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Schule der Schiedsrichter

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Well, you wonder why I always dress in black

Why you never see bright colors on my back

And why does my appearance seem to have a somber tone

Well, there’s a reason for the things that I have on

Johnny Cash: Man in Black

»Hefte raus! Klassenarbeit!«– Eben nicht. Matthias Kopf schlägt einen sportskameradschaftlichen Ton an, wie es sich geziemt, wenn man im Vortragsraum der Sportschule Barsinghausen versammelt ist. Sportskameraden aus Gifhorn, Leer, Bad Bentheim, Göttingen, aus allen Teilen Niedersachsens, sind angereist, um einen Aufbaulehrgang für Schiedsrichter zu absolvieren. Was ich hier mache? Es nennt sich Recherche. Ein Ausdruck, der auf Thomas Kapielskis Vorschlag hin auf der ersten Silbe zu betonen ist: Wie »Nickerchen« muss man »Recherchen« sprechen. Ausgerüstet bin ich mit Schreibblock und Kugelschreiber, vorbereitet bin ich nicht. Als Kopf mich vorstellt, sage ich die Wahrheit: Ich sammle Eindrücke für ein Buch über Fußball-Schiedsrichter und beeile mich hinzuzufügen, dass die Idee zu dem Buch lange vor der Affäre Hoyzer entstanden ist.

Locker erledigt Kopf, Lehrwart aus dem Bezirk Lüneburg, die notwendigen, selbstredend lästigen Formalitäten, ruft Namen für Namen von der Anmeldeliste auf. Bis auf einen sind alle erschienen.

Ein Aufbaulehrgang ist, wenn ich das richtig verstehe, für jeden Schiedsrichter auf Bezirksebene im Abstand von zwei bis drei Jahren Pflicht. Ein Wochenende muss dafür herhalten. Soweit ist die Ausgangslage sogar für einen Laien wie mich überschaubar. Sobald man die Schulungssystematik des DFB genauer betrachtet, die im übrigen jeder der 21 Landesverbände etwas unterschiedlich gestaltet, gerät der Laie, selbst der recherchierende, in ein Getriebe hinein, das wie ein Paradies für bürokratisch veranlagte Funktionäre wirkt. Ein Paradies der Notwendigkeit? Ja doch, ja, eine Massenorganisation wie das deutsche Schiedsrichterwesen will organisiert sein, es muss alles seine Ordnung haben. Allein in Niedersachsen sind ungefähr 10.000 Schiedsrichter registriert. Sie belegen Anwärterlehrgänge, Jungschiedsrichterlehrgänge, Aufbaulehrgänge A, Aufbaulehrgänge B, Talentlehrgänge, Förderlehrgänge, Leistungslehrgänge oder Spitzenschiedsrichterlehrgänge auf Kreisebene, Bezirksebene oder Verbandsebene. Außerdem veranstaltet der DFB selbst natürlich weitere zahllose Lehrgänge, die er denjenigen angedeihen lässt, die zu Höherem berufen sind.

Zurück zur Basis-Station. Lehrgangsleiter Kopf bittet die Teilnehmer, sich kurz vorzustellen. In dieser Vorstellungsrunde scheint es üblich, wenn nicht obligatorisch zu sein, das ist mein Eindruck, den Pegelstand, die höchste Klasse zu nennen, in der man Spiele leitet oder als Assistent dabei ist.

Bald ist ein juveniles Trio an der Reihe. Die Drei eint der Wille, die Leiter noch ein paar Sprossen emporzusteigen. Hinauf bis zur Regionalliga? Oder noch weiter? »Mal seh’n, was noch kommt!«, sagt einer von ihnen kampfeslustig. Er ist 26. Sein Nachbar sagt: »Ich versuche selber weiterzukommen.« Der dritte ist zwanzig: »Habe Einiges vor. Jetzt wird angegriffen.« Den Kontrast verkörpert der Kollege, der jetzt seine Koordinaten bekannt gibt: »Ich bin 36 Jahre alt, Landesliga, ohne Perspektive, höher zu kommen.« Wehmut schwingt mit, ein Hauch Fatalismus. Drei, vier weitere Teilnehmer beschreiben ihren Status mit ähnlichen Worten. Eine unsichtbare Linie, das meint der sensible Reporterdarsteller hautnah zu spüren, trennt die Anwesenden: in diejenigen, die einer verheißungsvollen Zukunft entgegensehen, und diejenigen, denen die Beförderung versagt bleiben wird. Gleicht man die Spielklasse, in der einer pfeift, mit dem Lebensalter ab, kommt das Ergebnis einem Urteil in letzter Instanz gleich, einer Einzelfalldiagnose, deren Ergebnis so eindeutig ist wie ein 5 : 1 oder ein 0 : 4: Pfeil nach oben oder unten. Du hast noch Chancen aufzusteigen oder hast deinen Zenit erreicht. Der eine im Schatten grämt sich, der nächste nimmt’s gelassen.

Kopf erläutert den Ablauf bis Sonntag. Mit Regel 12 wird man sich näher befassen –»Verbotenes Spiel und unsportliches Betragen«–, mit den Begriffen »Fingerspitzengefühl« und »Ermessensspielraum«. Später Stehkaffee und danach raus auf den Platz zum Cooper-Test. Im Anschluss ans Abendessen wird Thorsten Schriever erwartet, ein Zweitliga-Schiedsrichter Ende 20, der »von den Leistungen her ganz oben dabei« ist, einer auf dem Sprung, einer, der den Traum von vielen lebt. Ich habe keinen blassen Schimmer, warum jemand in diesem Moment »Reimann!« ruft. Bis ich erfahre, dass Willi Reimann, seinerzeit Trainer von Eintracht Frankfurt, während eines Bundesligaspiels Schriever, den vierten Unparteiischen, umrempelte. Legendäre Geschichte. »Gelten im bezahlten Fußball andere Spielregeln?« ist das Thema, über das Schriever sprechen wird.

Morgen am Samstag dann der theoretische Test und Fahrt nach Wunstorf, um gemeinsam ein Landesligaspiel zu beobachten. Die Abende werden »bei einer gepflegten Hopfenkaltschale« ausklingen. Und wenn Zeit übrig ist am Sonntag, wird es noch einen »Gesprächskreis zum Thema Gewaltprävention« geben: »Je nach dem, kucken wir mal.«

Über die Maßgaben einer Schiedsrichter-Karriere habe ich im Internet-Archiv der Pinneberger Zeitung gelesen, der man eine prophetische Gabe attestieren muss. Das Blatt antizipierte den Hoyzer-Skandal, als es im Mai 2004 unter der Überschrift »Verdirbt Geld die Schiedsrichter?« ein Interview mit Wilfried Diekert aus Appen druckte, dem Vorsitzenden des Verbands-Schiedsrichter-Ausschusses in Hamburg.

Ob denn der Konkurrenzkampf unter den Schiedsrichtern, fragt der Journalist, »genauso erbarmungslos« sei wie der unter den Fußballern: »Zwischen den ehrgeizigen Jungen, die ganz nach oben wollen, auf jeden Fall«, lautet die Antwort. Ob es stimme, dass »unerfahrene, ehrgeizige Streber bei den Amateuren«, die »an die Fleischtöpfe in den Eliteklassen« wollen, für »immer mehr Zoff und Ärger« sorgten? Das bekomme er in der Tat immer häufiger zu hören, stimmt Diekert zu: »Aber man kann wirklich nicht sagen, das Geld verderbe die Schiedsrichter.«

Nein, das kann man gewiss nicht. Die Verlockung, reich zu werden, wird es nicht sein, wenn jemand sich einreiht in die Phalanx der Gipfelstürmer. Und wenn es allein der unstillbare Ehrgeiz wäre, ganz nach oben zu kommen, dann ist das eine milde Form des Größenwahns. Die Wahrscheinlichkeit, als Unparteiischer die höchsten Weihen zu empfangen sowie pro Einsatz 3069 Euro plus Anfahrt- und Übernachtungskosten, ist nicht gerade überwältigend hoch. Für die meisten bleibt es bei vier Euro (Schülerspiel) bis 150 Euro (Regionalliga).

Rund 75 000 sind in Deutschland Woche für Woche im Einsatz. 20 pfeifen in der Ersten Liga. Um so höher ist der Druck, dem man sich aussetzt, wenn man dorthin gelangen will. Tempo, Tempo, Tempo, so wie sich das Spiel selbst um etliche Grade beschleunigt hat: Mit 17 oder spätestens 18 Jahren müsse einer schon Kreis- und Bezirksligaspiele pfeifen, sagt Dickert. »Mit 20 sollte er dann Landes- und Verbandsligaspiele leiten und mit 23 oder 24 Jahren in die Oberliga aufgerückt sein. Spätestens mit 28 muss man in die Bundesliga aufrücken, sonst hat man keine Chance mehr.«

Von einem Förderlehrgang, passgenau auf diese Klientel zugeschnitten, hat Nicol Ljubic in der Zeit berichtet. Die Vorstellungsrunde der Jungfüchse ist ausführlicher als die, der ich beiwohnte. Die Kandidaten nennen ihren Beruf und antworten auf die Frage »Wo pfeife ich in drei Jahren?«. Die Teilnehmer üben demonstrativ Zurückhaltung. Nicht einmal die Oberliga wird als Ziel reklamiert. »Keiner will arrogant wirken«. Der Kursleiter ist stolz »auf den Charakter der jungen Männer«, auf die »Mischung aus Bescheidenheit und Höflichkeit«. Einem 21-Jährigen, in seinem Kreis zum »Schiedsrichter des Jahres« gewählt, schärft der Kursleiter beiläufig ein: »Geh vernünftig mit der Ehrung um.«

Ob beim Aufbaulehrgang B jemand anwesend ist, der es jemals zum »Schiedsrichter des Jahres« gebracht hat, habe ich mich zu erkundigen versäumt. Wir sind inzwischen bei strahlendem Sonnenschein rausgefahren zum Sportplatz, jeder außer mir hat den Cooper-Test und ein paar Sprints mit Zeitlimit hinter sich gebracht. Das Wetter ist so verführerisch, dass ich während des Ausflugs träge lediglich eine einzige Bemerkung notiere: »Für die Bonbons quält man sich hier«. Tage später erst suche ich wenigstens die Fakten, Fakten, Fakten der Leistungsprüfung heraus. Bei dem nach Aerobic-Guru Dr. Kenneth Cooper benannten Test sind 2700 Meter in 12 Minuten zu laufen, 200 Meter in 32 Sekunden und 50 Meter unter 7 Sekunden zu schaffen.

»Wer langsamer ist, kann seine Sachen packen und, zwei Stunden nachdem er angekommen ist, wieder nach Hause fahren«, werde ich in der Zeit über die Atmosphäre beim Förderlehrgang lesen. So genau, scheint mir, wird es beim Aufbaulehrgang nicht genommen. Auf ein paar Meter oder Sekunden kommt es nicht an. Wer scheitert, darf demnächst nachbessern.

Zurück im Seminarraum widmen wir uns endlich der Regel 12. Herr Kopf lässt erstmal Gruppen bilden. Es geht um die Unterrichtseinheit »Verbotenes Spiel und unsportliches Betragen«, ich sagte das bereits. Gruppenarbeit also. Ich schlendere von Tisch zu Tisch, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, schaue, höre und staune, wie die Gruppen sich dem Diskurs über die Regel 12 widmen, über das feingewebte Spezialvokabular, bei dem sich jeder des Jargons nicht Mächtige töricht vorkommt, staune, wie kompliziert die Materie ist, anschließend Vorstellung der Arbeitsergebnisse, Flipchart, Folien, Powerpoint sind einsatzbereit, logo. Ich erwähne jetzt nur das Stichwort »Kontaktvergehen« und die Frage, wann aus »gefährlichem Spiel« ein »verbotenes Spiel« wird, und gebe zu bedenken, dass bis vor einiger Zeit »Einleitungsvergehen« und »Kontaktvergehen« unterschieden wurden, jetzt aber nicht mehr, so jedenfalls hab ich es notiert. Zwei Blockseiten weiter stoße endlich wieder auf das gute alte »Fingerspitzengefühl« und lese, dass es, so der Schiedsrichter es als Argument verwendet, mit einer »Regelbeugung« gleichzusetzen ist, besser sei, es durch »Ermessensspielraum« zu ersetzen, »ein sehr guter Vorschlag«, sagt Seminarleiter Kopf. Er sagt auch, wer im Spielbericht den Begriff »Absicht« benutzt, ohne dass es um ein »Handspiel« geht, »der begibt sich juristisch auf dünnes Eis«, und zwischen »Ermahnung« und »Aufforderung« muss man differenzieren, die »Ermahnung« zählt nicht zu den »persönlichen Strafen«, also jetzt »von der Begrifflichkeit her«, und »scharfes Ansprechen bei der Mauerbildung« sei noch keine »Ermahnung«, sondern eine »Aufforderung«, oder umgekehrt – die Zeile ist unleserlich – und »wenn du jemanden aufforderst, auf Distanz zu gehen und er macht das nicht, dann musst du unweigerlich die gelbe Karte zeigen«. – So oder so ähnlich ist es gewesen.

Am Abend dann der Vortrag von Thorsten Schriever, der natürlich keinen Vortrag hält, sondern zurückhaltend plaudert in einer Mischung aus Bescheidenheit und Höflichkeit, keine Spur arrogant, so wie es gewünscht wird, mich verlassen leider die letzten Reste des Konzentrationsvermögens, bin müde, schreibe pflichtschuldigst ein paar Satzfesten auf, dazu langt es noch, Schriever erzählt von dem Spiel, als Reimann ihn anging, davon, wie »die Medien« auf ihn einstürmten, ihn drangsalierten, wie anstrengend das war, eigentlich habe man ja dann das Bedürfnis, »dass man dich in Ruhe lässt«, aber man absolviere ja auch »Verhaltensschulung«, erzählt vom »Stress« und davon, »auf wieviel Feldern man angreifbar« sei. Bei einigen Teilnehmern ist eine Spur Verehrung oder Stolz zu spüren gegenüber einem, der es geschafft hat, aber man duzt sich selbstverständlich, Sportskameraden, man ist aus demselben Holz, man gehört gewissermaßen zusammen, ist eine Solidargemeinschaft, der mediale Glanz strahlt bis hierher, man tut ja das gleiche. – Ob Schriever ein Vorbild hat? Es gebe »Leute, die siehst du gern, du kannst aber keinen kopieren, du musst deine eigene Linie finden«, Sätze, die wie formatiert klingen, aufgesagt, weitere Sätze bleiben hängen, »wie kann ich Situationen lösen, dass sie jeder versteht und ich gut dabei herauskomme« und »die Konzentration sei ja da, dass du da sauber rauskommst, dass der Schiedsrichter kein Thema ist hinterher«. Die Coaches erwähnt Schriever und wie man nachher die Videokassette von Premiere anschaut und das Spiel analysiert. Wie man die höheren Stufen erklimmt, muss etwas von einem Dressurakt haben, denke ich später, sowas muss man mögen, brauche ich vielleicht auch einen Coach?

Abends in der Sportschulenwirtschaft. Hopfenkaltschale. Das Fernsehen in der Ecke überträgt irgend ein Pokalspiel. Ich bin wirklich groggy, möchte los, ein Bier kann ich mir vor der Rückfahrt erlauben. Um morgen wiederzukommen? Übermorgen dem »Gesprächskreis zur Gewaltprävention« lauschen? Ich erlaube mir ein zweites Bier, lausche im Halbdämmer, notiere dies und das, Bruchstücke. Als ich mich auf den Weg machen will, sind noch zwei Tische besetzt. An dem einen bleibe ich hängen. Matt genug, um plötzlich tollkühn zu werden, die Vorsicht schlummert längst, frage ich, was sie von dem Titel des Buches halten, den der Verleger favorisiert: »Die schwarze Sau«? – Der eine gähnt, der nächste sagt, das habe sein Opa immer gerufen. Der dritte sagt: »Okay, kann man machen. Aber korrekt müsste es heißen ›Die kunterbunte Sau und zweiundzwanzig Betrüger‹!« Darüber werde ich nachdenken. Aber nicht mehr heute. Der Recherchenmacher ist erledigt. Ich fahre nach Hause. Nickerchen machen.

Pfeifen!

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