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Wo ist der Schiedsrichter? – Prähistorische Betrachtungen
Оглавление»Das beharrlichste Merkmal im Niedergang befindlicher Zivilisationen ist ihre Tendenz zur Standardisierung und Uniformität.«
Historiker Arnold J. Toynbee (1889 – 1975)
»Das Schiedsrichterwesen wartet noch auf seinen Historiker oder seine Historikerin. Denn auf jeden Fall besitzt es eine Geschichte.«
FIFA 1904 – 2004. 100 Jahre Weltfußball
Gelegentlich etwas Kugelförmiges zu werfen, zu schlagen, dagegen zu treten, zu fangen oder zu jonglieren – dies Gebaren scheint eine Konstante in der Menschheitsgeschichte zu sein. Solche Konstanten, wie verlässlich rekonstruiert auch immer, sieht der Homo sapiens sapiens gern. Sie vermitteln ihm ein behagliches Gefühl, den Tiefenglanz der Vergangenheit, betten ihn ein in Traditionen. Im Falle des Balls kann man sich unter andren auf die Ägypter, Mayas, Chinesen, Japaner, Azteken, Griechen oder Römer berufen. Wenn sie einen runden oder nahezu runden Gegenstand bewegten, war’s ein Spiel, ein Vergnügen, war’s Ritual oder kultische Handlung, zumeist bestimmten sozialen Gruppen zugeordnet, beschränkt auf lokale Gemeinschaften. Wieviel das mit dem Fußball zu tun hat, so wie wir ihn kennen, sei dahingestellt, ist die falsche Frage.
Deshalb lassen wir sie auf der Suche nach den Schiedsrichtern beiseite. Wir verzichten auf die folkloristische Visite, erwähnen nur im Vorbeigehen jene mit Federn und Haaren gefüllte Lederkugel, die vor mehr als 2000 Jahren in China mit dem Fuß in ein Netz getreten wird; schlagen einen Bogen um die japanischen Tempelbezirke, wo bei der Kemari-Zeremonie der Ball nicht den Boden berühren darf; wir überspringen das Kalagut, das die Eskimos spielen, das Lapta in Russland und das Hornussen in der Schweiz. Wo bleibt der Schiedsrichter?
Im Nu überblenden wir zu einem Erinnerungsbild aus der Kindheit. Wer vermisst den Schiedsrichter beim Kick auf der Straße, im Drahtverhau eines Bolzplatzes, auf der Wiese (» ... nicht gestattet«)? »Letzter Mann hält« oder »Fliegender Torwart«? »Drei Ecken ein Elfer« oder ohne Aus an der Torlinie? Man einigt sich rasch, ein paar Absprachen, es kann losgehen. Prallen dennoch zwei Ansichten aufeinander, weil zum Beispiel das Tor nicht durch Pfosten und Querlatte, sondern einen Haufen Kleider gekennzeichnet ist, entscheiden meist die Älteren, ob der Ball drin war oder nicht. Wenn das nichts hilft, wird es laut. Manchmal steigert sich der Streit bis zur Rauferei, die mit blaugeschlagenen Augen, zerdellten Nasen, gebrochenen Schienbeinen, blutenden ... Wo bleibt der Schiedsrichter?
Zunächst begegnen wir dem Maestro di Campo! Einem Mann im schwarzen Rock und mit Halskrause. Er trägt als Zeichen seiner Würde ein Schwert und wacht über den Calcio fiorentino, die große Rennaissance-Gala in Florenz, die andere Stadtstaaten in Italien adaptieren. Calcio ist ein Bastard aus Rugby und Ringen im Griechisch-Römischen Stil und »Der Meister des Feldes« verantwortlich dafür, »die Ruhe zu gewährleisten und bei Streitigkeiten ein Urteil zu fällen«, wie es in dem Buch Memorie del Calcio Fiorentino von 1688 heißt. Zum Ehrenkodex, den der Maestro zu überwachen hat, gehört das Verbot, den Gegner zu beißen. Er ist, wenn man will, der erste dingfest zu machende Vorläufer des Fußballschiedsrichters.
Er verschwindet aber gleich wieder, obwohl wir uns den Prototypen des modernen Fußballs nähern. Dieser entsteht Mitte des 18. Jahrhunderts, hinter den Mauern der britischen Public Schools, den Privatschulen der adligen und bürgerlichen Eliten. Er basiert, je nach örtlichen Vorlieben und topographischen Bedingungen stark variierend, auf den so genannten »mob games«, Raufspiele mit unbegrenzter Zahl der Beteiligten, ausgetragen unter viel Getöse, vielerlei Namen und Variationen in ganz Europa. Ihre wichtigste, wenn nicht einzige Regel besteht darin, einen Ball – egal wie und wie lange es dauert – ins meilenweit entfernte Tor, dass heißt über die Ortsgrenze der benachbarten Siedlung zu befördern, über Stock und Stein, Hecken und Zäune, Felder und Wasserläufe. Danach ist Schluss. Keine Chance für ein 0 : 0.
Eine Abart der Jagd querfeldein ist seit dem Mittelalter auch in der britischen Stadt ein Volksvergnügen, Straßenfußball avant la lettre und avant Pflaster oder gar Asfalt. Man spielt so rüde, dass der Lord Mayor von London 1314 den Fußball aus der City verbannt. Zuwiderhandelnden droht der Kerker. Als das alles nichts hilft, ruft Schottenkönig James I., seinerseits nach 18 Jahren Haft im Londoner Tower gerade zurück daheim, das Parlament ein und läßt das Edikt: »that na mā play at the fute ball« verabschieden.
Das grobe Betragen schlägt durch bis in Shakespeares Komödie der Irrungen, in die Klage Dromios’ von Syrakus: »So roll ich denn für Euch auf diese Weise? Habt ihr mich denn für einen Fußball? Ihr tretet mich von dort nach hier, und er, er tritt mich dann von hier nach dort. Wenn ich in diesem Dienst verharren soll, so müßt ihr mich in Leder kleiden.« In König Lear geht’s auch hoch her. »Wirfst du mir Blicke zu, du Hundsfott?« sagt Lear zu Oswald und schlägt ihn. Der protestiert: »Ich lasse mich nicht schlagen, Mylord.« Darauf der reaktionsschnelle Kent: »Auch kein Bein stellen, du niederträchtiger Fußballspieler?« Und schreitet zur Tat.
Aus der Zeit zwischen 1324 and 1667 sind mehr als 30 königliche oder örtliche Gesetze überliefert, die den Fußball verdammen. Das Spiel ist tatsächlich wild, brutal, chaotisch, kurzum ungeregelt – bis es, wie gesagt in die Schule kommt. Einen ersten Fürsprecher findet es in Richard Mulcaster, Direktor der Merchant-Taylors’ School, später an der St. Paul’s. Mulcaster publiziert 1581 eine Schrift, in der er angesichts berstender Schienbeine und anderer Knochenbrüche für die Einführung eines Richters plädiert, »which can judge of the play, and is judge over the parties, & hath authoritie to commande in the place«.
Es wird aber noch rund 250 Jahre dauern, bis der Fußball domestiziert und zum festen Bestandteil der Schulordnung geworden ist, bis zum Beispiel in Harrow die Regel 16 lautet: »Zu Beginn eines jeden Fußballquartals sollen die Regeln gut sichtbar in jedem Haus angebracht werden und neue Schüler sind aufgefordert, sich mit diesen gründlich vertraut zu machen.«
In Harrow machen wir auch deshalb Station, weil vermutlich hier der Fußball als Pflichtsport zuerst eingeführt worden ist. Allerdings nicht aus Spaß an der Freude, sondern um diese zu kanalisieren. Die Pädagogen versprechen sich neben der disziplinierenden Wirkung die Förderung von Loyalität und Selbstlosigkeit gegenüber Schule, Militär und anderen staatlichen Institutionen. Deshalb, so der FIFA-Bildband 100 Jahre Weltfußball, sei der Fußball »ein wichtiger Bestandteil der britischen Konformitätskultur« geworden, »für deren Konservierung die Privatschulen berühmt und berüchtigt waren.« Harte körperliche Ertüchtigung wird im viktorianischen Zeitalter »geradezu eine Mode«.
Auch außerhalb der priviligierten Privatschulen werden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Fußballspiele organisiert. Manchmal sind es Herausforderungsspiele, bei denen Geld gewettet wird. Eine Zeitungsannonce aus Leicester kündigt für den Karfreitag 1838 »ein Fußballspiel auf dem Cricket Platz« an: »Elf Spieler, hauptsächlich Drucker, stammen aus Derby, eine gleich große Anzahl aus Leicester. Für ein Preisgeld von bis zu 25 Pfund werden die Sieger elf weitere Spieler aus einer beliebigen Stadt in England herausfordern.« Die Mannschaften rekrutieren sich aus Klub-, Kneipen-, Berufs- und Dorfgemeinschaften. Das Regelwerk wird ad hoc verabredet und meist kommt man ohne Spielleiter aus. Manchmal wird es laut, manchmal steigert sich der Streit und endet mit blauen Augen, zerdellten Nasen, gebrochenen Schienbeinen, blutenden ... Wo bleibt der Schiedsrichter?
Er erscheint schattenhaft auf der Projektionsfläche, als man um 1850 in den englischen Schulen und Universitäten den sportlichen Lehrplan ausweitet, im Interesse der Gesundheit und Diziplin den Fußball zu zähmen beginnt. Das Spiel ähnelt aber immer noch einer Mischung aus heutigem Rugby und Freistil-Kickboxing. Nach wie vor existiert keine standardisierte Form, es existieren keine einheitlichen Regeln. Schick einen aus Charterhouse nach Harrow, einen aus Eton nach Winchester, einen aus Winchester nach Rugby: die werden sich allesamt wundern.
Wir wundern uns – und nicht zu knapp – über Reverend Samuel Sands, einen »Old Boy«, also »Ehemaligen« der Schule in Rugby. Er beaufsichtigt etwa um diese Zeit die Fußballspiele und hat überliefert, was den Gegnern seiner Zöglinge blüht: »Eine Gewohnheit der älteren Schüler zu Beginn eines Schuljahrs ist es, ein Paar Stiefel zum Schuhmacher zu tragen, damit er dicke Sohlen daran befestigt, zugespitzt an den Zehen, um die Schienbeine der Gegner einzuritzen.« Als der Reverend während einer besonders schlimm geführten Partie gefragt wird, wann er denn das Spiel zu unterbrechen gedenke, sagt er: »Short of manslaughter.« Knapp vor einem Totschlag. Sands agiert also eher wie der Ringrichter beim Boxer, keinesfalls wie ein moderner Referee.
Bevor diese Spezies endgültig ein- und durchgreifen bzw. die Platzhoheit übernehmen kann, haben die Kapitäne der Teams dafür zu sorgen, dass die Spieler nichts tun, was dem »spirit of the game« und den jeweils geltenden Regeln widerspricht. Sie zu kennen, ist eine Sache, sie einzuhalten eine andere. Insofern fungieren die Mannschaftsführer, zuständig jeweils für das eigene Team, als eine Art übergeordnete Instanz. Sie wandeln auf dem schmalen Grat zwischen akzeptiertem Körpereinsatz und vorsätzlicher Brutalität, sie verwarnen die Spieler ihrer Mannschaft und verweisen sie im Wiederholungsfall des Feldes (theoretisch also auch sich selbst). Merke: Absichtliches Foulspiel entspricht nicht dem Verhalten eines Gentlemans, nicht dem »Fairplay«. Und merke auch dies: Fußball, nicht nur Rugby, ist eine Kontaktsportart, bei der es ganz wesentlich darum geht, wie Hans Ulrich Gumbrecht es definiert, »Räume mit dem Körper zu besetzen und zu blockieren.« Und sobald Körper, die Räume erobern, und Körper, die ebendiese Räume verteidigen wollen, aufeinander prallen, schlagen »Machtverhältnisse in Gewalt, in die Zurschaustellung von Macht um«.
Um das zu verhindern, erfinden die Briten erst einmal die »Umpires«, eine Bezeichung, die noch heute im Baseball, American Football und im Cricket als Refereesynonym verwendet wird. Sie treten zu zweit auf und werden erstmals 1847 in den Regel-Listen von Eton, Winchester und Harrow erwähnt. Im Allgemeinen stellt jede Mannschaft einen Umpire, postiert nahe der Torlinie der eigenen Spielhälfte. Es sind ‘neutrale’ Beobachter, ausgerüstet mit einem Taschentuch oder Spazierstock, Mediatoren mit Entscheidungsbefugnissen, die bei Regelverstößen von den Kapitänen angerufen werden oder Streitfälle schlichten. Der Stellenwert der oft wenig kundigen Umpires ist marginal, ohnehin kommen sie nicht in jedem Match zum Einsatz. Außerdem gibt es weder Straf-, Eck- noch Freistöße, es gibt keinen Strafraum und keinen Torhüter, und so lange die Regeln nicht übereinstimmen, ist Verwirrung, wenn nicht Chaos vorprogrammiert. Dann fliegen wieder mal Fäuste, werden Nasen zerdellt, Schienbeine gebrochen, blutende ... Wo bleibt der Schiedsrichter?
In Cambridge hat man ihn schlicht vergessen, wieder aus den Augen verloren, als sich 1848 vierzehn Repräsentanten einiger Public Schools dort versammeln, um die berühmten »Cambridge Rules« zu formulieren in der Hoffnung, sie würden zur Norm werden. Trotz des Einzugs der Umpires in die Regelwerke von Eton, Winchester und Harrow werden die Aufsichtspersonen hier mit keiner Silbe gewürdigt.
Aber endlich kommt er: der Referee! 1849 werden im Kodex von Cheltenham »zwei Umpires und der Referee« aktenkundig, »the sole arbiters of all disputes.« An den außerhalb des Spielfeldes geparkten Schiedsrichter, so steht es geschrieben, wird die Entscheidung überwiesen (»to refer to«), wenn die Umpires sich partout nicht einigen können.
Leider schaffen es die drei dann nicht bis Sheffield, wo sich außerhalb der akademischen Institutionen der subkulturelle Fußball zu einer organisierten Spielform entwickelt hat. 1857 wird in der Stahlstadt am Fuße der Pennines der Sheffield F.C. gegründet, der erste nicht-universitäre Klub. Im selben Jahr notiert man die Sheffield Rules –»A ball in touch is dead ...« (Regel 10) –, zwei Jahre später werden sie gedruckt – der großen Nachfrage wegen. Bald tummeln sich in Sheffield über 17 Klubs. Allein, auch diese Regeln erwähnen weder die Umpires noch den Referee.
Auch in London und Umgebung pflegen mehr als zwei Dutzend Teams vorwiegend aus ehemaligen Schülern der Public Schools irgendeine Variante des Fußballspiels. Fuball a la Rubgy, Fußball nach Cambrigde Art, Fußball wie man ihn in Winchester spielt, etcetera pp. Gegeneinander anzutreten ist ziemlich kompliziert. Eine Möglichkeit sich zu arrangieren heißt: erste Halbzeit diese, zweite Halbzeit jene Regeln. Oder man vereinbart den Regeltausch jeweils für das Hin- und Rückspiel.
Ein Irrwitz. Der Regelirrgarten blockiert das Miteinander des Gegeneinanders und ... ähem, wäre der Schiedsrichter – Fairplay hin oder her – nicht vielleicht doch eine gute Idee? Ein Standard ist gefragt, eine Uniform. Es wird Zeit, es zu versuchen.
Fortsetzung im Kapitel »Von der Seitenlinie ins Rampenlicht«