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DAS SPIEL WIRD SEINS

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Jetzt durchfliegt Deisler die Zeit beim Gladbacher Nachwuchs und landet bei den Amateuren der Borussia. Oftmals spielt er an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, für die A-Jugend und anderntags bei den Amateuren, die mittlerweile von Norbert Meier trainiert werden. Die Belastung steckt er locker weg. Auf dem Fußballplatz kennt er keine Grenzen. Seine Art den Ball zu spielen ist nicht nur außergewöhnlich gut, sondern sie macht ihn auch stark. Deisler wähnt sich fast am Ziel. Sein Plan, den er sich zu Beginn seiner Internatszeit zurechtgelegt hat, scheint aufzugehen. Er glaubt einen Weg gefunden zu haben, wie er seine inneren Konflikte überwinden kann. In Wirklichkeit versteckt er sie, bestenfalls.

Am Ball kann er beinahe alles. Vor allem das Zusammenspiel mit den Stürmern ist sein Ding, wenn er ihnen gute Bälle auflegen kann, wenn er tricksen, wenn er im Zentrum des Platzes improvisieren kann. Dabei hat er keinen festen Plan im Kopf, spielt überschwänglich, schonungslos. Im Sommer 1998 führt er die deutsche U-18-Auswahl ins Endspiel der Europameisterschaft auf Zypern. Auf dem Weg dorthin deklassiert der deutsche Nachwuchs zunächst Litauen 7:1 und anschließend den großen Turnierfavoriten Spanien mit 4:1. Spielmacher des Teams, in dem auch Timo Hildebrand, Fabian Ernst und Sebastian Kehl stehen, ist Sebastian Deisler. Zwar unterliegt die Elf des damaligen DFB-Trainers Rainer Bonhof nach einem dramatischen Finale unglücklich im Elfmeterschießen gegen Irland, doch die Beobachter sind sich einig: dem Jungen mit der Nummer 10 auf dem Rücken steht eine große Zukunft bevor.

Das Fußballfachblatt kicker nimmt in jenem Sommer 1998 den deutschen Jahrgang der Unter-18-Jährigen etwas genauer in Augenschein und traut in seinem Fazit fünf Spielern den großen Sprung zu: Christian Timm (Dortmund), Thorsten Schramm (Duisburg), Andreas Voss (Leverkusen), Fabian Ernst, der gerade von Hannover zum Hamburger SV gewechselt ist, und Sebastian Deisler. Letzterer verkörpere die typische Nummer 10. Noch vor seinem ersten Bundesligaspiel charakterisiert ihn der kicker als »ein mit unersättlichem Spieltrieb, überragender Technik, präzisem Schuss und einem nicht erlernbaren Blick für die Situation und Mitspieler gesegneten Fußballer«.

Timm, Voss und Schramm verschwinden recht schnell wieder in der Masse. Und auch Fabian Ernst, der mit Deisler gleichzeitig sämtliche Nachwuchsmannschaften des DFB durchlaufen hat, ist längst nicht so weit. Er wird erst vier Jahre später, im Mai 2002, sein Debüt in der Nationalelf geben, dort aber keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. An weitere Spieler aus dem Jahrgang Deislers, wie etwa Christoph Metzelder und Tim Borowski, ist längst noch nicht zu denken. Sie spielen zu dieser Zeit auf einem Niveau außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung. Erst als Metzelder und Kehl als Profis in Dortmund spielen, machen sie bei der Weltmeisterschaft 2002 in Asien auf sich aufmerksam; der Bremer Borowski gar erst acht Jahre später, bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Acht Jahre – das ist fast eine Fußballergeneration, aber dieser Deisler, der macht Hoffnung auf bessere Tage. Kann Deisler sie herbeispielen?

Die erste Wertschätzung, die Deisler erfährt, stärkt und befreit ihn. Mit seinen Mitbewohnern im Internat hat er seinen Spaß. Vom Verein bekommt er 1000 Mark Taschengeld im Monat. Das ist viel Geld für ihn, er kann sogar die Hälfte sparen. Es scheint, als habe Sebastian Deisler sein Leben als Fußballer gefunden. Als er mit 18 seinen ersten Profivertrag in Mönchengladbach unterschreibt, wirkt es so, als zöge er seine große Liebe vor den Traualtar. Jetzt ist er da, wo er seit seinen Kindheitstagen hinwollte, und er blickt kaum noch zurück, fragt sich nicht mehr, was aus ihm wohl geworden wäre, wenn er nicht so gut Fußball spielen könnte. Der Kontakt zu seinen früheren Freunden ist verloren, nur manchmal drohen Erinnerungen hochzukommen. Doch dann drückt Deisler sie beiseite. Mit wem soll er sich auch austauschen? Gespürt habe er schon damals, dass es nicht gut war, sich allein auf den Fußball zu verlassen. Zehn Jahre später macht er sich diesbezüglich schwere Vorwürfe. Er hätte früher über seine Sorgen und Probleme, seine Konflikte und Gefühle reden sollen, die ja so ungewöhnlich für einen Pubertierenden gar nicht waren. Später wird aus diesen Kämpfen eine tiefe innere Zerrissenheit. In Gladbach aber ist er von dieser Erkenntnis weit entfernt.

Von seinem ersten richtigen Profijahresgehalt kauft Sebastian seinen Eltern eine Eigentumswohnung in einer besseren Gegend in Lörrach – seine Anstrengung, die bröckelnde Ehe vielleicht zu kitten. Er versucht, sein Leben zu genießen, was ihm phasenweise gut gelingt. Mit den Jungs aus dem Internat zieht er regelmäßig um die Häuser, öfter und länger als erlaubt. Der gute Geist des Internats ist damals eine Dame älteren Semesters. Immer morgens um 6.30 Uhr kommt sie ins Haus, macht das Frühstück, kümmert sich um die wichtigsten Dinge im Junggesellenhaushalt und stellt den Heranwachsenden noch das Mittagessen auf den Tisch, und gegen 14 Uhr macht sie sich meist wieder aus dem Staub. Dann sind die jungen Helden weitgehend sich selbst überlassen, einmal abgesehen von den Trainingseinheiten und Erledigungen für Schule oder Ausbildung. Das größte Problem ist, dass die angesagten Diskotheken bis zu 30 Kilometer entfernt liegen. Also kapern sie ab und an – vorzugsweise donnerstags – den vereinseigenen Kleinbus, der mit seinem riesigen Borussia-Branding unschwer zu enttarnen ist. Sie haben es leicht, mit den Mädels anzubändeln, und machen Freitags gern blau.

Sebastian hat das erste Mal Sex. Den wird er allein deswegen schon nicht vergessen, weil man vom Balkon des nebenan liegenden Zimmers aus, auf einer Plastikliege stehend, freie Sicht in sein Zimmer hat. Diesen Umstand machen sich in jener Nacht mindestens eine Handvoll seiner Mitbewohner zunutze – bis die Plastikliege nachgibt und krachend in sich zusammenbricht. »Was für ein Schreck! Ich Trottel hatte vergessen, den Vorhang vorzuziehen.« Aber ja, Sebastian genießt den sich andeutenden fußballerischen Aufstieg, seine neue Männlichkeit und freut sich auf das, was da noch so kommen mag.

Sebastian Deisler

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