich tragen das Erbe der pfeifenden Väter. Andere verschlägt ein kaputtes Knie, ein gerissenes Kreuzband zur Schiedsrichterei. Wieder andere, unsportliche, gibt es, für die ist »der Ball ein Würfel« (Buffy Ettmayer), weshalb sie besser ablassen vom aktiven Fußballspiel. Da gibt es gleich »ein paar von der Sorte« (Wolf Günther Wiesel). Der DFB nimmt sie alle, denn an guten Referees herrscht Mangel immerdar. Aber egal, was diese und jene an-, um- und letztendlich zur Pfeife treibt, wer hinein will ins »Stahlbad Bundesliga« (Eugen Strigel), in die »Elite der Unparteiischen« (Volker Roth), der muss »alles – auch Familie und Beruf – unterordnen der Schiedsrichter-Tätigkeit«, denn merke: »Die Basis aller Schiedsrichter ist die Heimat-Gruppe« (DFB-Schiedsrichterhandbuch).

Dort muss er nicht leben wie ein Mönch, doch bedenken, »dass sich die Interessen zweier Partner in der Ehe entsprechen sollten«. Eine »Allgemeingültigkeit«, die Dieter Pauly viel zu spät aufging und sich verhängnisvoll paarte mit der Erkenntnis, dass Frau Pauly die »Liebe zum Fußball« weder teilen, noch »auf Dauer tolerieren« konnte. Anderseits, wie sollte er sowas ahnen, Pauly war ja nie zu Hause. Wenn er »nicht als Schiedsrichter unterwegs war«, besuchte er »Stadien oder saß vor dem Fernseher, um Anschauungsunterricht zu nehmen. Wurde gerade nichts dergleichen geboten, so stand garantiert ein Lehrabend für Schiedrichter auf dem Programm.« Die Ehe wurde nach elf (!) Jahren geschieden. Schiedsrichterfrauen sollten sein wie Birgit Merk. Sie schafft es, des Gatten »bewegtes und bewegendes Leben zu fördern, ohne zu fordern und dabei bescheiden im Hintergrund zu bleiben.« (Markus Merk) Ist aber so eine Frau gefunden, ist alles gut.

Dann gilt es, »sich weitgehend der Schiedsrichtersache« zu verschreiben (DFB-Schiedsrichterhandbuch), um ihr Wesen zu begreifen in voller Gänze und Pracht und wie es sich offenbart in Schrift und Wort und da heißt: Gesegnet sei der Unparteiische mit »Charakterstärke« (Rudolf Kreitlein), mit »Mut und Durchsetzungsvermögen« (Manfred Amerell), mit »gesundem Menschenverstand, einer gewissen Ausstrahlung und guten Umgangsformen« (Eugen Strigel). »Untadelig« sei der Referee, »unangreifbar, korrekt und fair«. So spricht Wolfgang Mierswa, der Vorsitzende des Verbands-Schiedsrichter-Ausschusses in Niedersachsen.

Und er spricht auch so: »Wir bemühen uns, ihm das zu vermitteln.« Das ist das eine. Vollendung aber, weiß Pfeifenfrau und Pfeifenmann, Vollendung kann nur werden durch »Persönlichkeitsbildung« (Merk), »Persönlichkeitsentwicklung« (Elke Günthner), »Persönlichkeitsschulung« (Urs Meier), durch »entschlossenes Arbeiten an sich selbst« (Pierluigi Collina), durch »ständige Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit« (Hellmut Krug), weil ja »seit dem Hoyzer-Skandal die Persönlichkeit immer wichtiger« wird (Mierswa).

So wichtig, wie »der Grat zwischen Buhmann und anerkannter Persönlichkeit schmal« ist, spricht Amerell, der alte Fahrensmann. Aber so der Referee jung ist und schmort im besten Saft, mag er nicht einsehen, wie das Schiedsen und das Gratwandern funktionieren sollen, ganz ohne ein »Talent zur Dickfelligkeit« (Kuno Fischer). Daher ist tatsächlich oft ein großes Wundern unter den Menschen, wie mächtig eilig manchem das Pelzhaar sprießen kann.

Zum Beispiel einem aus Burgdorf mit Namen Florian Meyer. Längst hat er verbannt den Namen des Hoyzer »aus dem Gedächtnis und Sprachgebrauch« und ebenso resolut das Pokalfinale 2005 aus seinem Schädel operiert, welches Schalke bekanntlich gegen Bayern vergeigte und die FAZ genannt hat:«ein hitziges Spiel voller Fehlentscheidungen«. »Das«, sagt Mayer, »ist abgehakt, professionell aufgearbeitet«.

Und das ist recht getan. Denn ein- und für alle Mal sei es nunmehr und hierorts verkündet und den Verleumdern und Spöttern der Schiedsrichterei eingraviert in den Hohlraum zwischen zwei tauben Ohren. Es liegt kein Nachdenken auf dem Platz und auch kein Überdenken, da liegt nur die nackte Wahrheit (Otto Rehagel) und »wer die Wahrheit nicht kennt, ist ein Dummkopf« (Bertolt Brecht). Die Wahrheit indes verlangt vom Referee nur eines: die »Tatsachenentscheidung« (DFB Regel 5), »eine Entscheidung in den unerwartetsten, unvorhersehbarsten Situationen unmittelbar, also im Bruchteil von Sekunden« (Pierluigi Collina), und sie verlangt, »auch dazu zu stehen« (Barbara Steinhaus), keinesfalls aber, wirklich keinesfalls ist gestattet »Entscheidungen zu verschleppen«. Das Verschleppen von Entscheidungen, das sei das Ärgste, sagt Markus Merk, denn es »zeugt von Unsicherheit, weckt Emotionen und Subjektivitäten«. Nicht nur im Stadion, auch »bei meinen Mitarbeitern und Verhandlungspartnern«. Also steht es geschrieben in den Expertisen über Alltagstechniken, welche Dr. Merk, der Zahnmedicus, Weltschiedsrichter, »Berater«, »Vortragsreisende« und »Motivationstrainer« gerne nach Spielschluss »an Firmen und andere Kunden vermittelt« (Christian Eichler).

Ja, längst ist der Fußball eingeholt und eingemeindet vom trübsinnigen Alltag und seinen Techniken. Früher war der Fußball ein Fest und der Unparteiische vertrat dabei »die Amtsautorität im Stadion« (Gerd Hortleder), ohne dass ihm einer widersprechen wollte. »Jetzt«, spricht Mierswa und schüttelt traurig das Haupt, »jetzt ist der Schiedsrichter keine Amtsautorität mehr.« Weil, man lebe in Zeiten, welche die Autoritäten mit Zweifel, den Referee aber mit Argwohn und Spott überziehen. Das hat Konsequenzen.

Während der Kreisligareferee gemobbt, bespuckt und geschlagen oder, so er ein Glück hat, geduldet wird, materialisiert sich in der Bundesliga ein Referee »neuen Typs« (Christian Eichler). Wir wollen ihn nennen den Dienstleistungs-Schiri. Er misst sich und den Fußball mit den Parametern der Ökonomie. Weshalb seine Rede spröde ist und dumm wie die des Zugführers Mehdorn. Dauernd muss etwas standardisiert, optimiert, professionalisiert und kommuniziert werden. Der Dienstleistungs-Schiri sagt: »Spielleitung ist Menschenführung« (Florian Meyer) und die Spieler sind ihm ein »Menschencocktail aus 22 unterschiedlichen Charakteren« (Kuno Fischer). Statt ein Match zu pfeifen, betreibt er »Spielmanagement«, statt auf dem Rasen jobbt er im »Unternehmen Fußball«, statt zärtlich »blinde Bratwurst« (Fredi Bobic), will er, dass man ihn »Leistungssportler« tituliert, »Einzelkämpfer« und »Psychologe«, gern auch »Mittler zwischen Menschen und Mannschaften« und »Fußballer, Spezialgebiet Schiedsrichterwesen« (Markus Merk).

So befördert, mag er nie mehr erleben, dass Ricelme oder Ronaldinho, van der Vaart oder Figo ihm die Hacken zeigen und den Rang ablaufen. Er sieht sich längst auf gleicher Höhe stehen, denn »wir haben keine Nr. 10 auf dem Rücken, aber irgendwo sind wir auch Spielmacher.« So spricht Dr. Merk. Volker Roth aber hört man frohlocken, dass Schiedsrichter nicht länger mehr seien«ein notwendiges Übel«, sondern »ein wertvoller, ja unverzichtbarer Teil des großen Spiels« und »noch nie so bekannt und interessant wie heute.« Gleichzeitig jedoch nagt die Frage ihm ein ballrundes Loch in den Bauch, warum »es bislang kaum gelungen ist, ihr Image zu verbessern?« Und siehe, dies ist eine gute Frage. Weshalb auch schon viel Grübeln, Spekulieren und Streiten war unter den Unparteiischen und immer noch ist. Denn die richtige Antwort hat noch niemand gefunden.

Obwohl Collina spricht, Schuld sind die Trägen und Faulen, »die sich gemütlich im Fernsehsessel eine Szene wieder und wieder, natürlich in Zeitlupe, ansehen können«, um dann zu verkünden: »Nein, Schiedsrichter sind wie Richter. Die dürfen sich einfach nicht irren.«

Des Rätsels Lösung, widerspricht Herbert Seiler, seien Eile und Stress, von dero misslichen Folgen er darlegt ein Exempel in der Postille Pfeife’n’kopf unter dem Titel »Haifa – Schiri blau«: »Auf der Anreise zum UEFA-Cup-Spiel zwischen Hapoel Haifa und dem FC Brügge schaute das Schiedsrichter-Team etwas zu tief ins Glas. Aufgefallen waren sie durch Tanz- und Gesangseinlagen beim Verlassen des Flugzeuges, auch Zöllnerinnen wurden umarmt. Anschließend sorgten sie – offensichtlich stark alkoholisiert – in der Innenstadt von Tel Aviv für Verwirrung, als einer der Zecher versuchte, den Verkehr zu regeln. Sie wurden daraufhin selbst aus dem Verkehr gezogen.«

Ein klarer Fall von mangelnder »Persönlichkeitsbildung«. Der Referee, spricht Dr. Merk, muss »genau überlegen, wie man sich in der Öffentlichkeit präsentiert, genau überlegen, wo man sein Bier trinkt«, und wissen, dass es nicht angehe »in einem Lokal auf dem Tisch zu tanzen«. Wer das unbedingt wolle, so die Conclusio, »muss das bei sich zu Hause tun und schauen, dass er vorher die Rollläden schließt«. Oder in den Katakomben des Stadions, hinter verschlossener Kabinentür, dort, wo Merk sich gewöhnlich hineinpfeift »die obligatorische Flasche Sekt nach gelungenen Spielleitungen«.

Vielleicht kränkelt das Schiedsrichter-Image just an dem Faktum, dass beprostenswert gelungene Spielleitungen so selten und kostbar sind, dass das ganze Entscheiden, Spitzenleisten und Verantworten, »gar nicht so einfach ist« (Pierluigi Collina), dass es »Kritik schafft. Sicher positive, vielmals jedoch auch negative« (Volker Roth).

Weil dieses Problem aber allzu verzwickt und Erdenmenschen eigentlich gar nicht begreiflich ist, gibt uns Roth, der große Vorsitzende im Ausschuss der Schiedsrichter, das Gleichnis von den »vierundvierzig Beinen«. Und das Gleichnis ist voller Weisheit und geht so: »Das Spiel von 44 Fußballer-Beinen hat in allen Klassen nicht von seiner Attraktivität verloren. Wohin würden aber diese 44 Beine laufen, gäbe es auf dem Platz nicht den Schiedsrichter?« Ja, wohin?

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