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Das Image der Schiedsrichter Ein trauriges Kapitel

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»Da saß er nun und fingerte und pfiff dazwischen manchmal so falsch, daß es einem durch Mark und Bein ging und man oft sein eigenes Wort nicht verstehen konnte.«

Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts

»Der Mensch ein Dreck, sein Leben ein Gelächter.«

Heiner Müller: Macbeth

Wir kennen die »Einsamkeit des Torwarts« (Albert Camus) und die »Einsamkeit des Rechtsaußens« (Fernando Acitelli), wir kennen Verteidiger, die werden vom Rest der Elf schnöde im Stich gelassen und Mittelstürmer, denen fehlt jede Bindung zum Spiel. Aber »der Mann, der wirklich einsam ist,« schreibt Darwin Pastorin im Brief an meinen Sohn über Fußball, »ist er, jener Schiedsrichter, der dich in seinem gelben Trikot zum Lächeln bringt«. Der italienische Schriftsteller hält sie alle für Melancholiker. Weil Referees ihre besten Jahre auf Bolzplätzen hinbringen, »ohne Schutz, ohne Sicherheitskräfte, umgeben von unreifen Burschen und ihren wütenden Vätern, fanatischen Funktionären, brutalen, respektlosen Spielern.« Weil sie rennen, »ohne jemals an den Ball zu kommen. Ein Tor zu schießen. Oder wenigstens Beifall zu bekommen.«

Rainer Moritz, der selbst mal gepfiffen hat und heute u. a. Vizepräsident der Marcel Proust Gesellschaft ist, also ein ausgewiesener Experte für Melancholie, sieht den Schiedsrichter eher als »Masochisten«. Ihm will nicht recht einleuchten, »warum sich verhaltensunauffällige Zeitgenossen freiwillig zum Dienst an der Pfeife melden.« Auch Hans Blickensdörfer, der Nestor des deutschen Sportjournalismus, meint, es brauche »schon eigenartige Gesellen für den Job«. Jahrzehntelange Studien am lebenden Objekt haben ihn tief blicken lassen. Sein Fazit: »Idealismus, Hilfsbereitschaft, Rechtschaffenheit, Ehrgeiz, Machthunger und auch Neid sind die Komponenten ihrer Psyche«. Neben dem »Masochismus« selbstverständlich. Insgesamt, so Blickensdörfer, »eine Mischung, die immun macht gegen die vordergründige Tatsache, dass sie von Spielern und Publikum als notwendiges Übel betrachtet werden.«

Es gibt Menschen, die den Unparteiischen mit weit weniger Bonhomie betrachten. Zum Beispiel Klaus Theweleit. Während der Arbeit an seinem Werk Tor zur Welt sinnierte der Freiburger Publizist wochenlang inspiriert wie gutartig über den »Fußball als Realitätsmodell«. Auf Seite 185 (Kapitel Verweigerung und Rechtsnormen) war’s plötzlich vorbei mit der auktorialen Souveränitat. »Willkürherrscher«, krachte es in seinen Laptop, »diktatorischer Terrormann« und »schiedsrichterliche Selbstherrlichkeit«. Einmal in Fahrt, kündigte er stante pede den »Gesellschaftsvertrag, der mich mit dem Spiel verbindet«, wütete weiter wider den »böswilligen Pfeifengott«, der die Arbeit der Spieler »mit irrwitzigen Pfiffen zunichte macht«. Dies »schändliche Überbleibsel vergangener Herrschaftsformen« mit »päpstlicher Rechteausstattung« widerspreche »jeder europäischen Rechtsnorm« und sei »ein Fall für Brüssel«. Schiedsrichter, furorte es am Ende aus Theweleit, Schiedsrichter brächten ihn schlicht »zur Weißglut«.

Da ist er nicht der Einzige. Spieler, Trainer, Journalisten, Funktionäre, Fans fluchen Woche für Woche über die scheinbar chronischen Defizite der Zunft. »Amateure, blutige Anfänger im knallharten Fußballgeschäft«, ätzt Paul Breitner, »zurück in die Pampa«, giftet Heribert Faßbender, »Tomaten-Schiris«, röhrt die Bild, »kriminelle Vereinigung«, jammert AS Rom-Präsident Franco Sensi, »Despektspersonen, Unsympathler, potentielle Päderasten«, grantelt Austria-Dichter Franzobel, jeder Fehlentscheid ein Akt nackter Gewalt, »als wenn dir einer ein Messer in den Bauch rammt, und du musst noch dabei lächeln«, deliriert Christoph Daum. »Alle hassen ihn«, sagt Eduardo Galeano. Nein, nicht Daum, den Referee. Zumindest Galeano hat gute Gründe und eine Geschichte aus Bolivien parat.

Sie handelt von Schiedsrichter Ignacio Salvatierra, der den Stürmer Abel Vaca Saucedo mit der roten Karte strafte. Nicht wegen Foulspiel, Abseits, Meckerei oder sonst einem Regelverstoß. Der begnadete Virtuose flog vom Platz, »damit er lernte, den Fußball ernst zu nehmen«. Saucedos Verbrechen war ein Zauberkunststück, »ein unverzeihliches Tor. Er spielte in einem entfesselten Wirbel von Dribblings, Selbstvorlagen, Kopfbällen und Hackentricks die gesamte gegnerische Mannschaft aus und zelebrierte den Höhepunkt seiner Orgie mit dem Rücken zum Tor, indem er den Ball mit einem sicheren Stoß seines Hinterns ins Toreck drückte.« Salvatierra habe den »Teufel Phantasie ausgetrieben«, resümiert Uruguays großer Fußball-Journalist. Für solche Referees ersann Galeano die »VFS, Vereinigung der Feinde der Schönheit«.

Im Falle Toshimitsu Yoshidas müsste sie »VFU« heißen, »Vereinigung der Feinde Usbekistans«. Im WM-Qualfikationsspiel gegen Bahrein annullierte Yoshida einen Elfmeter der Gastgeber, weil einer ihrer Spieler zu früh in den Strafraum lief. Das wäre an sich kein Beinbruch gewesen, Usbekistan schoss noch ein blitzsauberes Feldtor und gewann 1 : 0. Trotzdem hatte der Elfmeter eine tragische Pointe. Er hätte den Regeln gemäß wiederholt werden müssen. Stattdessen gab Yoshida Freistoß für Bahrein, das heißt, er machte einen »technischen Fehler«, welcher gemäß der FIFA-Regeln die Neuansetzung des Spiels zwingend nach sich zog. Diesmal trennte man sich 1 : 1. Da Usbekistan im Rückspiel nicht über ein 0 : 0 hinauskam, schied das bitterarme und auch sonst hinreichend gebeutelte Land aus und fiel Monate lang in Depression. Schiedsrichter verstehen es wirklich, ihre Mitmenschen unglücklich zu machen.

Die Süddeutsche Zeitung kreierte daraufhin den Schmäh des »Usbeken-Schiris«, nicht ohne süffisant anzumerken, dass sich diese »Unterart des Tomaten-Schiris wie im Fall Robert Hoyzer als etwas ganz anderes entpuppen kann«.

Sagen wir es frei heraus, das Image des Referees gleicht einem Werk des Höllen-Breughel. Gestikulierend wie ein Fluglotse auf LSD, die Backen aufgeblasen zum finalen (oft millionenschweren) Pfiff, wirft er die Beine, die meist viel zu dünn aus kurzen Hosen ragen, über den Rasen, stets auf Ballhöhe, aber selten im Bilde. Und nun soll er auch noch bestechlich sein. So hängt sein Porträt in der Galerie des öffentlichen Bewusstseins. Und doch und doch, »das Bild hängt schief.« (Loriot)

Ist es nicht bemerkenswert, dass alle Versuche, die Machtfülle des Unparteiischen durch den zweiten Schiedsrichter oder technische Neuerungen wie den Videobeweis zu objektivieren, zumindest in Europa von großer Skepsis, ja, man darf ruhig sagen, von abgrundtiefem Misstrauen begleitet werden. Mutet es nicht noch erstaunlicher an, dass sich »zur Freiheit verdammte« Individuen (Jean Paul Sartre) stetig murrend, aber letztlich doch ungezwungen der Epiphanie und Hybris einer Kaste unterwerfen, deren Sozialprestige nie so recht über den Status des Hanswursts, Spielverderbers und Blindgängers hinausgekommen ist? Wie kann das sein? Diesen Widerspruch vermochten bislang auch die gewieftesten Dialektiker nicht aufzuheben.

Ist es die Einsicht in Henri Bergsons Diktum, der reine Gedanke des Spiels und der gesunde Menschenverstand seien einander grundsätzlich wesensfremd? Ist es Shakespeares »Tollheit, die Methode hat«? Gehört der Schiri schlicht zur »Urgeschichte der Moderne« (Walter Benjamin), wo sich die »Gier nach den Sensationen der neuesten technischen Errungenschaften« paart mit einer »Sehnsucht nach der ewigen Wiederkehr alles Gleichen«? Oder verkörpert der Unparteiische das unter den Verwerfungen der Globalisierung fast versunkende Ideal des bürgerlichen Helden, der, einmal vom Schicksal aus der Alltäglichkeit gerissen (und sei’s auch nur für 90 Minuten), fähig ist, über sich hinauszuwachsen, und allen Fährnissen trotzt? Ob es ihm gedankt wird oder nicht.

Über diesen Typus heißt es in Western-Kino – Geschichte und Mythologie des Western Films: »Er ist ein Mensch, dem oft Übermenschliches aufgegeben ist. Zugleich ist er aber auch ein normaler Mensch, jemand, der nichts besonderes sein will, der lebt wie die anderen, nur gefährlicher und glanzvoller.« (Georg Seeßlen/​Claudius Weil). Dafür spricht nicht nur die Reportage von Susanne Frömel. Sie hat für die Zeit ein Schiedsrichter-Seminar besucht und traf Menschen, die »korrekt und ernst sprechen«, »Menschen, die es gern ordentlich haben, die Regeln mögen. Das ist so der Eindruck.« Dafür spricht auch, dass der Westerner wie der Unparteiische »die Mission hat, Gesetz und Ordnung zu bringen«. Dabei ist er, abgesehen von seinem treuen Ross, ganz allein auf sich gestellt. Der Unparteiische hat nicht mal ein Pferd, nur seine Pfeife.

Das Rollenmodell heißt: Ein Mann gegen den Rest der Welt. Wie Clint Eastwood (Dirty Harry) oder Gary Cooper (High Noon) erledigt der Referee die Schmutzarbeit, den Job, den sonst keiner machen will. Auf dieser Schiene stilisiert der DFB-Schiedsrichterausschuss seine Kombattanten neuerdings zu Heroen der Volkshygiene. »Die Gesellschaft«, philosopiert der Vorsitzende Volker Roth, »braucht offensichtlich jemanden, den sie für Fehlentwicklungen oder solche, die sie dafür hält, verantwortlich machen kann.« Im Fußball sei das eben der Schiedsrichter, weil ihm »die Spielregeln alle Macht übertragen haben«. Zum Beweis zählt Roth auf, was ein Referee außer Pfeife, Block und Karten so alles über das Spielfeld schleppen muss: »den Polizisten«, »den Staatsanwalt«, »den Richter« und »den Vollzugsbeamten«. Anders ausgedrückt: er ist »Judge Roy Bean«, jener selbsternannte Richter aus Vinegaroon, Texas, der ebenfalls verhaftet, aburteilt, und vollstreckt, obendrein das Gesetz auf höchst eigenwillige Weise interpretiert. Strafe für Whisky-Diebstahl: der Galgen. Strafe dafür, dass der Richter keine Prozente vom Bankraub kassiert: der Galgen. Strafe für die Beleidigung der Schauspielerin Lillie Langtry: Erschießen. Und dann der Galgen.

In John Hustons Spät-Western-Klassiker von 1972 gab Paul Newman den Judge, und das Publikum hat ihn gemocht. Sein Roy Bean ist machthungrig und raffgierig, bauernschlau und skrupellos, er ist auf krude Weise rechtschaffen und auf Trinkerart melancholisch. Seine blinde Verehrung für die Langtry hat unübersehbar masochistische wie unbefleckt idealistische Züge. Er gäbe einen exzellenten Schiedsrichter ab. Genau wie Henry Fonda alias Wyatt Earp (My Darling Clementine), ein Mann, der in olympischer Ruhe über alles erhaben ist, »nur über seine Eitelkeit nicht« (Joe Hembus).

Wo solche Heroen walten, sind meist auch die Faktoten nicht weit. Im Western heißen sie Doc Hollyday, Sam Hawkins, Festus Haggen oder Hop Sing, auf dem Fußballplatz einfach »Linienrichter«. Pardon, so darf man ja nicht mehr sagen, seit der DFB ihnen Titel und Würde genommen hat. Jetzt heißen sie »Assistent«. Und als solcher, gestand ein Assistent Zeit-Reporterin Frömel, »ist man immer nur der Depp an der Seitenlinie, der mit der Fahne wedelt und sich von den Mannschaftsbänken beschimpfen lässt«. Ihr Artikel trug den sinnigen Titel »Traumberuf Randfigur«. Damit wäre das filmreife Schiedsrichtergespann komplett. Es kann losgehen.

Uuund Aktion! Die Männer überprüfen das Funkleitsystem, den Sitz des Schuhwerks, wechseln einen letzten entschlossenen Blick. Dann gibt der Unparteiische das Kommando und raus geht’s in die Arena. Er weiß, da draußen liebt ihn niemand, aber er kann nicht wissen, was ihm blüht. Ärger oder Anerkennung? Stress oder ein ruhiger Nachmittag? Schiedst er jedoch in der Bundesliga oder international, ist ihm eines schon vor dem Anpfiff sicher: Prominenz, ein gesellschaftliches Gut, das heutzutage selbst dem größten Referee-Verächter Respekt abnötigt.

Zu Verbündeten werden ihm dabei ausgerechnet die ärgsten Plagegeister der Schiedsrichterinnung. Sie wohnen im Ü-Wagen von ARDZDFPREMIEREDSFRTLSAT1 und sezieren jede seiner Entscheidungen im Jargon unwiderlegbarer Eigentlichkeit. Aber niemand geht, rennt, grimassiert dabei so oft durchs Bild wie der Unparteiische. Ob er gut pfeift oder schlecht, ist erst einmal Nebensache. »Wer ›herauszutreten‹ plant, wer ›hervorragen‹ und zur ›Prominenz‹ aufsteigen will, muss dafür sorgen, dass seinen Handlungen ein Maximum an Aufmerksamkeit geschenkt wird«, beschreibt der Kulturphilosoph Thomas Macho den Imperativ der Mediengesellschaft. Es gehe darum, »möglichst häufig und eindrücklich gesehen zu werden, und zwar auch dann, wenn die Steigerung eigener Sichtbarkeit keine erhöhte Übersicht mehr gestattet.«

Dieses Verhaltensmuster ist allen Trabanten, die um den Fußball kreisen, zur zweiten Natur geworden. Der mediale Imperativ gebar die werbetreibende »Lichtgestalt Collina« (Stern) und Dr. Markus Merk, den »Wissenschaftler der schnellen Entscheidung« (Klappentext Bewegend), er gebar Tor-Salti und -sägen (Miro Klose, Stefan Kunz) und den Eckfahnen-Samba (Roger Millar), er gebar den DFB-Börsen-Sprech (»Leistungsprofil«, »Coaching«, »Aktionsoptimierung«), den Pfiff des Tages (ZDF-Sportstudio) und die semantische Müllkippe der Krombacher Runde (DSF), er gebar die Fanblockade vor dem Stadion, und er beschwört regelmäßig jene Schiri-Szenen herauf, die uns in Tischkanten beißen und in Entsetzensstarre fallen lassen: den dubiosen Elfmeter in der Nachspielzeit, die lächerliche rote Karte, welche das Ballgenie zum Gartenzwerg schrumpfen lässt, das herrische Paradieren vor Freistoßmauern, das Abseits, das eigentlich nur ein Maulwurf ignorieren darf.

Das Gieren nach Großaufnahmen ist nicht schön, wirkt auch wenig kompetent. Aber ohne sie wäre der Fußball nicht das, was er ist: zeitgemäß. Nämlich Event, medial zugerüstetes Drama, Family-Entertainment, die heißeste Ware unter der Sonne. Es gilt der erste protokapitalistische Leitsatz: Qualität ist gut, Aufmerkamkeit alles. In der Wirtschaft wie in der Politik, im Showgeschäft wie im Sport und überhaupt. So sind die Zeiten, so läuft das Spiel, so ist die Welt gemacht. Und wir sitzen gewöhnlich in der ersten Reihe und konsumieren den narzistischen Sündenpfuhl mit voyeuristischer Wonne.

Nur beim Schiedsrichter rufen wir scheinheilig: »So nicht!« Er soll gefälligst den Überblick behalten, buchstäblich alles und zugleich kein Detail übersehen. Hans Blickensdörfer imaginierte ihn immer als General, der einst auf dem Feldherrrnhügel thronte und das Gemetzel choreografierte. Damals, als der Überblick noch ein Vorrecht der Mächtigen, der Autoritäten war. Das Privileg der Herrscher, Minister, Priester und Richter, derjenigen »die sich auf das ›Auge des Gesetzes‹ berufen« (Macho). Sie wollten alles sehen, aber möglichst nicht gesehen werden. Pessimisten meinen, in der demokratischen Tiefebene und auf dem Fußballplatz sei es gerade umgekehrt.

Einen Optimisten wie Volker Roth ficht das nicht an. Der Vorsitzende des DFB-Schiedrichterausschusses schwebt grundsätzlich über den Wolken. Jüngst hat er den Unparteiischen zum »Piloten« befördert, der dafür sorgt, dass seine Passagiere, sprich die Mannschaften, sicher »ans Ziel gelangen«. Im richtigen Leben fliegt eine Boeing allerdings meist mit Autopilot. Solange man den Referee nicht auf denselben schalten, also quasi zum »Robocop« umrüsten kann, bleibt er fehlbar und furchtbar einsam. Eben nur ein »Mensch, dem Übermenschliches aufgegeben ist«. Manchmal gelingt seine Mission, dann sehen wir ein tolles Match, manchmal nicht. Dann entschädigt den Referee die Prominenz für all den Unrat, mit dem er auch in diesem Kapitel wieder beworfen wurde.

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