Читать книгу Schuld oder Schicksal? - Michael Scheele - Страница 10

Оглавление

DIE EVOLUTION HAT VIELES PERFEKTIONIERT, ABER NICHT ALLES

Unser Gehirn ist aufgrund einer evolutionären Kraft gewachsen. Es ermöglicht ein Bewusstsein, verbirgt aber auch ein Unterbewusstsein, das nur schwer zugänglich ist. Handlungen, die das Unterbewusstsein dirgieren, reduzieren die Möglichkeit frei und autonom zu entscheiden.

Der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic formulierte es in seinem Roman »Der Jonas Komplex« provozierend aber griffig wie folgt:

»Wir sind naiv, wenn wir denken, wir träfen freie Entscheidungen. Das Unbewusste trifft die Entscheidung, eine Sekunde, bevor wir glauben, uns soeben bewusst und frei entschieden zu haben […]. Wir sind unser Unbewusstes, nicht unser Bewusstes. Was wir zu sein glauben, ist nicht viel mehr als ein Bagger und dessen Greifarm, bedient von einer überlegenen Kraft.«

Die neuronalen Schaltkreise in unserem Gehirn wurden in Prozessen der natürlichen Auslese angelegt und im Verlauf von Millionen Jahren verändert. Man darf ruhig sagen: verbessert. Die Veränderung, die Modifizierung dieser neuronalen Schaltkreise folgte einer unsichtbaren Anweisung: Probleme lösen, um zu überleben und um die Fortpflanzung zu sichern. Das Gehirn wuchs in mehreren Millionen Jahren von früher 500 Gramm auf heute rund 1,5 Kilogramm. Der jüngste Fund eines »Frühmenschen« (Homo naledi) in Südafrika zeugt von einem Gehirn, das nicht größer war als eine Orange und von einer kognitiven Leistungsfähigkeit, vergleichbar mit der heutiger Schimpansen. Mit zunehmender Größe veränderte sich zugleich der neuronale Schaltkreis. Das Gehirn erfuhr im Laufe der Evolution genauso Veränderungen wie andere Organe, Augen und Gliedmaße.

Nicht nur das. Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt hat das Gehirn auch eine neue Bedeutung hinsichtlich der Definition »Tod« erfahren. Nicht der letzte Herzschlag ist, wie bis in die 1960er-Jahre geglaubt, der Zeitpunkt, zu dem das menschliche Leben endet. Der Hirntod wurde mit der Erfindung der Herz-Lungen-Maschine als Ende der Lebenszeit ausgerufen. Und selbst diese Weisheit ist wieder in Frage gestellt worden. In einigen Operationssälen werden mittlerweile Patienten während bestimmter Operationen (am Herzen oder am Hirn) auf 18 Grad Celsius Körpertemperatur heruntergekühlt. Die Patienten bleiben dann während der Operation ohne Herzschlag und ohne Hirnwellen. Während die Körpertemperatur nach der Operation langsam zurückgeführt wird, kommen auch die Funktionen von Herz und Hirn zurück (Zeit Online: Bastian Berbner (07.04.2016) http://bit.ly/zeit-Tod). Ein weiterer Beleg für die physiko-chemische Natur von Gedanken.

Es wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben, welche Energie für die Fähigkeit der Veränderung des Gehirns im Verlauf der Evolution bestimmend war, für die stetige Weiterentwicklung, für die Flexibilität des Gehirns, aufgrund derer der Mensch fast alles erlernen kann. Und es ist diese flexible Lernfähigkeit des Gehirns, die einen guten Teil dessen ausmacht, was wir als menschliche Intelligenz bezeichnen. Bekannt – jedenfalls in der Wissenschaft unstrittig – sind zunächst folgende Fakten: Funktionen wie vorausschauendes Denken, Planung, Problemlösung, Kreativität, Einsatz von Strategien sind Eigenschaften beziehungsweise Fähigkeiten, die dem Homo sapiens zugeordnet sind.

Entscheidungen und Bewusstsein sind an das Frontalhirn gebunden. All diese Prozesse haben dort ihre neuroanatomische Basis. Aber es ist nicht nur das, was die Gattung Mensch ausmacht. Ferner haben die spezifischen Persönlichkeitszüge, die einen individuellen Menschen für sich und seine Umwelt einzigartig machen, ihre neurobiologische Grundlage (unter anderem) im Frontalhirn. Die Arbeitsweise des frontalen Kortex ist wie die keines anderen Hirnareals durch eine massive Vernetzung mit anderen Hirnstrukturen gekennzeichnet. Was aber hat diese Entwicklung zur »Menschwerdung« ermöglicht?

Als ich im Alter von 16 Jahren den ersten Freitodversuch meiner Zwillingsschwester erlebte, löste dieses in mir erhebliche Glaubenszweifel aus. Ich begann, die Welt mit anderen Augen zu betrachten, auch jene kirchlichen Regeln, die dem Selbstmörder ewige Hölle verhießen. Als gläubiger Katholik und eifriger Ministrant vertraute ich mich dem Priester, Vikar Brechmann, in meiner Heimatgemeinde an. Er gehörte zu jenen kirchlichen Respektspersonen, die jeder noch so absurd und dümmlich erscheinenden Frage offen und aufgeschlossen begegnete. Seine Worte stimulierten meine Neugier so immens, dass mir die Suche nach alternativen Antworten auf existenzielle Fragen keine Ruhe mehr ließ. Der Vikar hatte zunächst den Namen Pierre Teilhard de Chardin erwähnt, ein 1955 im Alter von 74 Jahren verstorbener Jesuitenpater. Dieser verortete das »Göttliche« in eben dieser evolutionären Kraft. Für die katholische Kirche stellten seine Ansichten seinerzeit jedoch eine Bedrohung der traditionellen Theologie dar. Sein Buch »Der göttliche Bereich« war meine erste Lektüre zu diesem Thema. Die meisten seiner Schriften wurden vom Vatikan abgelehnt und durften zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht werden. Das hat sich inzwischen geändert. Längst hat die Evolutionstheorie Eingang in die kirchliche Lehre gefunden.

Nach der Lektüre von Teilhard de Chardin dauerte es nicht lange, bis mir »Die Entstehung der Arten« von Charles Darwin die Augen weiter öffnete. Das Wissen über eine evolutionäre Kraft, die unser Gehirn im Laufe der Geschichte quantitativ und qualitativ weiterentwickelt hat und uns zum Denken befähigt, hält aber noch keine Erklärung dafür bereit, warum der Mensch trotz des im Wesentlichen gleichen »Apparats« (dem Gehirn) zu völlig unterschiedlichen Gedanken und Handlungen fähig ist.

DAS UNTERBEWUSSTSEIN STEUERT UNS WIE EIN AUTOPILOT

Das Gehirn ist eben doch kein Apparat! Der Motor eines Volkswagens folgt bei seiner Bedienung den immer gleichen Abläufen, egal ob in China oder anderswo. Aber die Flexibilität unseres Gedankenapparats ermöglicht, so ähnlich die Schaltkreise von Neuronen, Synapsen und Gliazellen auch angelegt sind, gänzlich andere, ja sogar entgegengesetzte Abläufe. Warum ziehen junge Leute beispielsweise aus ihrem wohlbehüteten Elternhaus zu ISIS in den »Heiligen Krieg«, während die Geschwister in der Heimat ganz andere Karriereziele verfolgen?

Das Gehirn ist eine Art Speicher, der Eindrücke wahrnimmt und Informationen sammelt. Das gilt beispielsweise auch für an jeder Stelle des Köpers verursachte Schmerzen, Anspannungen, Berührungen. Über feine Nervenstränge im Rückenmark finden solche Impulse einen Weg ins Gehirn, wo sie registriert und »verarbeitet« werden – und wiederum Reaktionen auslösen. Das ist ein Automatismus, an dem so etwas wie ein Bewusstsein gar nicht beteiligt ist. Als ich im Alter von neun Jahren in einer Panikattacke ein Zelt zerstörte, war es das Resultat ebensolcher Impulse. Mein seit der Geburt im Schlaf halb geöffnetes Auge registrierte die völlige Dunkelheit. In »Erinnerung« an meine schicksalhafte Operation schickte das – übrigens stets wache – Unterbewusstsein Signale, die eine instinktive Gefahrenabwehr auslösten. Ausschlaggebend für die im Zelt angerichtete Zerstörung war also nicht nur das Gehirn, sondern auch andere – mit ihm über das Rückenmark verbundene Teile des Körpers.

Die von der Dunkelheit ausgehende (und jedenfalls von mir so erlebte) Gefahr war so tief im Unterbewusstsein verankert, dass diese Panikreaktion ungesteuert ablief. Dieses Beispiel legt zunächst nahe, dass Erlebnisse im Gehirn abgespeichert werden und als Erinnerung das ausmachen, was wir Gedächtnis nennen. Auch solche Erlebnisse sind wichtig, die wir nicht mit dem Vorsatz abspeichern, sie irgendwann abrufen zu wollen. Das Gedächtnis, unser aller Gedächtnis, ist voller abgespeicherter Erlebnisse und Eindrücke, die unser Unterbewusstsein wie ein Autopilot steuern und die das, was wir als Entscheidung bezeichnen, zumindest beeinflussen.

Da ist noch etwas anderes, was unsere Entscheidung beeinflusst. Es geht um sogenannte subliminale Botschaften, welche die Konsumgüterindustrie bewusst einsetzt, um Kaufentscheidungen zu manipulieren. Es handelt sich dabei um visuelle Botschaften, die lediglich für vier Millisekunden eingeblendet uns unterschwellig (subliminal) erreichen, also unbewusst wahrgenommen und abgespeichert werden. Bekannt ist folgender Test: Mehrere Probanden erhielten die Aufgabe, am Computer eine Aufgabe zu lösen. Sie wussten allerdings nicht, dass bei der Hälfte der untersuchten Personen die Eisteemarke »Lipton Ice« als Wort-Bild-Marke unterschwellig für Millisekunden eingeblendet wurde, während sie die Aufgabe lösten. Jene Probanden, bei denen die subliminale Botschaft von »Lipton Ice« nicht eingeblendet wurde, erhielten eine andere unterschwellige Botschaft für ein paar Millisekunden, nämlich eine zufällige, durcheinandergewürfelte Reihenfolge derselben Buchstaben, also beispielsweise »n p t l i o c e i«. Nach der Bearbeitung der Computeraufgaben sollten die Probanden zwischen »Lipton Ice« und der Wassermarke »Spa Rood« wählen. 80 Prozent der Probanden, die zuvor die Eisteemarke »Lipton Ice« unterschwellig wahrgenommen hatten, entschieden sich für den Eistee, lediglich 20 Prozent für das angebotene Wasser. Bei der Gruppe von Probanden, die nicht unterschwellig »gefüttert« worden waren, fand der Eistee kein Interesse.

Solche Experimente wurden auch bei anderen Forschungsinstituten durchgeführt. Allerdings hatten subliminale Botschaften nur dann den beschriebenen Effekt, wenn sie auf ein Bedürfnis stießen, also in unserem Fall auf durstige Probanden.

DIE PSYCHE KANN KRANK MACHEN, ABER AUCH HEILEN

Die Erkenntnis von der Kraft des Unbewussten geht auf Sigmund Freud zurück, lange bevor die Hirnforschung mit bildgebenden Verfahren die Hirnfunktionen im doppelten Sinne des Wortes beleuchten konnte. Im Bewusstsein – besser wohl in der bewusst abrufbaren Erinnerung – seiner Patienten gab es nichts, was ein bestimmtes Verhalten hätte motiviert haben können. Freud ging davon aus, dass es im Gehirn verborgene Mechanismen gebe, zu denen das Bewusstsein keinen Zugang hat. Deshalb müssen, so seine Überzeugung, verschüttete, tief im Unterbewusstsein vergrabene Erlebnisse ins Bewusstsein geholt werden, um sich geistig und emotional mit ihnen auseinandersetzen zu können und ihnen die Macht zu nehmen, Neurosen zu verursachen: Mir ist das gelungen. Als ich es schaffte, die Tortur in Erinnerung zu rufen, die ich als Sechsjähriger bei meiner Fesselung und Betäubung auf dem Stuhl des Augenarztes erlebt hatte, war es möglich, in kleinen Schritten die Intervalle zwischen Erwachen in Dunkelheit und Panikattacke zu vergrößern.

Auch ohne die Instrumente der Hirnforschung erkannte Freud bereits vor rund 100 Jahren die Fragwürdigkeit der menschlichen Willensfreiheit. Er gab zu bedenken, dass, wenn unsere Entscheidungen aus geistigen Prozessen resultieren, zu denen das Bewusstsein keinen Zugang hat, der freie Wille möglicherweise eine Illusion ist, mindestens deutlich stärker eingeschränkt, als zu Freuds Zeit geglaubt wurde. Er sollte recht behalten und hätte wohl seine helle Freude an den Ergebnissen gehabt, welche die Hirnforschung nahezu 100 Jahre später präsentiert hat. Einige dieser Wissenschaftler glauben, Beweise dafür gefunden zu haben, dass der Mensch vom Unterbewusstsein quasi fremdgesteuert wird. Das werde ich im Kapitel über Hirnforschung näher erläutern.

Die Bedeutung und Kraft eines (unbewusst) agierenden Gehirns lässt sich auch an einem anderen Fall festmachen, der bei manchen Schuldmedizinern Verblüffung auslösen dürfte. Im Alter von 16 Jahren fand bei meiner jüngsten Tochter eine Art Wesensveränderung statt. Angelina verbrachte nahezu den ganzen Tag in ihrem Zimmer, depressiv, desinteressiert, lustlos, orientierungslos. Gewöhnliches Essen vertrug sie nicht mehr. Ein immunologischer Labortest zeugte von 263 Nahrungsmitteln, auf die sie allergisch reagierte. Weder Globuline noch Schulmediziner konnten helfen, selbst in Reformhäusern gab es kaum Lebensmittel, die sie vertrug. Das änderte sich gravierend nach zwei Sitzungen bei einer Heilpraktikerin, die Angelina in eine Art Trance versetzt hatte. Danach war sie wie ausgewechselt, fröhlich, interessiert, ausgelassen. Der erneute Labortest zeigte, dass nur noch eine Intoleranz übrig geblieben war, gegen Haselnuss. Emotionaler Stress war der – nicht bewusst erlebte – Auslöser für die Allergien gewesen. Die während der Trance von der Heilpraktikerin angewandte Therapie hatte die Wirkung – um es salopp auszudrücken – einer »Festplattenreinigung«. Es handelte sich um eine Hypnosetherapie.

Ein anderes Beispiel. Ein junger Freund unserer Familie, Marko, der vor Jahren seine Mutter verloren hatte, erkrankte während eines Studienaufenthalts in Australien so schwer, dass er schließlich auf der Intensivstation behandelt werden musste. Weder dort noch später in Deutschland konnten die hochspezialisierten Ärzte die Gründe für diverse Organversagen diagnostizieren. Operationen waren lediglich lebenserhaltend. Nach jahrelanger Qual trat überraschend ein Heilungsprozess ein. Heute ist er aufgrund einer Traumabewältigung vollständig genesen. Der Tod seiner Mutter hatte bei ihm unbewusst eine Todessehnsucht ausgelöst, die so stark war, dass ohne äußeren Anlass eine Reihe von Organen begann, nachzulassen und schließlich zu versagen. Mithilfe von Meditation und in tiefenpsychologischen Beratungsgesprächen gelang es ihm, diese bis dahin unbewusste Todessehnsucht zu entdecken und zu analysieren. Er reiste zum Grab seiner Mutter, um noch einmal Abschied zu nehmen. Anschließend begann der Erholungsprozess, dauerhaft und ohne jegliche Einnahme von Medikamenten. Es war ein vom Gehirn gesteuerter Selbstheilungsprozess.

Wie selbständig das Gehirn agieren kann, belegen auch zahlreiche Placebo-Tests. Patienten, denen Scheinpräparate verabreicht wurden, die jedoch vom behandelnden Arzt als wirksame Medikamente angepriesen wurden, haben bei vielen einen Heilungsprozess in Gang gesetzt. Der unter Medizinern umstrittene Placebo-Effekt wurde am Karolinska-Institut in Stockholm vom Team des Hirnforschers Martin Ingvar bewiesen. Im Gehirn-Tomograph (PET) konnte festgestellt werden, dass nach der Gabe eines Placebo-Präparats die gleiche Region im Gehirn (Gyrus cinguli) aktiv wurde, wie bei jenen Patienten, die zur Schmerzunterdrückung mit einem starken Opioid behandelt worden waren.

Fazit: Das Gehirn kann eigenständig agieren, ohne eine bewusste Kontrolle. Ferner ist das Unterbewusstsein an der Entwicklung von Gefühlen beteiligt und damit auch an Verhaltensweisen, die maßgeblich von Gefühlen diktiert werden. So mancher »Schuldspruch« sowohl in Gerichtssälen als auch im privaten Bereich verkennt die Macht und den Einfluss des Unterbewusstseins, die dazu führen können, gesellschaftliche Anstandsregeln oder strafrechtliche Normen zu ignorieren. Die Wurzeln der Gefühle, die das menschliche Verhalten beeinflussen, entstehen in Millisekunden, beim ersten Eindruck, bei der ersten Begegnung mit einer Person, ohne dass wir uns dieses bewusst machen können.

Schuld oder Schicksal?

Подняться наверх