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2.3 Forschungskontext

2.3.1 Genese des Programms

Alle empirischen Daten, die in diese Studie eingeflossen sind, entstammen dem Intensivprogramm für Deutschlandstudien an der Juristischen Fakultät der Keio Universität Tokio und damit einem Studienangebot, das seine Legitimität und sein Selbstverständnis aus einer Grenzüberschreitung ableitet. Denn als es die verantwortlichen Programmgestalter in den frühen 1990er Jahren entwarfen, ließen sie sich vor allem von der Idee leiten, einen Lernort zu schaffen, an dem akademische Disziplinen in bislang ungewohnter Weise verknüpft werden (vgl. Sambe 1996). Um die innovative Kraft dieses Konzepts zu verstehen, ist es hilfreich, einen kurzen Blick auf die Rolle der Deutschausbildung im japanischen Universitätssystem zu werfen.

Die Möglichkeit, im Rahmen des Bildungssystems eine zweite Fremdsprache zu erlernen, eröffnet sich vielen jungen Japanerinnen und Japanern erst dann, wenn sie mit einem Hochschulstudium beginnen. Und so finden mehr als 93 Prozent des Deutschunterrichts in Japan an den Hochschulen statt (JGG-Komitee 2013:19)1, entweder in Sprachenzentren oder in speziellen Fremdsprachenprogrammen der einzelnen Fakultäten. In beiden Fällen wird Deutsch jedoch von Lehrenden unterrichtet, die sich eigentlich als Germanisten verstehen (vgl. Schart/Ohta 2018). Das hat unmittelbare Auswirkungen auf die Konzeption der Curricula bzw. die Gestaltung des Unterrichts, denn die Lehrenden legen ihren Schwerpunkt auf die Vermittlung systematischen Sprachwissens oder sie wählen für ihre Veranstaltungen im Rahmen der Deutschausbildung literatur- und kulturwissenschaftliche Themen, und das ganz unabhängig davon, welchem Fachbereich die Studierenden angehören. Der Deutschunterricht wird also im Sinne eines Studium Generale als Teil der Allgemeinbildung betrachtet, die gerade in den ersten beiden Studienjahren an japanischen Universitäten eine bedeutsame Stellung einnimmt.

Das Konzept für ein neu zu errichtendes Intensivprogramm an der Juristischen Fakultät der Keio Universität brach Anfang der 1990er Jahre mit dieser Tradition und griff stattdessen eine nahe liegende Idee auf: Man wollte den Studierenden Lernräume bieten, in denen sie sich mit Themen auseinandersetzen können, die ihnen auch in ihrem Hauptfach – Jura oder Politikwissenschaft – begegneten. Nur sollte das im Medium der Fremdsprache Deutsch geschehen und aus der Perspektive des deutschsprachigen Raumes. Man setzte also auf die Synergieeffekte, die sich aus der Verbindung von fremdsprachlichen und inhaltlichen Lernprozessen ergeben, wobei dieses Konzept in den ersten Jahren seiner Umsetzung jedoch kaum mit unterrichtsmethodischen Überlegungen unterfüttert wurde. Auch die sich zeitlich parallel vollziehenden Entwicklungen in der Fremdsprachendidaktik wie etwa aufgaben- oder inhaltsbasierte Ansätze (siehe Kap.2.4 und 2.5) blieben unberücksichtigt. Und nicht zuletzt muss erwähnt werden, dass in der Phase der Aufbauarbeit die Ressourcen fehlten, um die Lehr- und Lernprozesse systematisch zu untersuchen. Es konnte daher über mehrere Jahre hinweg nicht aufgezeigt werden, inwieweit sich das Innovative des Programms über die gefühlte und erhoffte Evidenz hinaus zugleich auch in Erfolgen niederschlägt. Das änderte sich im zweiten und dritten Jahrzehnt seines Bestehens mit einer Reihe von empirischen Studien, auf die ich weiter unten noch eingehen werde und deren Kulminationspunkt die vorliegende Arbeit bildet.

2.3.2 Programmstruktur

Am Intensivprogramm für Deutschlandstudien an der Juristischen Fakultät der Keio Universität Tokio können Studierende der Fachbereiche Jura und Politikwissenschaft über die gesamte Dauer ihres vierjährigen Bachelor-Studiums hinweg teilnehmen. Die meisten Lernenden beginnen das Programm ohne Vorkenntnisse der deutschen Sprache und sie belegen im Normalfall vier Semesterwochenstunden (à 90 Minuten). Die besonderen Merkmale dieses Studienangebots ergeben sich demnach aus seiner Intensität, der Kontinuität und der bereits erwähnten Verknüpfung von fremdsprachlichem und fachlichem Lernen.

Allerdings weist das Programm keine einheitliche Struktur auf. Die Gründe dafür liegen in den Entwicklungsprozessen, die dieses Studienangebot in den 25 Jahren seines Bestehens durchlaufen hat. Personelle Veränderungen haben in der Gestaltung ebenso ihre Spuren hinterlassen wie die Erkenntnisse aus Evaluationen oder Impulse aus der fremdsprachdidaktischen Forschung. Zum Verständnis der Ergebnisse in diesem Band ist es nicht notwendig, alle Modifikationen nachzuzeichnen, die die ursprüngliche Konzeption des Programms erfahren hat. Eine für dieses Forschungsprojekt entscheidende Tendenz des letzten Jahrzehnts muss ich jedoch hervorheben, denn sie bildet den Ansatzpunkt für die vorliegende Studie.

In den 1990er Jahren gingen die verantwortlichen Programmgestalter noch davon aus, dass die Integration von Fach und Sprache erst auf der Grundlage solider fremdsprachlicher Kompetenzen möglich und sinnvoll sei. Sie blieb daher vor allem den Kursen für die Studierenden des 3. und 4. Studienjahres vorbehalten. Als Folge einer umfassenden Evaluation des Programms und mehrerer empirischer Unterrichtsstudien (siehe dazu Kap. 2.8) wurde dieser Ansatz jedoch zumindest teilweise revidiert. Inzwischen arbeitet ein Großteil der Kurse im 2. Studienjahr themenbasiert. Für dieses Forschungsprojekt ist jedoch entscheidend, dass auch eine der beiden Grundstufenkurse seit mehreren Jahren auf eine möglichst frühzeitige Integration fachlicher Aspekte in den fremdsprachlichen Lernprozess zielt. Und die Frage, was diese Veränderung des Programms für die Lernenden und auch die Lehrenden bedeutet, bildet den Rahmen für die vier Teilprojekte dieser Studie.

Abb. 2.2 bietet einen Überblick über die derzeitige Struktur des Programms. Ins Auge fällt dabei unter anderem der unterschiedliche Charakter der beiden Grundstufenkurse GA und GB. Hinter der abweichenden Verteilung der Lernzeit auf die beiden Lehrenden verbirgt sich eine grundlegend andere Idee von Fremdsprachenunterricht. Während im Grundstufenkurs GA der Schwerpunkt des Unterrichts darauf liegt, den Studierenden systematisches Wissen über die Funktionsprinzipien und Strukturen der deutschen Sprache zu vermitteln, arbeitet der Grundstufenkurs GB konsequent fach- und sprachintegriert (siehe dazu Kap. 2.4 – 2.6). An den beiden Kursen lässt sich studieren, wie sich bestimmte Vorstellungen über die Natur von Sprache und fremdsprachlichen Lernprozessen in der Praxis des Fremdsprachenunterrichts niederschlagen (vgl. Kap. 2.2.7): Während der Kurs GA eher ein Beispiel für eine kognitive Herangehensweise darstellt, werden im Kurs B die soziokulturellen Aspekte des Unterrichts betont.

Diese Gegensätze erzeugen zwangsläufig ein Spannungsfeld, das sich bislang für die Weiterentwicklung des Intensivprogramms als äußerst produktiv erwiesen hat. Es regt dazu an, Routinen und vermeintliche Gewissheiten über angemessene Wege des Lehrens und Lernens beständig zu hinterfragen, es belebt die didaktischen Diskussionen innerhalb des Programms und nicht zuletzt kristallisieren sich immer wieder neue Fragestellungen heraus, an denen empirische Forschungsprojekte ihren Ausgang nehmen. Diese Studie ist dafür nur eines von vielen Beispielen aus den vergangenen 15 Jahren.

Abb. 2.2 verdeutlicht, wie vielfältig die Fragen sind, die sich aus der Struktur des Intensivprogramms ergeben: Welche Lernwege nehmen beispielsweise Studierende, die über die verschiedenen Zugangswege in das Programm gelangten? Was motiviert Teilnehmende, das Programm über vier Jahre hinweg zu durchlaufen und welche Gründe führen zu vorzeitigen Abbrüchen? Was zeichnet die Lehr- und Lernprozesse in einzelnen Kursen aus und welche niveaustufenübergreifenden Merkmale prägen das Programm? Diese Aufzählung ließe sich noch durch zahlreiche weitere Fragen ergänzen und es liegt auf der Hand, dass wir für diese Studie eine Auswahl treffen mussten. Wir werden unseren Fokus daher auf das Geschehen im Grundstufenkurs GB richten und dessen Einbindung in das Gesamtprogramm nur dann thematisieren, wenn es zu einem besseren Verständnis der Datenanalyse sowie der Interpretation der Ergebnisse beiträgt.

Abb. 2.2:

Struktur des Intensivprogramms für Deutschlandstudien an der Juristischen Fakultät der Keio Universität Tokio (L1=Japanisch, L2=Deutsch)

2.3.3 Curriculum

Diese Studie untersucht einen Grundstufenkurs, in dem der Schwerpunkt auf der Integration von fremdsprachlichem und fachlichem Lernen liegt, in dem die Studierenden sich mit herausfordernden Aufgaben auseinandersetzen und zu kollaborativem Lernen ermutigt werden sollen. Bevor ich ausführlicher auf dieses Konzept eingehen kann, möchte ich zunächst darstellen, wie es sich zu den Bildungszielen jener Institution verhält, in die das Intensivprogramm für Deutschlandstudien eingebettet ist.

Die Juristische Fakultät der Keio Universität fasst ihren Bildungsauftrag in wenigen Sätzen zusammen1. Es handelt sich um Formulierungen, die zunächst einmal wenig überraschend wirken, weil sie einem allgemeinen Anspruch an universitäre Bildung in demokratisch gefassten Gesellschaften entsprechen: So sollen die Studierenden im unabhängigen, kreativen und kritisch Denken geschult werden. Die Veranstaltungen in der Juristischen Fakultät sollen ihnen dabei helfen, Selbstwertgefühl, Verantwortungsgefühl, Kooperationsbereitschaft und Führungsqualitäten zu entwickeln. Vor allem sieht die Fakultät ein wichtiges Ziel darin, die Fähigkeit herauszubilden, gesellschaftliche Prozesse aus fachlicher Perspektive analysieren und bewerten zu können. Und nicht zuletzt geht es ihr darum, jungen Menschen internationale Perspektiven zu öffnen, weshalb die fremdsprachlichen Anteile im Studienprogramm auch einen maßgeblichen Raum einnehmen.

Auf welche Weise diese Bildungsziele in der Gestaltung von Lehrveranstaltungen einfließen, bleibt allerdings offen und damit der Interpretation der Lehrenden überlassen. Das Intensivprogramm für Deutschlandstudien ging daher einen Schritt weiter und fächerte die curricularen Zielsetzungen der Fakultät in einzelne Kompetenzbereiche auf. Diese sollen in den Kursen auf allen Niveaustufen berücksichtig werden (siehe Sambe 1996; Schart 2010). Die folgende Aufzählung fasst diese Überlegungen zusammen.

 Fremdsprachliche Kompetenzen in allen vier Fertigkeiten (z.B. kontext­angemessene, kommunikative Kompetenz in Wort und Schrift)

 Fachkompetenz/ politische Bildung (z.B. fachspezifisches Beschreiben, Erklären und Analysieren von Ereignissen, Prozessen und Strukturen)

 Studienkompetenz (z.B. Informationen finden, bewerten, verarbeiten und darstellen; kritisches Denken und Problemlösefähigkeiten)

 Methodenkompetenz (z.B. Lern- und Arbeitstechniken; Präsentationstechniken)

 Interkulturelle Kompetenz (z.B. Mediationskompetenz und Diskurskompetenz im Austausch zwischen Japan und Deutschland)

 Selbstkompetenz (z.B. Kreativität, Initiative, Ausdauer, Selbstwertgefühl)

 Sozialkompetenz (z.B. Teamfähigkeit, Konflikt- und Kritikfähigkeit)

Auch aus dieser etwas detaillierteren Auflistung von sprachlichen, fachlichen und generischen Kompetenzen lässt sich noch nicht unmittelbar auf einzelne methodische Arrangements schließen. Der damit umrissene curriculare Rahmen ist beispielsweise weit genug, um dem oben beschriebenen Spannungsverhältnis zwischen einem kognitiven und einem soziokulturell orientierten Zugang zu Sprache und Fremdsprachenlernen Raum zu geben. Zugleich schließt er jedoch eine Reihe von in Japan weit verbreiteten Unterrichtskonzeptionen für den Deutschunterricht aus, etwa eine Konzentration auf alltagssprachliche oder touristische Themen oder eine Beschränkung auf das kontextlose Erlernen von fremdsprachlichen Strukturen.

Offen legt dieser curriculare Rahmen aber zugleich, wie hoch die Anschlussfähigkeit einerseits zu Konzeptionen fach- und sprachintegrierten Fremdsprachenlernens ist (vgl. Bonnet/Breidbach 2013; Coyle et al. 2010:27), andererseits zu aufgabenbasierten Arrangements (Ellis 2018; Long 2015, 2016). Diese Verbindungslinien nachzeichnend möchte ich in den folgenden Abschnitten schrittweise das Konzept des hier untersuchten Grundstufenkurses herausarbeiten.

Fach- und sprachintegrierter Unterricht an der Universität

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